lieber Zerd

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M

mar

Guest
begonnen hatte alles mit einem Gedicht, dann sollte man auch hier so beginnen:

GEWÄHRUNG AUF ZARTHEIT
DER SCHÜCHTERNEN GEGENSÄTZE.
SEKUNDENMOMENTE
DIE TRAGEN UND HALTEN
DIE VERSCHNÜRUNGEN LÖSEN
UM SICH ZU VERSTRICKEN

lieber zerd , mag sein daß der Sommer Dich jetzt in den Armen hält, und die Zeit auf einer grünen Wiese wie im Flug vergeht- doch es bleibt ein Moment am Tag reserviert für den Gedanken, die Gedanken...
Seit Tagen bewegt sich in unserem Geist etwas, was so rasant sich in dieses Sein hineingräbt. Ich sehe Menschen- tagtäglich; ich spreche mit ihnen oder vielleicht genügt nur ein Blick, ein Augenaufschlag... Es ist ein anderes Schauen, als das , was wir erschauen. So viel Zeit geben wir dem geschriebenen Wort .
Die Zeit ! So viel Zeit zu verschwenden ( würde sicher mancher sagen ) , hier etwas aufzuschreiben...Aber ich habe eine erstaunliche Beobachtung gemacht, schon früher- aber nun will sie sich noch einmal betätigt wissen ( Herr Einstein würde schmunzeln ):
Ich entdecke, das je mehr Zeit ich mit dem Aufnehmen und dem Austausch von Wissen verbringe- daß ich um so mehr Zeit gewinne !
Ist es relativ, wie man sein Wissenspotential einschätzt, ist die Relation für sich gesehen die Steuerungserergie. Wenn man beeinflussen kann was für mich persönlich realtiv ist ,kann ich doch auch beeinflussen, wie relativ die Zeit ist... Es ist doch nicht absurd , wenn man bedenkt, das man Zeit gewinnt, indem man Zeit investiert ins Lernen, Wissen, Austausch, Kreativität, Arbeit, Beschäftigung etc.
Ich schaue auf die ältere Generation , auf die Langlebigen , heute 90-ig-jährigen und stelle fest, daß es oft Menschen sind, die in ihren Berufen oder in ihren Familien immer ihr geistiges Potential eingebracht haben ( unabhängig von Satnd und Beruf) , die ständig gefordert waren (und es noch sind) , sich ins Leben einzubringen. Bis ins hohe Alter. Es wird so sein , das ständige Bewegen des Geistes natürlich auch ihre Lebenszeit beeinflusst hat. In der Weisheit ,die das Alter mit sich bringt, wird Wissen nicht mehr flächig sein, sondern an Tiefe gewonnen haben. Es wird dimensional sein, also größer...Wenn ich also denke, das Wissen Zeit bedeutet, dann heisst das , daß die Zeit die mich hier verweilen lässt, meine Lebensspanne ausdehnt...
Könnte es so sein- oder ist das ein Trugschluß ? l-G. mar
 

Zerd

Well-Known Member
AW: lieber Zerd

liebe mar, es ist deine welt und so bleibt es dir belassen, sie auf jede erdenkliche art zu umarmen, die dir beliebt. denn das scheint mir der kern deiner frage zu sein. wenn du es vorziehst, der welt deinen ureigenen blick durch deine augen aufzupraegen, dann wirst du keine zeit erkennen koennen, die sich gegeneinander aufrechnen oder vergleichen liesse. willst du die welt jedoch als eine technisch-deterministische welt begreifen, als eine welt ohne freiheit und imagination, dann erst wirst du das hilfskonstrukt der zeit benoetigen, um das endlose weben und fliessen dieser welt als handliche standbilder entlang einer kuenstlichen zeitachse dir vorstellen und erklaeren zu koennen.

ob ein leben 9 jahre dauert, 90 oder gar 900, ist reine zahlenspielerei. denn tatsaechlich hat der mensch nur den einen augenblick, durch den das leben in ihn stroemt und er die welt erfaehrt. mit ihm vergeht sein ganzes universum.

dass die anwendung des zeitbegriffs auf das freie universum des menschen keinen rechten sinn ergeben mag, laesst sich leicht anhand einfacher gedankenspiele zeigen: gesetzt, die verlaengerung des lebens wuerde irgendeinen wert darstellen, muesste ich dann nicht alle hebel in bewegung setzen, damit es moeglichst langsam vergeht. empfinde ich dieses langsame vergehen aber nicht am ehesten in einem zustand der langeweile, wenn du so willst: in der groesstmoeglichen abwesenheit vom dem, was wir als lebendigkeit oder mitten im leben sein bezeichnen koennten. wir muessten uns also moeglichst dem leben entziehen, um das leben zu verlaengern. das scheint mir ein vortrefflicher widerspruch zu sein und somit auf klassische weise unsere urspruengliche annahme zu widerlegen.

im gegensatz dazu ist jeder mensch doch eher bestrebt, moeglichst viele solcher momente zu erleben, in denen die zeit scheinbar besonders schnell vergeht, kurzweilige momente. dadurch verkuerzt er aber ja rein subjektiv seine lebenszeit.

nein, ich fuerchte, wir duerfen uns bei der bewertung unseres handelns und tuns nicht auf die hilfsmittel einer gedankenwelt ohne freiheit berufen. man bedenke, dass die wissenschaft bei erforschung des gedankens sich immer noch an einem punkt befindet, in der jeder gedanke als gewisse anordnung von nervenzellen betrachtet wird, die "blitze" untereinander austauschen. ich wuerde meinen, uebertragen auf den technischen fortschritt bedeutete das, dass wir auf diesem gebiet noch nicht einmal das rad erfunden haben. und sehr viel weiter wird die wissenschaft unter ihren derzeitigen praemissen auch nicht kommen koennen.

ich kann nicht fuer dein universum sprechen aber ich habe immer schon nach menschen gesucht, dem sokrates gleich, der, als er bei tageslicht mit einer laterne herumlaufend angesprochen wurde, eben dies geantwortet haben soll. die zeit, die ich mit dir hier verbringe, bedeutet somit fuer mich, mich auf die affirmation meiner geahnten wahrheit einzulassen und fuer artaud scheint das ja immerhin der daseinsgrund seines lebens gewesen zu sein.
 
A

Anouk

Guest
AW: lieber Zerd

Zitat von zerd:
im gegensatz dazu ist jeder mensch doch eher bestrebt, moeglichst viele solcher momente zu erleben, in denen die zeit scheinbar besonders schnell vergeht, kurzweilige momente. dadurch verkuerzt er aber ja rein subjektiv seine lebenszeit.

Nicht ganz... Nur Kindern dehnt sich die Zeit noch ins Unerträgliche. Dem Erwachsenen dagegen verstreicht sie subjektiv doch recht schnell. Umso schneller, je weniger er imstande ist, mit immergleichen Ritualen zu brechen. Erst das gelegentliche Innehalten und behutsame Verändern des Alltags mit all seinen kleinen, automatisierten Gewohnheiten ändert das Zeitempfinden und verlängert die Spanne - subjektiv. Auch so kann man alle Hebel in Bewegung setzen, um 90 oder gar 900 Jahre alt und darüber womöglich sogar weise zu werden... Was ich persönlich jenseits aller sich höchstwahrscheinlich daraus ergebenden Altersvorsorgeproblemchen als erstrebenswertes Ziel sehe. (Heute, trotz Hexenschuss, was vielleicht erklärt, weswegen keine weiteren Höhenflüge mehr zu erwarten sind.)

anouk
 
M

mar

Guest
AW: lieber Zerd

Lieber zerd, es ist unausbleiblich , daß die sprachlichen [schriftlichen] Versuche, die dichterische oder philosophische Wertzuweisung des Wesens der Erfahrung oder des Ausdrucks von Wahrheit , Zeit und Sein , nebst alle der allegorischen Umschreibungen für die Suche nach Erkenntnis des Daseins sich hinbewegt zu der ganz empirischen Definition von erlebter Wahrheit und der Anschauung dessen , was Wahrheit sei. „ Prüfe alle Einsichten an der Erfahrung“ sagte Sokrates )Im Erkennen von Wahrheit oder auch das ich mich ihrer bedienen kann, ohne daß das Konstrukt der Wahrheit meines Mitstreiters oder Gegenübers in Frage gestellt werden muß , liegt doch mir die Zeit zugrunde ( Momente, Sekunden, Tage, Jahre...) die ich als einen Reife-oder Reifungsprozeß sehen muß. Im übrigen sehe ich ja die Zeit nicht als Hilfskonstrukt , Zeit ist ... ist da , nicht konstruiert sondern ist da ... Ziehen wir Wahrheit aus der Lebenserfahrung, immanentes Wissen folgend , welche sich durch Erlebtes verdichtet und den Blick auf die Welt verändern wird , bleibt es nicht aus, das diese Erkenntnis der Immanenz gewisse Konstrukte der veranschaulichten Wahrheit zum Wanken brächte. Aufgreifend meine hypothetisch erwähnte Beobachtung auf die [Alters -] Zeit : die Immanenz , die eigentlich Erfahrungswerte verdichtet , bewirkt eine sichtbare Verwandlung der Wahrheit , deren Ausdruck ich meine in der Transzendenz weiser Menschen zu erkennen. Sicher kann ich reflektieren , daß dort ein Mensch steht, der etwas ausstrahlt, was ich nie logisch , geschweige denn mit Worten umschreiben könnte ; weil es SEIN immanentes Fundament ist, auf dem dieser Mensch steht. Die Verlängerung seines (gefühlten ) Lebens würde ich nicht nur an der Lebenszeit festmachen , sondern auch an der Tiefgründigkeit seiner Erfahrung , die das Verständnis unserer Zeiterfahrung sprengt. Um diese seine Wahrheit für mich begreifbar zu machen , muß ich die konstruierte Möglichkeit der Umschreibung von etwas Unbeschreiblichen finden. Das kann , so denke ich, nicht immer gelingen . Hier kann ich ein sehr interessantes Denkmodell in den Raum stellen , möglicherweise eine kleine Grenzverletzung in unserem Gespräch, derer ich mich hier bediene und um Verzeihung bitte: die Geburt eines Kindes ist ein Erlebnis, welches nur einem Teil der Menschheit zugedacht ist... Abgesehen von der biologischen Notwendigkeit der Lebewesen sich zur Erhaltung der Art zu vermehren, ist da immer noch eine andere Erklärung unerklärlich geblieben. WAS macht das Besondere einer Schwangerschaft und einer Geburt aus? Ein Mensch ist zwei Menschen für einen bestimmten Zeit - Raum . Nicht nur, das in diesem Zeitraum das Bewußtsein der Frau biologisch und gesellschaftlich auf die Fortführung und den Sinn des Lebens ausgerichtet wird, ich denke, hier verändern sich Dimensionen. Erstere: das Kind eine Weiterführung von Leben an sich für die Frau bedeutet , sondern auch Zweitere : das mit der Erfahrung der Geburt des Kindes eine immanente Wahrheit in der Mutter präsent wird , ein Wissen um etwas vielleicht Unerklärbares aber trotzdem Wahrhaftigem , der Erweiterung des Lebens ( in mehrdeutiger Hinsicht) . An dieser Dimension lassen sich schwerlich theoretische Erfahrungen mit der Wahrheit festmachen . Das Heraustreten der Frau aus der bisher erfahrenen Wahrheit hinein in eine dimensionale Wahrheit – in eine , ich stelle es so in den Raum, spirituelle Wahrheit, ist die Wahrheit DES Moments , der EIN LEBEN . In dem Moment, in dem man Leben schenkt weiß man um eine definierte Zeitspanne , die dieses Leben dauern könnte ( 70,80 90 Jahre) Gleichzeitig wissen wir aber auch um die Unberechenbarkeit der Umstände, die das Leben verlängern oder verkürzen könnte. Und wir wissen auch , - soll dieses neue Leben frei gedeihen können - müssen wir dem Kind auch Erfahrungen ermöglichen , die uns möglicherweise in der Umsetzung derer fremd sind .
Würde ich aber hier nur mit den Konstrukten an der Wahrheitsfindung arbeiten ( konstrukt= im Bewusstsein des Kommenden) , würde mir sicher so etwas wie ein unsichtbares Gerüst wegbrechen, welches mir eigentlich die Chance sein sollte, um zu der Erkenntnis zu kommen , das sowohl Theorie und Praxis , also Erfahrung und Anschauung einander immer ergänzen ( ein Ganzes sind). Vieles kann der Mensch durch den Akt der Selbstwahrnehmung erkennen; der Wert des Lebens, oder die Wertigkeit seiner zählbaren Zeit, erkennen auch, das die vermeintliche Langeweile, das vermeintliche langsame Vergehen von Zeit relativ ist ( was Du in Deinem Gedankenspiel als Abwesenheit vom Lebendigen bezeichnest, ) , also etwas ist, was uns nicht dem Leben entzieht sondern durch eine kurzzeitige Abwesenheit vom begrifflich Lebendigen einen Blick vergönnt aus einer Ruhephase heraus während unseres Seins , um dann vertieft und mit erweitertem Horizont das Leben fortzusetzen ; das könnte hier vielleicht der Gedanke an eine Einsiedelei, Kloster o.ä. umschreiben, aber ebenso das Abwesendsein von Gewohntem ( Zuhause, Heimat etc.)


liebe grüße mar
 

Zerd

Well-Known Member
AW: lieber Zerd

liebe anouk, ich versuche, die dinge aus der perspektive des gelebten augenblicks aus zu betrachten. und da scheint es mir durchaus so, dass ein spannender moment subjektiv schneller vergeht als ein langweiliger, ganz unabhaengig davon, ob dieser moment nun innerhalb einer alltaeglichen handlung vorkommt oder einer gaenzlich aussergewoehnlichen (auch wenn ich nur einmal in fuenf jahren in einer kilometerlangen schlange stehe, kann das furchtbar langweililg und langwierig sein und auch bei der taeglichen arbeit kann es durchaus eine sehr interessante aufgabe geben, die die zeit im flug vergehn laesst). aber natuerlich ist es auch so, dass wenn man auf eine phase zurueckblickt, die hauptsaechlich von staendig sich wiederholender routine gepraegt war, diese phase einem leer und nur aufgrund dieser ereignislosigkeit schnell vergangen vorkommen muss, obwohl dem meiner ansicht nach im gelebten augenblick gar nicht so gewesen ist.

liebe mar, ich will dir gar nicht widersprechen, sondern kann nur versuchen, auf die unterschiede unserer ansaetze hinzuweisen, die dann zwangslaeufig zu den unterschiedlichen ergebnissen fuehren. beim versuch, zu einem bild des ganzen ohne weit gehende qualitative gegensaetze zu gelangen, bin ich bestrebt dualismen aufzuloesen wo es geht und sie ansonsten nicht weiter zu kultivieren, indem ich sie zu unumgaenglichen bestandteilen oder voraussetzungen meines bildes mache. zu diesen dualismen gehoert auch die aufteilung der erkenntnisse in apriori und aposteriori erkenntnisse. ebenso halte ich es auch mit der vorstellung einer linearen entwicklung sowohl im historischen massstab als auch im Masstab eines einzelnen menschen. der gedanke der linearitaet setzt kriterien und massstaebe voraus, anhand derer wir den linearen verlauf auftragen koennten und die uns absolut gesehen fehlen. aber selbstverstaendlich laesst sich diese linearitaet denken, wenn an einem bestimmten punkt der gedankenkette subjektive kriterien zu absoluten erhoben werden. und daraus entsteht dann wiederum die notwendigkeit, die zeit zu denken.
grundsaetzlich muss ich immer wieder dazu sagen, dass ich fuer meine sicht der dinge keinen anspruch auf vollstaendigkeit erhebe. im gegenteil, gerade die unvollstaendigkeit jeder mir bekannten sichtweise ermutigt mich dazu, sie nicht nur in kauf zu nehmen, sondern sie geradezu zum prinzip zu erheben.
was das beispiel mit der schwangerschaft betrifft, moechte ich nur anmerken, dass jede frau diese erfahrung auf ihre ureigene weise zu machen scheint, je nachdem, wie und wie sehr sie sich auf diesen prozess einlaesst. und genau dasselbe trifft auch fuer den mann zu, der ebenfalls ganz erheblichen hormonellen schwankungen und veraenderungen unterworfen sein kann in dieser zeit. aber gerade diese individuellen abweichungen wuerden doch wiederum fuer den ansatz sprechen, dass sich jeder mensch seine welt selbst schafft. waren es nicht die strukturalisten, die selbst geschlechterspezifisches auf gesellschaftliche konditionierung zurueckfuehren zu koennen meinten.
 
M

mar

Guest
AW: lieber Zerd

lieber zerd, die Quadratur des Kreises lässt mein doch recht stückiges Wissen um mathematische Kriterien, die an Wahrscheinlichkeitsrechnungen nicht umhinkommen, vorerst im Unklaren zurück . Diese Komplexität zu überdenken macht es notwendig, das ich wie die großen Denker der Antike meinen Kopf in die Hände stütze ( nicht um sinieren, sondern mein Wissen und Denken zu erweitern. Linearität , Dualismus oder Struktur bedarf einer anderen Herangehensweise , der Logik, die zu vertiefen ich eine Atempause nehme. Aber- wie immer. Es geht sicher bald weiter... l.G. Mar
 
A

Anouk

Guest
AW: lieber Zerd

Zitat von Zerd:
liebe anouk, ich versuche, die dinge aus der perspektive des gelebten augenblicks aus zu betrachten. und da scheint es mir durchaus so, dass ein spannender moment subjektiv schneller vergeht als ein langweiliger, ganz unabhaengig davon, ob dieser moment nun innerhalb einer alltaeglichen handlung vorkommt oder einer gaenzlich aussergewoehnlichen (auch wenn ich nur einmal in fuenf jahren in einer kilometerlangen schlange stehe, kann das furchtbar langweililg und langwierig sein und auch bei der taeglichen arbeit kann es durchaus eine sehr interessante aufgabe geben, die die zeit im flug vergehn laesst). aber natuerlich ist es auch so, dass wenn man auf eine phase zurueckblickt, die hauptsaechlich von staendig sich wiederholender routine gepraegt war, diese phase einem leer und nur aufgrund dieser ereignislosigkeit schnell vergangen vorkommen muss, obwohl dem meiner ansicht nach im gelebten augenblick gar nicht so gewesen ist.

Ja, das stimmt. Aber ich meinte etwas anderes - was Seneca wesentlich besser formuliert hat als wir kleine Geister es könnten: "Der erste Beweis für eine Beruhigung der Seele ist, meine ich, stehen bleiben zu können und mit sich zu verweilen." Also, überspitzt gesagt: je nach Sichtweise kann man eine (vermeintliche) Stagnation auch als Ausgangspunkt oder Phase gesteigerter Lebensqualität wahrnehmen. Meinst Du nicht? Bei dem, was Du beschreibst, schwingt doch auch Furcht vor einem Stillstand mit - so kommt es mir vor... Oder habe ich mich zu platt ausgedrückt und Dich einfach missverstanden?

Anouk
 
A

Anouk

Guest
AW: lieber Zerd

So, nach einem ausgedehnten Abendessen auf dem Balkon mit viel Vogelgezwitscher kommt mir ganz etwas anderes in den Sinn: - kann es sein, dass Eure Sichtweisen sich eigentlich gar nicht so sehr unterscheiden, wie Zerd es zuletzt herausstellte? Tatsächlich fühle ich mich provoziert, zwischen den Zeilen zu lesen, mir einen Reim auf Eure (laut Zerd) "unterschiedlichen" Herangehensweisen zu machen - und dabei musste ich einfach - lächeln...
Ein stillvergnügtes, lächelndes Wiedererkennen, das sich gewöhnlich erst aus dem Kontext eines langen Gespräches, einer zunehmend vertrauten Zwiesprache ergibt.

Ist das nicht seltsam? Denn in Wahrheit ist es ja eher ein Herantasten und Beschnuppern, und subjektive Assoziationen, die Vorstellung, über Zeit und Raum hinweg geistig Brücken schlagen zu können, tun dann ihr Übriges, das Gefühl einer Verbundenheit hervorzukitzeln, die objektiv, d.h. ohne die Kraft der Phantasie, gar nicht denkbar wäre.

Ihr merkt, ich bin skeptisch. Oder vielleicht auch nur: nicht entschieden. Denn Phantasie ist ja per se ein Geschenk, ein Wunder, für das ich mich täglich aufs Neue begeistern kann - aber sie kann auch, ganz janusköpfig, ein Fluch sein, wenn man sie nicht zu bändigen weiß. - Sowieso glaube ich, dass sämtlichen Eigenschaften, Leidenschaften, Fähigkeiten und Talenten immer eine gewisse Ambivalenz zu eigen ist: nicht in einem dualistischen, sondern in einem vieldeutigen und komplexen Sinne wie es in klassischen Trägödien aufscheint. Aber ich will nicht abschweifen; es ist nur ein Thema, das mich immer wieder und wieder und wieder fasziniert. Denn: (und jetzt schweife ich doch ab!): wenn man zum Beispiel eine an sich völlig neutrale Eigenschaft wie Intelligenz betrachtet, müsste man nach gängiger Meinung davon ausgehen, dass das etwas ungemein Positives, in jedem Fall Begrüßenswertes ist. Aber wie viele Menschen nutzen ihre Intelligenz einzig, um ausschließlich sich selbst (und niemandem sonst) Vorteile zu verschaffen - bis hin zum Begehen eines scheinbar perfekten, kaltbütigen Kapitalverbrechens?

Okay, das hat hier nichts mit dem Thema zu tun, und daher werde ich den Gedanken jetzt auch ganz schnell unredigiert wieder einsammeln und mich vom Acker machen - aber faszinierend und für mich bis heute immer wieder unergründlich ist es doch, dass jede an sich positiv konnotierte Eigenschaft auch zugleich ihr Gegenteil in sich trägt: den Keim ihrer eigenen, äußersten Zerstörung - vollkommener Destruktion...

Und genau das, meine ich, unterscheidet den Menschen vom Tier. Nichts weiter. Aber das war nun ein weitschweifiger und etwas ketzerischer Exkurs, der hier eigentlich gar nicht hingehört.

Eigentlich wollte ich auf Eure beiden letzten Postings antworten und glaube, zweierlei herausfiltern zu können: Während Du, Mar, ein (zumindest nach meinem Empfinden) ein sehr ganzheitliches Fließen von Zeit in den Mittelpunkt Deiner Überlegungen stellst und im Rückgriff auf Schwangerschaft und Geburt ausgesprochen "weiblich" argumentierst, stellst Du, Zerd, sofort ein lineares, logisches, naturwissenschaftlich begründbares Modell dagegen. Klassisch "männliche" Denke ... wenn ich das mal ganz zart anmerken darf.
Denn Du bist Zerd!, das hab ich verstanden und nehme Dich als solches (solchen? solche?) auch wahr. Trotzdem muss ich nochmal da nachhaken, völlig unabhängig und unbeleckt von mathematischen Interessen (geschweige denn Kenntnissen): WER, zum Kuckuck, beansprucht eigentlich diese ungeheuerliche Arroganz zu behaupten, dass 1 + 1 tatsächlich 2 ist?! Warum nicht von Fall zu Fall 7 oder 10, 20, 100?
Eine kindische Frage, das gebe ich zu! Aber eine, die zu stellen mich bis an mein Lebensende sehr wahrscheinlich begleiten wird - und zwar mit Genuss!!

Aber siehst Du, Zerd, das ist es, was einem nicht nur die Mathematik sondern auch die Freude am Dualismus dauerhaft vergällt: Dieser Wahn, alles zu definieren! Und das ist es, was ich mit meiner anfänglichen Bemerkung meinte: dass Mars und Deine Sichtweise nicht so unterschiedlich sind. Ich wage zu behaupten: sie sind ähnlich!

Und überhaupt: Müssen wir denn alles im Leben benennen? Scheibchenweise in gedankliche Partikelchen zerlegen, etikettieren und neu erfinden? Du selbst gibst die Antwort: Nein. Du schreibst (sinngemäß): Du seiest ein Gegner dualistischen Denkens und belegst das sehr eloquent.

Aber wenn das so ist: Warum konterst Du Mars Beschreibungen dann mit einem trockenen mathematischen Modell, statt ihr einfach Recht zu geben? Das scheint mir intellektuell, entschuldige bitte, nicht übermäßig geschickt. Denn: Wir sind alle nur Menschen. Wir alle wissen um die sich ewig wiederholenden Zyklen von Winter, Frühjahr, Sommer und Herbst, die sich im Kleinen wie im Großen wiederholen. Frauen werden aufgrund ihrer Biologie schon immer wieder mit der Nase darauf zurückgestoßen (obwohl ich ansonsten, weiß Gott nicht!, zu den Verfechtern biologistischer Modelle gehöre). Und Männer wissen das, glaube ich, auch. Falls sie nicht das Frühjahr zum steten Maßstab ihres Daseins erheben.

Aber das tun, so weit ich es überhaupt überschauen kann, doch wohl nur die Wenigsten. Narren, wenn Du mich fragst. Und Du beschreibst und empfindest es ja auch durchaus anders.

Verzeih, Zerd, ich will Deine Gedanken weder in Frage stellen noch Dich in irgendeiner Weise provozieren, aber angesichts von mars Überlegungen kam mir Deine Replik, auch wenn sie nicht so gemeint war, unfreiwillig dualistisch vor. Aber das ist, wie gesagt, nur mein persönlicher Eindruck, nach einem Glas Wein, nachdem die Gesänge der Vögel längst verstummt sind, an einem mondlosen und verregneten Abend.

Liebe Grüße

anouk
 

Zerd

Well-Known Member
AW: lieber Zerd

liebe mar, ich denke und hoffe, dass zum nachvollziehen meiner gedanken keine besonderen theoretischen grundlagen erforderlich sind. ich habe vielmehr versucht, ein system von gedanken zu vermeiden, die eine klare struktur und eine direkte abhaengigkeit der ergebnisse von den gesetzten oder erwarteten voraussetzungen und vorkenntnissen aufweisen und somit dem denkvorgang zum teil gewaltige beschraenkungen auferlegen, um ihn in eine ganz bestimmte richtung - eben hin zu den ergebnissen - zu kanalisieren. auch aus diesem grund habe ich eine allzu langwierige oder intensive beschaeftigung mit einzelnen namen oder denkschulen vermieden und habe mich vielmehr in zielloser wanderschaft durch die verschiedenen zeiten und namen der menschengeschichten bewegt, vorzugsweise in gespraechen als in buechern. ich wuerde den anspruch erheben, dass mit etwas mut und neugierde, einem gesunden menschenverstand mit etwas phantasie, einer kleinen portion aufsaessigkeit und experimentierfreude, es jedem, der es auch will, moeglich sein sollte, meinen ausfuehrungen zunaechst einmal zu folgen und sie zu begreifen, abgesehen vom grad der akzeptanz, die sich daraus ergibt.

dualismen sind nach meinem verstaendnis begriffspaare, bei denen scheinbar gegensaetzliches aber doch zusammengehoeriges zusammengefasst und somit einer einheitlichen betrachtung auf einer uebergeordneten ebene oder hinsichtlich eines uebergeordneten ziels zugaenglich gemacht wird. es wird von der koexistenz zweier unabhaengigen, nicht ineinander ueberfuehrbaren prinzipien ausgegangen und nicht selten bedingen und naehren sich diese prinzipien gegenseitig (wenn es einen himmel gibt, muss es doch auch eine hoelle geben,usw.). es duerfte ersichtlich sein, dass solches im sinne einer ganzheitlichen homogenen betrachtung zu verwerfen oder allenfalls als kuenstliche zwischenstufe hin zu einem besseren verstaendnis anzusehen ist.

linearitaet sehe ich dort, wo eine gerichtete gleichmaessige entwicklung vermutet wird. hegel etwa sieht in der geschichtlichen entwicklung eine verwirklichung des menschen hin zu gott. um so etwas behaupten zu koennen bedarf es eines kriteriums, anhand dessen eine aehnlichkeit zu gott bestimmt oder gemessen werden kann. ebenso braeuchten wir ein solches kriterium, wenn du etwa behauptest, dass im laufe des lebens einsicht und wissen zunehmen. aber da dem menschen nach meiner anschauung ein objektiver unmittelbarer zugang zur welt nicht gegeben ist, muessen solche kriterien immer subjektiv sein. nur, wenn ich solche kriterien zulasse, kann ich eine entwicklung von A nach B erkennen und nur dann kann ich auch einen zeitpunkt (der entwicklungsstufe) A von einem zeitpunkt (der entwicklungsstufe) B unterscheiden.

weiter oben schreibst du: "wenn man beeinflussen kann, was fuer mich persoenlich relativ ist, kann ich doch auch beeinflussen, wie relativ die zeit ist...". das ist der erste schritt und der zweite wuerde darin bestehen, sich vorzustellen, dass der mensch das nicht nur kann, sondern jederzeit tut, ganz gleich, ob er sich dessen gerade bewusst ist oder nicht.
 

Zerd

Well-Known Member
AW: lieber Zerd

liebe anouk, der wein scheint dir ganz offensichtlich gut zu bekommen. ich kann dich nur dazu ermuntern, dir haeufiger das eine oder andere glas zu genehmigen und anschliessend den gang zur tastatur anzutreten.

auch ich denke, dass es zahlreiche parallelen zwischen mars und meiner sichtweise gibt; vor dem hintergrund der in unserer zeit weit verbreiteten vorstellungen sind es wohl sogar weit mehr gemeinsamkeiten als unterschiede. unsere ausdrucksweisen moegen sich unterscheiden, was wohl auch mit unseren unterschiedlichen ausgangspunkten zusammenhaengen mag. aber dennoch wuerde ich meine argumentationsstraenge nicht als linear oder in naturwissenschaftlicher tradition sehen. gerade in meinem letzten beitrag weise ich wieder auf meine vorbehalte gegenueber der vorstellung einer linearen entwicklung hin.

fuer die vorstellung einer geschlechterspezifischen betrachtungsweise kann ich mich auch nicht so recht erwaermen. es mag zwar gewisse unterschiede in den subjektiven erfahrungswelten geben und dadurch resultierend auch in der bewertung gewisser fragen. aber gibt es diese nicht auch zwischen mann und mann und frau und frau. wie sollte es moeglich sein zu beurteilen, dass die einen unterschiede bedeutender seien als die anderen. abgesehen davon, meine ueberaus intelligente erste frau hielt mich gerade auch wegen meiner gedankenwelt immer schon fuer einen verkappten schwulen.

die frage nach der summe von eins und eins finde ich ueberhaupt nicht kindisch, sondern von zentraler bedeutung. es ist eindeutig so, dass es dieses konkrete "=" der mathematik in der welt ueberhaupt nicht gibt. gleichheit scheint eine auf theoretische konstrukte beschraenkte illusion zu sein. im grunde gleicht kein baum dem anderen, kein mensch dem anderen und kein stein dem anderen. es muss klar sein, welches ausmass an vielfalt und komplexitaet durch hilfsmittel wie sprache und mathematik in hirngerechte einfache happen reduziert wird. als ein ebensolches hilfsmittel bin ich auch geneigt die zeit anzusehen. wir haben es hier also in jedem fall mit stark vereinfachten naeherungen zu tun. und weil dem so ist, erweisen sich weltbilder auch so haeufig als self-fullfilling prophecies, der glaeubige entdeckt gott hinter jedem gartenzaun, fuer den astrologen bestaetigen sich immer und ueberall die sterndeutungen und der wissenschaftler erhaelt bei seinem experiment genau das vorhergesagte ergebnis.

noch kurz zu deinem vorletzten beitrag: ich bleibe dabei, ein genussvoller angenehmer moment, ganz gleich, ob in tiefer einsamkeit und ruhe oder in ausgelassener hektik, wird dem menschen wohl kürzer vorkommen als ein unangenehmer langweiliger moment. und ich denke auch, dass der mensch in der regel eher die momente ersterer art als die letzterer art anstreben wird. aber da wir hier von subjektiven eindruecken reden, kann ohnehin eine endgueltige entscheidung gar nicht getroffen werden und so kann man sich ganz den farben und klaengen hingeben, die einem - eben!- genehmer und willkommener sind.

ich halte nichts davon, noch nicht geschehenes im voraus zu bedauern und ich gehe davon aus, dass ich nach meinem tod zu keinem bedauern in der lage sein werde. von diesem standpunkt aus kann ich also, trotz dem jedem meiner einzelnen zellen innewohnenden triebs zum ueberleben, von einer gewissen gleichgueltigkeit gegenueber meiner lebensspanne sprechen. ich denke, ich muss das sogar tun, um einen authentischen bezug zu meinem leben aufzubauen, der nicht von verlustaengsten oder irgendeiner sonstigen weise vom bevorstehenden tod gepraegt ist, sondern ganz allein vom leben selbst.
 
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