am rand - sebnem isigüzel

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leseprobe
Leyla schlief vierzig Tage und vierzig Nächte in den Armen von denen, die sie gefunden hatten. Als sie aufwachte, hatte man ihr die Haare geschoren. Das waren Straßenkinder gewesen, sie hatten sich einen Spaß daraus gemacht. Es gab keinen Spiegel, in dem sie sich hätte betrachten können.
Einer, der seine Pupillen nicht fixieren konnte, meinte: "Jetzt stößt dir weniger zu, weil du wie ein Kerl aussiehst." Leyla aber war nicht traurig, weder darüber, dass man ihr die Haare abgeschnitten hatte, noch darüber, auf der Straße gelandet zu sein. Der Imam der Moschee, der denen, die im Park biwakierten, trocken Brot hinwarf, fragte sie: "Bist du eine neue?"
Er zeigte auf ihren Kopf und fragte: "Hat die da oben alle beieinander? "
Ihre Hände und ihr Gesicht waren noch nicht wie Erde aufgesprungen, ihre Farbe noch nicht dunkel geworden. Sie war ein neu auf der Straße gelandetes Spielzeug, ein sauberes Paar Socken, das auf den Müll geworfen worden war, ein Terminkalender, gebraucht vielleicht, aber mit Seiten, die noch nicht fettig und von Abwasser besudelt waren, eine Uhr, deren Zifferblatt noch immer glänzte.
Auf das Zeichen des Imams hin hatte Leyla ihren Kopf festgehalten und sich daran erinnert, woher sie kam und wie sie hieß. Ob man sie wohl suchte? Wenn man sie suchte, war es merkwürdig, dass man sie nicht fand - mitten in der Stadt…
An jenem Tag begann sie auch, den Müll zu durchwühlen. "Frei Tisch und frei Schank gibt’s nicht, Kleines", hatte sie der Erste, der sie vergewaltigt hatte (jedenfalls der Erste, an den sie sich erinnerte), verspottet.
Er hatte seinen protzigen Gürtel fest angezogen und nach einem geeigneten Loch für seinen stählernen Stab gesucht.
"Bloß weil wir dich gefickt haben, werden wir dir nicht auch noch den Bauch füllen! Dein Essen suchst du dir selbst." "Wo finde ich was zu essen?", fragte Leyla. Doch da lachte der Mann nur, der sich mit dem Gesetz der Straße so gut auskannte, und ging weg. Danach sah sie, wie ein paar Gestalten an den Müllcontainern standen und den Abfall durchwühlten. Sie ging auf sie zu und bezog die ersten schlimmen Prügel ihres Lebens - "Das ist unser Müll, du Nutte!".
Leyla war ein törichtes Mädchen, das jahrelang vor einem Schachbrett gedöst hatte. Sie brach unter den Ohrfeigen, Faustschlägen und Tritten der Müllflöhe sofort zusammen. Als sie wieder zu sich kam, stand keiner mehr beim Abfall. Sie schaute sich nach rechts und links um, vielleicht hatten sie sich ja versteckt. Sie wartete so besonnen wie möglich ab, denn eventuell würden sie erneut auf sie losgehen, sobald sie die Hand ausstreckte. Dann langte sie mit ihrer ängstlichen, zitternden Hand hin und wühlte, mit nur einem Auge - sie konnte das andere wegen des angerissenen Lids nicht öffnen -, zum ersten Mal in ihrem Leben im Müll.
 
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