Deniz Yücel

Alubehütet

Well-Known Member
Zumal es die Debatte um den Preis für Masha Gessen grotesk erscheinen lässt.
Ok ... dann habe ich da jetzt noch mehr davon gefunden. In einem Artikel in den USA, der sich ganz aktuell und sehr lang auseinandersetzt nicht nur mit der deutschen Erinnerungskultur (liest man ja auch zu selten, sowas):
Im Jahr 1948 schrieb Hannah Arendt einen offenen Brief, der mit den Worten begann: „Zu den beunruhigendsten politischen Phänomenen unserer Zeit gehört die Entstehung der ‚Freiheitspartei‘ (Tnuat Haherut) im neu gegründeten Staat Israel, einer politischen Partei, die in ihrer Art in Organisation, Methoden, politische Philosophie und gesellschaftliche Anziehungskraft der Nazi- und den faschistischen Parteien nahesteht.“ Nur drei Jahre nach dem Holocaust verglich Arendt eine jüdisch-israelische Partei mit der NSDAP, eine Tat, die heute einen klaren Verstoß gegen die Antisemitismusdefinition der IHRA darstellen würde. Arendt stützte ihren Vergleich auf einen Angriff der Irgun, einem paramilitärischen Vorgänger der Freiheitspartei, auf das arabische Dorf Deir Yassin, das nicht in den Krieg verwickelt war und kein militärisches Ziel darstellte. Die Angreifer „töteten die meisten ihrer Bewohner – 240 Männer, Frauen und Kinder – und ließen einige von ihnen am Leben, damit sie als Gefangene durch die Straßen Jerusalems marschierten.“

Anlass für Arendts Brief war ein geplanter Besuch des Parteichefs Menachem Begin in den Vereinigten Staaten. Albert Einstein, ein weiterer deutscher Jude, der vor den Nazis geflohen war, fügte seine Unterschrift hinzu. Dreißig Jahre später wurde Begin israelischer Premierminister.
Um Arendts Eichmann-Buch wird es auch gehen; wie so oft nicht so gelungen. Schwieriger Stoff. Aber es geht überhaupt um Erinnerungskultur insbesondere im Nach-Mauerfall-Berlin, in Polen, aktuell der Ukraine, und wie die Auseinandersetzungen darum dabei von der Netanjahu-Regierung instrumentalisiert wird. Ich brauche nicht betonen, daß ich selber die meisten Positionen nicht teile. Aber gerade darum sollte das diskutiert werden.



(Falls Ihr nicht den ganzen, wirklich langen Artikel lesen wollt, die gegenwärtig diskutierten Passagen stehen weit unten.)
 
Zuletzt bearbeitet:

Bintje

Well-Known Member
Ok ... dann habe ich da jetzt noch mehr davon gefunden. In einem Artikel in den USA, der sich ganz aktuell und sehr lang auseinandersetzt nicht nur mit der deutschen Erinnerungskultur (liest man ja auch zu selten, sowas): [...]
Das ist der Essay von Gessen, der teilweise mit abstrusen Vergleichen aufwartet, und, so offenbar nicht nur mein Eindruck, Fragen an Gessens Kenntnissen der deutschen Geschichte und Gesellschaft aufwirft. Der Historiker Volker Weiß hat eine angenehm unaufgeregte und saubere, klarsichtige Kritik dazu in der "Süddeutschen" veröffentlicht. Lesenswert!

https://archive.ph/dBFoI

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EnRetard

Well-Known Member

Ich finde den Artikel von Dirk Peitz in Zeit Online wesentlich aufschlussreicher. Auch er übt Kritik an Gessens Essay im New Yorker und widmet dabei breiten Raum dem Gaza-Getto-Vergleich, den er als nicht ganz redlichen Angriff auf die deutsche Erinnerungskultur ansieht.
 

Alubehütet

Well-Known Member
Ja klar ist es das. Habe ich bewußt hinter dem Link versteckt, weil ich nicht gleich verraten wollte, daß sie es ist, die in dem von mir zitierten Text sehr plausibel aufzeigt – vorbehaltlich, daß ich den Offenen Brief noch nicht gelesen habe –, daß Hannah Arendt womöglich einen nach ihr benannten Preis auch nicht erhalten hätte. Diesen Essay, an dem sie lange gearbeitet haben wird, publiziert sie am 9. Dezember, also als sehr bewußten Aufschlag und Knaller zur Preisverleihung an ihr. Ungeschickt: Daß nicht zeitgleich eine Übersetzung prominent auch in Deutschland, etwa in der ZEIT erschienen ist oder im SPIEGEL.

Da ist vieles streitbar und kritisch zu sehen und zu kritisieren. Dazu hätte der Essay größere Kreise ziehen müssen, und dafür hätte sie den Preis, wie vorgesehen, erhalten sollen, auch in dem Rahmen.
 

EnRetard

Well-Known Member
Hier https://archive.ph/oZJkw erläutert Masha Gessen nochmal ihre Positionen. Ein echter Diskurs finde nicht statt, kritische Stimmen würden zum Schweigen gebracht. Die Definition von Antisemitismus würde zu weit gefasst, gehe viel weiter als die "Jerusalemer Erklärung", die unter anderem die Grenze zwischen Kritik an der israelischen Politik und Antisemitismus an Beispielen illustriere. Antisemitismusvorwürfe würden von der politischen Rechten gekapert, um ihre eigene, anti-migrantische, islamfeindliche Agenda zu verfolgen.
 
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