AW: Grass ist hip!
Die Frage steht noch immer im Raum... Na jut... Versuche ich mal, was dazuzusenfen... Aber Vorsicht, jetzt wird's lang.
Also: Grass! Der "Spiegel" hat sich diese Woche ja auch nicht mehr eingekriegt vor Wonne. Trotzdem, im Ernst: Mehr als die "Blechtrommel" braucht man nicht von ihm lesen. „Katz und Maus“ (klassische Schullektüre im Deutschunterricht) und „Das Treffen in Telgte“ sind empfehlenswert. Punkt. Seine anderen Bücher wie Kopfgeburten, Der Butt oder Die Rättin fand ich gedrechselt bis schwer verdaulich, und seine Lyrik ... nun ja. Wem’s gefällt, dem gefällt’s; ich mag’s nicht leiden. Als Graphiker finde ich ihn talentierter. Nicht genial, aber Geschmäcker sind bekanntlich verschieden.
Genug gegrantelt, und nun zur Sache oder Meinung (oder wie auch immer): Diese verspätete Beichte hat einen sehr faden Beigeschmack. Es hätte ihm sehr viel besser zu Gesicht gestanden, erheblich früher damit herauszurücken statt seine Biographie in diesem (für einen Altlinken ganz, ganz wesentlichen Punkt!) zu schönen.
Aber Grass ist Grass und wird es auch bleiben. Ich schätze ihn als Person: als Künstler und einen (den letzten?) Linksintellektuellen, an dem kein konservatives Blatt vorbeikommt. Insofern steht er bei mir unter Artenschutz. Auch wenn er bisweilen mit einer reflexhaften Automatik auf den Putz haut, die wenig Überraschendes bietet. Ein wenig schade finde ich das, und bisweilen skurril – wenn er sich z.B., was auch schon geschah, dazu herablässt bzw. hergibt, Lübecks Stadtvertretern in einer eher randständig-provinziellen Frage per Dekret die Leviten zu lesen. (Allerdings glaube ich mich zu erinnern, dass das in seine Zeit vor dem Nobelpreis fiel. Und worum's ging, hab ich inzwischen auch schon wieder verdrängt.)
Wie auch immer, der Mann ist eine Marke, die sich glänzend verkauft. Siehe auch Wowi, Berlins Bürgermeister Klaus Wowereit, der ihn ungeachtet allen Rauschens im Blätterwald als Zugpferd für seinen Wahlkampf einspannen will. Und um sein Outing zu beurteilen, darf man, finde ich, auch ins Kalkül ziehen, dass er als ausgefuchster Geschäftsmann seinen zu erwartenden künstlerischen Nachlass bereits vor längerem geordnet und Teile davon, so weit ich's überschaue, nach Lübeck, Bremen, Berlin und, ich glaube, auch Danzig verkauft hat. Teuer, versteht sich.
Das ist schlau. Das nötigt einem Bewunderung ab: diese Selbstgewissheit, der Instinkt, die Kraft, mit dem da einer zu Lebzeiten seine finanziellen Geschicke und seine eigene Rezeptionsgeschichte mit aller Macht formen und nicht posthum z.B. irgendwelchen ominösen Geschäftemachern oder sonstigen Haien im Literaturbetrieb überlassen will. Darin, finde ich, zeigt sich die moderne Emanzipation eines Künstlers, der Marktmechanismen begriffen hat: Statt wie Spitzwegs armer Poet mit aufgespannten Regenschirm überm Bett zieht er aus seinem Ruf das größtmögliche Kapital für sich und die Seinen. Das ist hip. Nein: Pop! Ein alter Dinosaurier als Warhol der deutschen Nachkriegsliteratur, so kommt mir das vor. Das hat was. (Und falls man den Vergleich überhaupt bemühen will: Dagegen sehen die "Generation Golf"- und sonstigen Schreiberlinge für meine Begriffe ganz blass aus. Fad. Wie Starlets, auch wenn Grass (auch das gehört zu ihm..) einige von ihnen kürzlich um sich scharte, um Werkstattgespräche im Stil der Gruppe 47 zu initiieren. Ein Ausdruck, übrigens, den er selbst aufbrachte, um ihn angesichts des öffentlichen Echos darauf gleich wieder zurückzunehmen.)
Natürlich könnte man Grass' Hang zum Musealen auch eitel nennen, größenwahnsinnig (wie z.B. der „Spiegel“) oder clever, je nachdem. Oder alles zusammen. Aber wenn man zugleich bedenkt, dass er erst vor wenigen Jahren eine, wie ich fand, andere und mit dem jetzigen Thema verwandte wichtige Debatte befördert hat, indem er die Vertriebenenfrage, die lange verdrängten Traumata deutscher Kriegsopfer, „Im Krebsgang“ thematisierte, ist die jetzige Entwicklung eigentlich nur logisch. Konsequent. Das könnte man, so man will, auch als Vorläufer oder vielleicht sogar Probelauf für seine jetzigen Bekenntnisse deuten. - Egal! Spekulation. Blanke Vermutungen, weiter nix.
Langen Geschwafels kurzer Sinn: Ich glaube, dass da viel Hand in Hand geht. Der (verständliche) Wunsch eines alten Mannes, reinen Tisch zu machen, gleichzeitig die Verkaufszahlen seiner Autobiographie anzukurbeln und (mal wieder...) nach allen Friede-Freude-Eierkuchen-Kommentaren rings um die WM ein feuilletonbeherrschendes Thema zu setzen. Was ihm gelungen ist. Alles zugleich. Insofern: Chapeau!, Respekt...
Und Grass wäre nicht Grass, wenn er die Wirkung seiner Worte nicht abschätzen könnte und genauestens wüsste, dass der Sturm der Entrüstung sich über kurz oder lang wieder legen wird. Der wird sich schon überlegt haben, was er macht. Und wann er’s macht. Alles andere wäre enttäuschend, meint zumindest
anouk
P.S. Mir tut bloß sein Biograph leid. Der schäumt, wie ich finde, zu Recht. Und deswegen will ich mir aus schierer Solidarität irgendwann demnächst dessen Buch antun – und nicht das vom Meister höchstselbst. Das werde ich lustvoll schwänzen. (Vorerst... ) So viel Strafe muss sein! :mrgreen: