Der Fall Günther Grass

Ay Han

Member
guten abend
wie die meisten von euch mittlerweile wissen, hat grass nach jahren des schweigens seine mitgliedschaft bei der waffen-ss gestanden. was denkt ihr darüber?

meiner meinung nach kann man ihn wegen seiner vergangenheit in der waffen-ss nicht verdammen, schliesslich bestand die mehrheit der deutschen aus mitläufern. man kann ihm jedoch vorwerfen, dass sein jahrzehntelanges gebärden als moralapostel nichts weiter war als heuchelei.
 

Karagözlüm

New Member
AW: Der Fall Günther Grass

Genau das ist es! Ich glaube niemand hätte ihm was wegen seiner Vergangenheit vorgeworfen wenn er es bereut etc.
ABER so viele Jahre lang über die Moralapostel spielen und ander Leute dafür zu verurteilen ist einfach :shock:
Vllt war das ja seine Art das zu verarbeiten, bzw es zu verdrängen...
DAS entschuldigt die TAtsache allerdings nicht!!!

Ich verstehs nicht!

Lg KAragözlüm
 

turkish talk

Well-Known Member
AW: Der Fall Günther Grass

Das ist ein super interessantes Thema. Die Medien scheinen sich darauf gefreut zu haben, ständig und überall sehen wir Herrn Grass: Zeitung, Fernsehen, Internet. Das ist ansteckend und ich möchte gerne mitreden, im Ernst. Aber ich kann nicht! Ich habe kein Ahnung, habe nichts von ihm gelesen und meine einzige Verbindung ist die "Blechtrommel", ich traue mich anhand dieses dünnen Hintergrunds kein Kommentar abzugeben.

Vielleicht kann mir hier einer der Anwesenden kurz und knapp erklären, was denn genau Sache ist, sicher habt ihr ihn gelesen und über Jahre verfolgt.

Viele Grüße
 
A

Anouk

Guest
AW: Grass ist hip!

Die Frage steht noch immer im Raum... Na jut... Versuche ich mal, was dazuzusenfen... Aber Vorsicht, jetzt wird's lang.

Also: Grass! Der "Spiegel" hat sich diese Woche ja auch nicht mehr eingekriegt vor Wonne. Trotzdem, im Ernst: Mehr als die "Blechtrommel" braucht man nicht von ihm lesen. „Katz und Maus“ (klassische Schullektüre im Deutschunterricht) und „Das Treffen in Telgte“ sind empfehlenswert. Punkt. Seine anderen Bücher wie Kopfgeburten, Der Butt oder Die Rättin fand ich gedrechselt bis schwer verdaulich, und seine Lyrik ... nun ja. Wem’s gefällt, dem gefällt’s; ich mag’s nicht leiden. Als Graphiker finde ich ihn talentierter. Nicht genial, aber Geschmäcker sind bekanntlich verschieden.

Genug gegrantelt, und nun zur Sache oder Meinung (oder wie auch immer): Diese verspätete Beichte hat einen sehr faden Beigeschmack. Es hätte ihm sehr viel besser zu Gesicht gestanden, erheblich früher damit herauszurücken statt seine Biographie in diesem (für einen Altlinken ganz, ganz wesentlichen Punkt!) zu schönen.
Aber Grass ist Grass und wird es auch bleiben. Ich schätze ihn als Person: als Künstler und einen (den letzten?) Linksintellektuellen, an dem kein konservatives Blatt vorbeikommt. Insofern steht er bei mir unter Artenschutz. Auch wenn er bisweilen mit einer reflexhaften Automatik auf den Putz haut, die wenig Überraschendes bietet. Ein wenig schade finde ich das, und bisweilen skurril – wenn er sich z.B., was auch schon geschah, dazu herablässt bzw. hergibt, Lübecks Stadtvertretern in einer eher randständig-provinziellen Frage per Dekret die Leviten zu lesen. (Allerdings glaube ich mich zu erinnern, dass das in seine Zeit vor dem Nobelpreis fiel. Und worum's ging, hab ich inzwischen auch schon wieder verdrängt.)

Wie auch immer, der Mann ist eine Marke, die sich glänzend verkauft. Siehe auch Wowi, Berlins Bürgermeister Klaus Wowereit, der ihn ungeachtet allen Rauschens im Blätterwald als Zugpferd für seinen Wahlkampf einspannen will. Und um sein Outing zu beurteilen, darf man, finde ich, auch ins Kalkül ziehen, dass er als ausgefuchster Geschäftsmann seinen zu erwartenden künstlerischen Nachlass bereits vor längerem geordnet und Teile davon, so weit ich's überschaue, nach Lübeck, Bremen, Berlin und, ich glaube, auch Danzig verkauft hat. Teuer, versteht sich.
Das ist schlau. Das nötigt einem Bewunderung ab: diese Selbstgewissheit, der Instinkt, die Kraft, mit dem da einer zu Lebzeiten seine finanziellen Geschicke und seine eigene Rezeptionsgeschichte mit aller Macht formen und nicht posthum z.B. irgendwelchen ominösen Geschäftemachern oder sonstigen Haien im Literaturbetrieb überlassen will. Darin, finde ich, zeigt sich die moderne Emanzipation eines Künstlers, der Marktmechanismen begriffen hat: Statt wie Spitzwegs armer Poet mit aufgespannten Regenschirm überm Bett zieht er aus seinem Ruf das größtmögliche Kapital für sich und die Seinen. Das ist hip. Nein: Pop! Ein alter Dinosaurier als Warhol der deutschen Nachkriegsliteratur, so kommt mir das vor. Das hat was. (Und falls man den Vergleich überhaupt bemühen will: Dagegen sehen die "Generation Golf"- und sonstigen Schreiberlinge für meine Begriffe ganz blass aus. Fad. Wie Starlets, auch wenn Grass (auch das gehört zu ihm..) einige von ihnen kürzlich um sich scharte, um Werkstattgespräche im Stil der Gruppe 47 zu initiieren. Ein Ausdruck, übrigens, den er selbst aufbrachte, um ihn angesichts des öffentlichen Echos darauf gleich wieder zurückzunehmen.)

Natürlich könnte man Grass' Hang zum Musealen auch eitel nennen, größenwahnsinnig (wie z.B. der „Spiegel“) oder clever, je nachdem. Oder alles zusammen. Aber wenn man zugleich bedenkt, dass er erst vor wenigen Jahren eine, wie ich fand, andere und mit dem jetzigen Thema verwandte wichtige Debatte befördert hat, indem er die Vertriebenenfrage, die lange verdrängten Traumata deutscher Kriegsopfer, „Im Krebsgang“ thematisierte, ist die jetzige Entwicklung eigentlich nur logisch. Konsequent. Das könnte man, so man will, auch als Vorläufer oder vielleicht sogar Probelauf für seine jetzigen Bekenntnisse deuten. - Egal! Spekulation. Blanke Vermutungen, weiter nix.

Langen Geschwafels kurzer Sinn: Ich glaube, dass da viel Hand in Hand geht. Der (verständliche) Wunsch eines alten Mannes, reinen Tisch zu machen, gleichzeitig die Verkaufszahlen seiner Autobiographie anzukurbeln und (mal wieder...) nach allen Friede-Freude-Eierkuchen-Kommentaren rings um die WM ein feuilletonbeherrschendes Thema zu setzen. Was ihm gelungen ist. Alles zugleich. Insofern: Chapeau!, Respekt...

Und Grass wäre nicht Grass, wenn er die Wirkung seiner Worte nicht abschätzen könnte und genauestens wüsste, dass der Sturm der Entrüstung sich über kurz oder lang wieder legen wird. Der wird sich schon überlegt haben, was er macht. Und wann er’s macht. Alles andere wäre enttäuschend, meint zumindest

anouk

P.S. Mir tut bloß sein Biograph leid. Der schäumt, wie ich finde, zu Recht. Und deswegen will ich mir aus schierer Solidarität irgendwann demnächst dessen Buch antun – und nicht das vom Meister höchstselbst. Das werde ich lustvoll schwänzen. (Vorerst... ) So viel Strafe muss sein! :mrgreen:
 
R

rebel

Guest
AW: Der Fall Günther Grass

ich hab zwar noch weniger ahnung von günther grass als turgay, aber dafür kenne ich mich mit der waffen-ss aus. es ist leider nicht so, dass die waffen-ss nur der militärische arm der ss war. die waffen-ss war in zwei organisationen geglidert, einmal die ss-verfügungstruppen (werden immer fälschlicher weise als waffen-ss bezeichnet) und die ss-totenkopfverbände. die ss-totenkopfverbände waren hauptsächlich für die "bewachung" der Konzentrationslager zu ständig, wurden aber auch militärisch eingesetzt. die ss-verfügungstruppen waren der eigentliche militärische arm der ss, interressanter weise waren dort mehr ausländer als deutsche. 1944 hatte die waffen-ss 950.000 mitglieder, davon etwa 5.000 soldaten der ss-totenkopfverbände. wie man an der mitgliederanzahl sieht, hatte die waffen-ss ab einem gewissen zeitpunkt des krieges auch gar nichts mehr mit ihrem eigenen eliteanspruch mehr zu tun, anfangs wurden nur leute genommen die heutzutage T-1 gemustert werden würden und man musste sich bewerben. später wurden selbst die leute die von der wehrmacht als nicht kriegsfähig angesehen wurden von der waffen-ss gezogen, somit waren die leute noch nicht mal freiwillig bei der ss (vielleicht auch Günther Grass). warum kam es grade auch bei der waffen-ss zu exzessen, wie massenerschießung von kriegsgefangenen und speziell juden? wenn man bedenkt, dass diese menschen kaum ideologischen drill bekamen im gegensatz zur ersten generation der ss-soldaten. vielleicht sollte ich hier noch mal den filmtipp von mar wiederholen "das experiment". aber kommen wir nun zum wichtigen teil. man diente in der regel höchstens ein jahr in den ss-totenkopfverbänden und kam dann wieder zur ss-verfügungstruppe, sprich es fand ein ständiger austausch zwischen diesen beiden unterorganisationen statt. mein opa väterlicherseits war selbst in der ss-division-dasReich, welche zur ss-verfügungstruppe gehörte. ich hab ihn mal vor jahren gefragt, ob er was von der massenvernichtung der europäischen juden wusste oder mitbekommen hat. er verneinte dieses. er war glaub ich nr ss-untersturmbannführer was nichts hohes ist, von daher hät es sein können. vor ein paar monaten sprach er mich mal an und wollte nochmal darüber reden und er sagte mir, dass darüber geredet wurde, schließlich fand der austausch in den organisationen statt. ob man es nun glaubte oder nciht, die meisten habens wahrscheinlich einfach verdrängt, aber wer die wahrscheinlichkeit das ein mitglied der waffen-ss egal welcher rang er war von der vergasung der juden wusste ist sehr hoch.
 
A

Anouk

Guest
AW: Der Fall Günther Grass

Zitat von rebel:
ich hab zwar noch weniger ahnung von günther grass als turgay, aber dafür kenne ich mich mit der waffen-ss aus. [...] die wahrscheinlichkeit das ein mitglied der waffen-ss egal welcher rang er war von der vergasung der juden wusste ist sehr hoch.

... möglich, aber ohne das relativieren zu wollen: Viele wussten davon, sehr viel mehr Menschen, als sich im Nachhinein dazu bekannten. Denk mal an Daniel Goldhagens "Hitlers willige Vollstrecker", auch wenn seine Thesen heftig umstritten waren.
Aber was sollen wir nun in Bezug auf Grass damit anfangen?
Ja, er war Mitglied der Waffen-SS, mit 17 - in einem totalitären Regime, und der unkritische Opportunismus seines Elternhauses schuf sozusagen perfekte Voraussetzungen, die Verhältnisse gutzuheißen, sich regelrecht damit zu identifizieren. Und, vergiss nicht: kritiklose Ein- und Unterordnung war seinerzeit ein in vielen Elternhäusern erwünschtes Verhalten, das aufmüpfigen Kindern "bedarfsweise" auch mal mit dem Rohrstock eingebläut wurde. Ein Erziehungsmittel, das keines ist (außer Terror), und das hauptsächlich Angst und Identifikation mit dem Aggressor hervorruft. Natürlich gab es auch andere pädagogische Ansätze, aber das waren noch aus wilhelminischer Zeit sehr verbreitete. Und der massenpsychologische Rausch, in den Hitlers Propagandisten ein ganzes Volk versetzten, tat dann sein Übriges, manch tatendurstigen Jungspund sein vermeintliches "Heil" an der Front suchen zu lassen...

Was also sollen wir Grass nun konkret vorwerfen? Dass er als Jugendlicher verführbar war, sich der falschen Staatsform, Ideologie, Organisation verschrieb und damit - eher unfreiwillig, wie zu vermuten wäre - womöglich Mitwisser war? Wie so viele andere auch, die niemals geredet haben? Oder soll man ihm vorwerfen, dass er's wagte, die Kehrtwende zu vollziehen und sein Werk, seine öffentlichen Auftritte, als kompensatorischen Gegenentwurf zu inszenieren?
So könnte man das nämlich auch sehen...
 
M

mar

Guest
AW: Der Fall Günther Grass

Zitat von Anouk:
... . Und, vergiss nicht: kritiklose Ein- und Unterordnung war seinerzeit ein in vielen Elternhäusern erwünschtes Verhalten, das aufmüpfigen Kindern "bedarfsweise" auch mal mit dem Rohrstock eingebläut wurde. Ein Erziehungsmittel, das keines ist (außer Terror), und das hauptsächlich Angst und Identifikation mit dem Aggressor hervorruft. Natürlich gab es auch andere pädagogische Ansätze, aber das waren noch aus wilhelminischer Zeit sehr verbreitete. Und der massenpsychologische Rausch, in den Hitlers Propagandisten ein ganzes Volk versetzten, tat dann sein Übriges, manch tatendurstigen Jungspund sein vermeintliches "Heil" an der Front suchen zu lassen...
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... das zum einen, zum anderen funktioniert der verdrängungsmechanismus sehr sehr gut bei dieser generation

zitat anouk [/quote] Was also sollen wir Grass nun konkret vorwerfen? Dass er als Jugendlicher verführbar war, sich der falschen Staatsform, Ideologie, Organisation verschrieb und damit - eher unfreiwillig, wie zu vermuten wäre - womöglich Mitwisser war? Wie so viele andere auch, die niemals geredet haben? Oder soll man ihm vorwerfen, dass er's wagte, die Kehrtwende zu vollziehen und sein Werk, seine öffentlichen Auftritte, als kompensatorischen Gegenentwurf zu inszenieren?
So könnte man das nämlich auch sehen.[/quote] zitat ende

verwerflich wäre in meinen Augen eines: wenn wissentlich ( ... und sie wissen was sie tun!) die "kehrtwende" als selbstinszenierung zur vermarktung seines werkes dient .
in frage stellen würde ich aber trotzdem grass nicht als "schreib-künstler" , um es mal anders zu formulieren.
mar
 
R

rebel

Guest
AW: Der Fall Günther Grass

Ich werfe Günther Grass noch nicht einmal vor das er bei der ss aus ideologischen gründen war, wie ich geschrieben hatte, wurden ab einem gewissen zeitpunkt jeder eingezogen ob nun zur wehrmacht oder zur ss, das hat derjenige nicht mehr entschieden. Ich wollte das auch nicht umbedingt auf grass beziehen sondern eher generell, da in allen konservativen zeitungen und zeitschriften immer zu lesen ist, dass die soldaten der waffen-ss gleichzustellen sind mit soldaten der wehrmacht und das ist bei dem unterschiedlichen wissenstand den die mitglieder der organisation hatten nunmal nicht so und macht mich wütend. wie ich geschrieben hatte gehörte mein opa auch dieser organisation an und von daher kann ich dir sagen das man in den jungen jahren (grass war 17) mein opa auch ungefähr leicht empfänglich für so was ist. mein opa ist kein rassist vor dem herrn, er liebte mein ex-freundin (türkin) und hatte uns unterstützt wo er nur konnte. meine jetztige kennt er noch nicht.
 

Ay Han

Member
AW: Der Fall Günther Grass

Zitat von Anouk:
Was also sollen wir Grass nun konkret vorwerfen?
dass er jahrzehntelang die moralkeule gegenüber eben jenen menschen aus dieser zeit geschwungen hat, die das regime unterstützt haben. es gibt doch bei euch ein sprichwort, das besagt: wer im glashaus sitzt soll nicht mit steinen werfen und dieser heuchler hat mit felsbrocken um sich geworfen, um sich profilieren zu können!
 
A

Anouk

Guest
AW: Der Fall Günther Grass

... hmm, also ich glaube, er hat sich vor allem durch seine Bücher profiliert. Unabhängig von seinen Auftritten mit moralisch erhobenem Zeigefinger.

lg
anouk
 
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