Entschleunigung von heute auf morgen

Mendelssohn

Well-Known Member
Im Augenblick gilt der gesellschaftliche Dank den "systemrelevanten" Berufstätigen. Gemeint sind alle medizinischen Berufe und Tätigkeiten, welche die Grundversorgung der Bevölkerung sicherstellen, von der Müllabfuhr bis zur Bäckereifachverkäuferin, weshalb sich die Gewerkschaften nun auch zu Wort melden und die Systemrelevanz als Argument für eine bessere Bezahlung zur Geltung bringen. Mir gefällt der Begriff deshalb nicht, weil jedes berufliche Segment systemrelevant ist, also unsere Gesellschaft funktionstüchtig hält, vom Handwerker und Künstler bishin zum Barbesitzer, Lehrer, Verwaltungsangestellten und Banker.
Gemeint ist wahrscheinlich etwas Anderes. Gemeint ist so etwas wie Risiko-Berufsgruppen, deren Tätigkeitsbereich durch zahlreiche persönliche Kontakte gekennzeichnet sind. Das Risiko der Kassiererin erscheint arithmetisch betrachtet höher als das Risiko eines Maurers auf einer Großbaustelle im Freien oder eines Bankers im home office.
Systemrelevant sind wir alle, selbst die Alten, die die Gesundheitsindustrie am Laufen halten.
 

Alubehütet

Well-Known Member
Gemeint sind die Leute, die den Laden hier „am kacken“ halten, vs. denen, die zum Lebensunterhalt unserer Gesellschaft jedenfalls kurzfristig nicht unmittelbar notwendig sind. Ein Metallfacharbeiter ist wichtig, da er Dinge herstellt, die wir exportieren = von denen wir alle leben. Ein Künstler oder Lehrer ist kurzfristig entbehrlich. Ein Bäcker wiederum hingegen nicht, weil der Metallfacharbeiter auch Brötchen braucht. In diesem Sinne allerdings wäre auch der Speditionskaufmann im Home-Office systemrelevant, da er den Transport der Dinge organisiert, die der Metallfacharbeiter herstellt. Da ist die Grenze etwas schwammig, da natürlich auch die im Home-Office arbeiten können, die nicht systemrelevant sind: Programmierer, aber auch Telefonseelsorger. Unsere Bundeskanzlerin wiederum, auch im Home-Office, ist systemrelevant.

Die Frage war: Machen wir den Laden ganz zu, versetzen wir den Volkskörper ins künstliche Koma. Das ist, was die Chinesen gemacht haben. Da gelten nur noch: Lebensmittel und Medizin/Pflege. Oder versuchen wir, die Kernwirtschaft am Leben zu erhalten. Das haben wir versucht; in Italien und Spanien ist es nicht gelungen – Was deren Zusammenbruch natürlich gründlicher macht, als hätten sie die Wirtschaft von vorneherein so weit als möglich heruntergefahren wie die Chinesen. Es war ein Poker weil mit viel zu vielen unbekannten Faktoren, bei dem nacher immer einer schlauer ist.

Mitgemeint ist immer: Unmittelbar, kurzfristig. Wen können wir in Urlaub schicken, und wen brauchen wir heute, morgen unbedingt?
 
Zuletzt bearbeitet:

sommersonne

Well-Known Member
Wir brauchen alle und das es geht eine Volkswirtschaft herunter zu fahren zeigt ja China gerade. Deren Wirtschaft erholt sich gerade und warum sollte das bei uns anders sein. Wir müssen nur unsere Ansprüche und unser Konsumverhalten für einige Zeit etwas herunter schrauben.
Ich halte garnichts von sogenannten Wirtschaftspropheten/Ökonomen die dauernd eine Rezession herbei reden.
 

Mendelssohn

Well-Known Member
Ein Künstler oder Lehrer ist kurzfristig entbehrlich.
Hier widerspreche ist.
Wie wichtig die Kunst, also die Künstler, in Krisen sind, kann man gerade jetzt sehen. Sie produzieren ja weiter, ob mit oder ohne Bezahlung. Sie sind an die Krise gewöhnt, sie ist Teil ihrer Arbeit.
Auf keinen Lehrer wirst du kurzfristig verzichten können (deshalb ja die Online-Lehre), wenn der Standort Deutschland eine Marke der Wirtschaftskraft und des Wohlstands bleiben soll.


Mitgemeint ist immer: Unmittelbar, kurzfristig. Wen können wir in Urlaub schicken, und wen brauchen wir heute, morgen unbedingt?
Eigentlich ist folgendes gemeint: Berufsgruppen ohne großes Ansehen und häufig in den früher so genannten Leichtlohngruppen zu finden, erweisen sich nun als ebenso "systemrelevant" wie die Kanzlerin, die auf den Bringservice angewiesen ist, um ihre verantwortungsvolle Arbeit ausführen zu können. Hinzu kommt ein überdurchschnittliches Infektionsrisiko durch den überdurchschnittlichen physischen Kontakt.
D. h. nicht die Systemrelvanz ist das Unterscheidungsmerkmal zwischen einem Lehrer, einem Stahlarbeiter und einem Altenpfleger, sondern das Gesundheitsrisiko bei Ausübung des Berufs in pandemischen Zeiten, von denen die Corona-Krise wahrscheinlich nur einen kleinen Vorgeschmack bietet. Denn Pandemien sind die logische Konsequenz eines Bevölkerungszuwachses bei gleichzeitigem Ressourcenabbau.
Malthus könnte also doch recht gehabt haben.
 

Mendelssohn

Well-Known Member
So ist es in einem System. Die Funktionstüchtigkeit hängt an jedem einzelnen Rädchen, angefangen mit der verantwortungsvollen Tätigkeit einer Reinigungskraft bishin zur Arbeit politischer Entscheidungsträger und der theoretischen Quellen ihrer Berater.
Natürlich brauchen wir auch Wirtschaftskraft, aber nicht als Selbstzweck, sondern als materielle Grundlage für einen Sozialstaat und eine solidarische Gesellschaft.
 

Alubehütet

Well-Known Member
Der LKW-Fahrer, der dem REWE morgens die Lebensmittel anliefert, die er nachts aus dem Lager herangekarrt hat, ist einer der Systemrelevantesten wo überhaupt gibt. Ohne dem läuft gar nichts mehr. Und der hat beruflich überhaupt keine Sozialkontakte. Der winkt von weitem, wuchtet mit der elektrischen Ameise die Paletten auf die Laderampe, und tschüß.
 

Alubehütet

Well-Known Member
Hinzu kommt ein überdurchschnittliches Infektionsrisiko durch den überdurchschnittlichen physischen Kontakt.
Geht es dir um den Fronteinsatz, um Gefahrenzulage? Wobei zumindest die in den Supermärkten meist in einem Alter sind und sowieso von einer körperlichen Fitness, die sie selber eine Infektion zuallermeist symptomarm überstehen lassen dürfte. Den Job machen wenige in absehbarem Rentenalter.
 

Mendelssohn

Well-Known Member
Und der hat beruflich überhaupt keine Sozialkontakte. Der winkt von weitem, wuchtet mit der elektrischen Ameise die Paletten auf die Laderampe, und tschüß.
Dann guck dir mal an, wie es in Lagerhallen, auf Großmärkten und in den engen Zulieferschneisen zu den Supermärkten zugeht. Keine Sozialkontakte? Dort werden Ehen geschlossen und beendet.
 

EnRetard

Well-Known Member
Geht es dir um den Fronteinsatz, um Gefahrenzulage? Wobei zumindest die in den Supermärkten meist in einem Alter sind und sowieso von einer körperlichen Fitness, die sie selber eine Infektion zuallermeist symptomarm überstehen lassen dürfte. Den Job machen wenige in absehbarem Rentenalter.
Kann ich nicht bestätigen. Der Kaufmann, der den Edeka in meiner Nachbarschaft betreibt und seine festwn Angestellten sind sichtbar über 50. Nur die Minijobber sind jünger. Auch die Netto und Aldi-Filialen am Ort haben viele Beschäftigte über 50, teils über 60.
 

sommersonne

Well-Known Member
Der LKW-Fahrer, der dem REWE morgens die Lebensmittel anliefert, die er nachts aus dem Lager herangekarrt hat, ist einer der Systemrelevantesten wo überhaupt gibt. Ohne dem läuft gar nichts mehr. Und der hat beruflich überhaupt keine Sozialkontakte. Der winkt von weitem, wuchtet mit der elektrischen Ameise die Paletten auf die Laderampe, und tschüß.
Das trifft nicht in jedem Fall zu. Der Mann meiner Freundin war bis vor einem halben Jahr LKW-Fahrer. Von wegen Anliefern an der Laderampe. Anliefern am Geschäft und Übergabe an Mitarbeiter.
Das mit der Laderampe und der Ameise paßt nur auf die die an Zentrallager liefern. Aber menschlichen Kontakt hat man da auch manchmal.

"Den Job machen wenige in absehbarem Rentenalter."
Was du immer weißt. Er ist bis zum Eintritt in die Rente gefahren und er ist nicht der Einzige.
 
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