Ist die Republik Türkei mittelbar bedroht?

Zerd

Well-Known Member
Frag mal in Albanien nach. Die verehren immer noch Gjergj Kastrioti Skënderbeu als Nationalheld, weil der die Türken eine Weile aufhalten konnte.

Nun, wenn die Albaner, wie Du sagst, trotz 4 Jahrhunderte langer Osmanischer Herrschaft heute immer noch einen Freiheitskämpfer gegen die Osmanen aus vorosmanischer Zeit verehren, dann bestätigt das im Grunde doch nur die These, der Du vermeintlich widersprichst. Denn bei einem kulturimperialistischen Eroberer schreibt der Sieger in der Regel die Geschichte, er prägt Lebensweise und Sprache im eroberten Gebiet und er bestimmt, wer verehrt wird und wer nicht. So geschehen in den von den Römern eroberten Gebieten, im von den Europäern "entdeckten" Amerika oder auch in etlichen ehemaligen Kolonien, wo heute noch, Jahrhunderte nach der Kolonisierung und Jahrzehnte nach der Befreiung die Sprache der ehemaligen Kolonialherren noch immer zumindest zweite Amtssprache ist.

Das Osmanische Reich reichte zu seiner größten Ausdehnung von Gibraltar über die nordafrikanische Mittelmeerküste, die arabische Halbinsel, das Perserreich, Kleinasien, den Balkan bis vor die Tore Wiens. Und in all diesen Regionen haben die Völker trotz teils jahrhundertelanger osmanischer Vorherrschaft ihre kulturelle Identität und Sprache aus vorosmanischer Zeit beibehalten, selbst im kleinasiatischen Kernland, wo die Konflikte mit den alteingesessenen Kurden und Armenen erst nach dem Import des Nationalismus westlicher Prägung gegen Ende des 19Jhds ausbrachen.

Das wollte ich oben zum Thema Bashing eigentlich auch noch schreiben, nämlich, dass es auch viel mit Intelligenz zu tun hat, ob wir es mit einer vernünftigen Meinungsäußerung bzw einer kritischen oder eben mit Bashing zu tun hat. Denn wenn eine Haltung oder Behauptung offensichtliche Widersprüche aufweist (wie hier, danke für dieses schöne Beispiel) oder allein mit der Prämisse funktioniert, dass der Gegner, seine Gefolgschaft oder meinetwegen auch ein ganzes Volk (mitunter sogar die eigenen Leserschaft) dumm, ungebildet, zurückgeblieben, verbohrt oder ähnliches ist, lässt sich auch daran sehr einfach populistisches Bashing erkennen.

Ein sehr schönes Beispiel dafür ist auch die aktuelle öffentliche Debatte über den Fall Nawalny, wo allenthalben kolportiert und suggeriert wird, es quasi schon als erwiesen gilt, dass er von Putin vergiftet wurde. Bei jemandem wie mir blinken da sofort etliche Fragezeichen auf, die mich dann beschäftigen. Wieso jetzt? Dieser Mann durfte sich seit acht Jahren als Putin-Kritiker profilieren und austoben, wurde mehrmals vor Gericht gezerrt, dabei aber allenfalls "auf Bewährung" verurteilt und jetzt plötzlich soll er vergiftet worden sein. Wieso Gift? Es gab doch erst kürzlich den Fall mit dem vergifteten Spion und seiner Tochter, der in der internationalen Debatte so hohe Wellen geschlagen hat und bei dem es ebenfalls als erwiesen galt, dass er von russischen Spionen vergiftet worden sei. Das muss Putin und seine Gefolgschaft doch mitbekommen haben und jetzt machen sie genau denselben Fehler, obwohl es doch für so einen mächtigen Mann viel effizientere und geschmeidigere Wege gibt, einen unliebsamen Gegenspieler aus dem Weg zu räumen oder mundtot und wirkungslos zu machen? Und wenn es tatsächlich ein Giftanschlag der grauen Mächte um Putin war, warum verhindern sie es nicht durch irgendeine fadenscheinige Begründungen, dass dieser Mann in der Charite weiter behandelt und untersucht wird?

Das sind alles Fragen, die sich ein kritischer Leser stellen muss, erst recht ein Journalist, der darüber berichtet. Und wenn das eben ausbleibt, dann wird einfach nur angenommen oder durch die Blume behauptet, dass es allein aus Bosheit, Unmenschlichkeit, Unfähigkeit geschehen ist und das schon ausreichend Hintergrund und Zusammenhang darstellt; dann ist es eben Populismus, Bashing, Vorverurteilung, und zwar ganz unabhängig davon, was tatsächlich passiert sein mag mit Nawalny.

Und genau so läuft es beim Thema Türkei und Erdogan auch, was, wie schon mehrfach erwähnt, gerade in einem deutsch-türkischen Forum besonders bedauerlich ist.
 

Alubehütet

Well-Known Member
Im Realen Leben wurde bei mir aus beruflichen Gründen ein spannender Dialog abgebrochen mit einem Erdogan-Fan, weswegen ich hier ins Forum kam mit der ehrlichen Frage, ob Erdogan jetzt der türkische Adenauer ist oder doch ein Balkan-Mussolini. Einige mögen sich erinnern, daß ich damals durchaus auch der AfD eine Existenzberechtigung zugestehen wollte, zumindest das Potential dazu.

Worin ich dir Recht gebe: Wir mögen hier nicht nur Erdogan nicht, sondern auch BoJo, Trump, Orban. Erdogan ist viel mehr ein westliches Problem, nämlich Rechtspopulismus, als er selber wahrnimmt.

Immerhin: „Faschismus“ kann man das nicht mehr labeln, das Stichwort ist „gelenkte Demokratie“.
 

Alubehütet

Well-Known Member
Diese Besonderheit des Osmanischen Reiches kannst Du auch in allen (älteren) Geschichtsbüchern nachlesen, dass es nämlich eines der ganz wenigen Großreiche gewesen ist, das keinen Kulturimperialismus betrieb und stattdessen mehr Kultur von den eroberten Gebieten übernahm als ihnen irgendetwas aufzudrücken, wie das bei fast allen anderen Großreichen der Fall war. Dass sich das nach Gründung der türkischen Republik geändert hat, war im grunde ein Import aus dem Westen, nämlich der Nationalismus.
Das schätze ich sehr an Erdogan. Daß die türkisch-nationalistische Kurdenfresserei beendet wird zugunsten eines neoosmanischen Vielvölkerstaatgedankens.
Gibt es zur Zeit irgendein Land in der Welt, von dem man behaupten könnten: ja, hier geht es eindeutig in Richtung mehr Demokratie, mehr Teilhabe und Solidarität, mehr Nachhaltigkeit usw.
Rojava? o_O

*duckundweg*
 

Alubehütet

Well-Known Member
Türken-Bashing ist Rassismus. Tayyip hin oder her. Übertrag mal deine Aussage auf Israelis und Netanyahu.
Das stimmt. Türkei-Bashing trifft es auch nicht. Dafür ist die Türkei bei den Deutschen inzwischen viel zu bekannt und beliebt als Urlaubsland.

Wobei Netanjahu nie versucht hat, mit Rüpeleien andere Nationen gegen sich aufzubringen. Da haben Trump und Erdogan Alleinstellungsmerkmale.
 

Bintje

Well-Known Member
(...) Ist er ein Musterdemokrat? Eindeutig nein! Aber er ist eben kein Diktator, der Verfassung und Verfassungsorgane missachten und übergehen und seine Vorstellungen und Ideologie mit Militär- oder Polizeigewalt durchsetzen würde. (...)

Nein, natürlich nicht. Er musste Gezi-Demonstranten nur zusammenknüppeln und Yiğit Bulut fabulieren lassen, die Lufthansa stecke hinter den Protesten und neide der wirtschaftlich glorreichen Türkei wegen des 3. Istanbuler Flughafens den Aufstieg. Verfassungsorganen brauchte nur mit deren Abschaffung zu drohen, bis auch dem Letzten aufging, dass "Hayır" die, nun ja, eher unpassende Antwort bei der Abstimmung übers Präsidialsystem war.

https://www.dw.com/de/erdogan-droht-dem-türkischen-verfassungsgericht/a-19111764

Trumpesk. Aber dafür finden sich sicherlich auch noch passende Relativierungen. Und das war 2013/2016/2017. Die Entwicklung ist längst weiter. Ich staune nur immer wieder über die bemüht bis schief anmutende Äquidistanz angesichts echter Missstände (btw, darf man das so nennen?, nein!, natürlich nicht - !) und den eingepreisten Whataboutism. Aber das macht nichts. Andächtig lese ich weiter mit und denke mir meinen Teil. Besser so.
 

Zerd

Well-Known Member
Den sich RTE hartnäckig erarbeitet hat und redlich verdient.

Genau so ist es! Und jetzt musst Du Dir nur noch überlegen, was das bedeutet, falls das durch Deinen Aluhut dringt.

Bashing ist vor allem die Wahl und Präferenz des Bashers selbst. Für einen Populisten wie Erdogan ist es natürlich eine Methode seiner Wahl, in der er sich blendend auskennt und aufgrund seiner Macht und Gefolgschaft ideale Voraussetzungen dafür hat. Und natürlich ist jeder darauf bedacht, seine Gegner auf genau das Terrain zu locken, indem er die größten Vorteile hat. Und das tut ein Herr Erdogan innen- wie außenpolitisch mit Bravour.

Und ihr geht ihm alle auf den Leim, sowohl die innenpolitische Opposition, sowohl die innenpolitische Opposition, die Erdogans Methoden kopiert und ihren Anhänger genau dasselbe wie er, nur in grün, erzählt, was dann naturgemäß nicht so überzeugend klingt wie bei Erdigan und seine Position nur stärkt statt Du schwächen; als auch die internationale Opposition, die sich genauso opportunistisch verhält wie Erdogan selbst und deshalb natürlich in der Türkei von Erdogan viel besser instrumentalisiert werden kann.

Ja, tatsächlich, er hat daran gearbeitet, war wahnsinnig erfolgreich darin und ihr habt ihn wunderbar dabei unterstützt. Herzlichen Glückwunsch.

Auch so ein Vorgang wie die Inhaftierung Deniz Yücels passt da wunderbar in dieses Konzept. Du monierst seine einjährige Inhaftierung, ohne Dich im geringsten mit der formalen Anklage auseinanderzusetzen oder in irgendeiner Weise zu würdigen, dass er nach der Verhandlung aus der Haft entlassen worden ist (was man eigentlich nicht annehmen durfte, wenn man Yücels Texte über den gängigen Alltag in der türkischen Justiz zugrunde legt), Erdogan macht dasselbe in grün, indem er thematisiert, dass seine Justiz funktionieren würde, weil er ja aus der Untersuchungshaft entlassen worden sei, nachdem die Verhandlung stattgefunden hat.

Verstehst Du, das ist sein Metier, das ist seine Bühne, und wenn Du Dich auf dieses Spiel einlässt, dann stärkst Du nur seine Position und Argumentation. Der Typ konnte sich gerade wegen Yücel sogar (auf dieser Kommunikationsebene durchaus mit einer gewissen Logik) als rechtsstaatlicher Saubermann profilieren: schaut her, Yücel ist wieder gesund und munter zuhause und durfte sogar noch reichlich Stoff für einige Bücher sammeln; die im NSU-Prozess verhandelten Türken bleiben aber tot, mit freundlicher Unterstützung des deutschen Verfassungsschutzes und der Ermittlungsbehörden!

Ich bin weder ein Anhänger einer Person oder Gruppierung, noch einer Ideologie oder Politik, noch einer Religion oder Nation. Ich komme ganz wunderbar damit zurecht, dass alles, was geschieht, aus einem Ursachenbündel heraus geschieht, das ich so weit wie mir möglich zu erkennen und verstehen versuche. Und ich halte es einfach für eine grobe Vereinfachung und Verfälschung, die nicht selten ungewollte unerfreuliche Folgen zeitigt, dieses Ursachenbündel auf einige wenige vermeintlich wesentliche Ursachen und Gründe zu reduzieren, von denen dann auch noch bei einigen so getan wird, als seien sie vom Himmel gefallen.

So halte ich auch den gegenwärtigen Zustand der Welt für das Ergebnis eines mächtige und vielfältigen Ursachenbündels, das weit in die Vergangeneheit reicht. Wenn ich an diesem aktuellen Zustand etwas ändern möchte, habe ich im wesentlichen nur zwei Möglichkeiten: entweder ich beseitige die Gründe und Ursachen, die zum gegenwärtigen Zustand geführt haben, was sehr schwierig werden kann, weil diese Ursachen und Gründe sich schon nach einer sehr kurzen Zeit, die man sie zurück in die Vergangenheit verfolgt, unermesslich weit verzweigen und vermehren; oder man arbeitet konkret und intensiv an anderen Ursachen und Gründen für einen anderen Zustand in der Zukunft. Und wenn man sich dabei eben vor allem auf Ursachen und Gründe konzentriert, die schon zum gegenwärtigen Zustand der Welt geführt haben, dann kann man davon ausgehen, dass sich auf absehbare Zeit auch wenig ändern wird, weil dieselben Ursachen und Gründe dann auch sehr wahrscheinlich dieselben Konsequenzen zum Ergebnis haben werden.
 

sommersonne

Well-Known Member
Wir mögen Erdogan nicht, besonders ich. Anfangs habe ich noch gedacht jetzt wird es richtig gut in der Türkei, er ist der richtige Mann dazu. Aber der Gute hat uns alle geblendet und enttäuscht. Seit vielen Jahren schon ist er ein Diktator, der seine eigenen Errungenschaften zugunsten eines fundamentalistischen Islams zunichte macht. Was für eine Wandlung.
Aber dafür mag ich immer noch die Türken selbst, sie werden eines Tages Erdogan zeigen was sie wirklich wollen.
 
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