Ich tendiere zu einer dialektischen Geschichtsauffassung, d. h. auf der Höhe ihrer Entfaltung bleibt einer wirkmächtigen Idee oder einem großen Theoriegerüst nur noch die Abwicklung. Und während sich die Idee abwickelt entsteht etwas Anderes, nicht unbedingt etwas, das höher entwickelt wäre. Aber es geht auf keinen Fall zurück, niemals. Wenn alte Denkfiguren wieder auftauchen, dann in veränderter Form, nämlich so, dass sie den bisherigen Entwicklungsverlauf in sich aufnehmen.
Was mir an dieser SIchtweise fehlt, ist der Faktor Mensch. Hier wird Ideen und Gesellschaften, die eigentlich Produkt menschlichen Lebens und Handelns sind, ein Eigenleben, eine Eigendynamik zugestanden, die im Grunde völlig unabhängig von dem Menschen oder den Menschen, die sie hervorbringen.
Das betrifft zwangsläufig auch die Freiheit des Menschen, die damit negiert oder zumindest so in ein Zwangskorsett gesteckt wird, dass sie die beschriebene Dialektik nicht verhindern und in jedem Fall ihm zuarbeiten wird. Es steht zu befürchten, dass ein Gesellschaftssystem, das auf solchen Vorstellungen gründet, unvermeidlich ebenfalls die Freiheit des Menschen einschränken und der beschriebenen Idee und ihrer Eigendynamik unterordnen wird.
Das ist für mich zu fatalistisch und pessimistisch und entspricht so überhaupt nicht meinen persönlichen Erfahrungen mit meinen Mitmenschen. Das Leben im allgemeinen und der Mensch im besonderen sind nicht derart festgelegt, zumindest nicht grundsätzlich. Da wo Verhaltensweise und Angewohnheiten wir eine Festlegung anmuten, bringen sie solche Vorstellungen hervor.
Aber genau darin liegt auch eine der Schwächen der wissenschaftlichen Herangehensweise an den Menschen und seine Erzeugnisse: wie Adorno schon gesagt hat, konzentriert sich die Wissenschaft auf das sich wiederholende in der Natur, und damit auch beim Menschen. Eine solche Betrachtung muss zwangsläufig das einmalige und einzigartige am Menschen, zu der die Freiheit des Menschen sowohl an sich als auch aufgrund seiner individuellen Folgen gehört, übergehen, da dieses aus dem Raster fällt oder bestenfalls als statistisch nicht relevant vernachlässigt wird.
Wir müssen die Welt modellieren, völlständig erfassen können wir sie nicht. Dabei hat jedes Modell den grundsätzlichen Makel, dass es auf Abstraktionen und nicht weiter zurückführbaren Basisannahmen beruht. Und es wirkt: jedes Modell zeitigt Folgen, nicht selten im Sinne einer sich selbst erfüllenden Prophezeihung. Und wenn dem tatsächlich so ist, dann sollten wir allmählich davon Abstand nehmen, Modelle danach zu beurteilen, welchen Beobachtungen und Überlegungen sie entspringen, und sie vielmehr danach beurteilen, welche Folgen sie zeitigen (sollen). Ich diesem Sinne lehne ich Welt- und Menschenbilder ab, die die Freiheit und Kreativität des Menschen unterschätzen oder gar vollständig ignorieren und Ideen unterordnen.
Natürlich entwickelt sich jeder Mensch weiter und damit auch die Gesellschaft, in der er lebt, wie auch Ideen und Vorstellungen. Insofern ist alles anders und neu, auch wenn es Ähnlichkeiten zu schon dagewesenem aufweisen sollte. Aber dass es sich dabei zwangsläufig "abwickelt" und dabei die Gegenthese stützt, erycheint mir im Fall von Erdogan und der AKP als zu weit hergeholt und etwas krampfhaft in das dialektische Modell gepresst. Sicher, Erdogan will den Islam reformieren und mit der Moderne versöhnen und sicher hat seine Politik auch sehr viele neoliberale Elemente. Aber dass er dabei eine Vereinigung wie bei der deutschen Einheit anstrebt, als das kleine schwache (alte) einfach vom großen starken Bruder geschluckt wurde, oder dass es zwangsläufig so kommen muss, kann ich mir kaum vorstellen.
Natürlich kann ich es mir vorstellen, natürlich ist es möglich. Aber eben nicht als Folge einer unvermeidbaren Dialektik, sondern einfach nur, dass sich durch entsprechende individuelle Veränderungen und Entwicklungen der Menschen eine solche Dynamik in der Gesellschaft entwickelt.