Khalil Gibran

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Lalezar2006

Guest
Von der Religion


Und ein alter Priester sprach: "Rede uns über die Religion."
Und er antwortete also:
Hab´ ich denn am heutigen Tage von irgend etwas anderm geredet?
Ist Religion nicht eine jegliche Tat und Betrachtung? Und ist sie nicht gleichzeitig weder Tat noch Betrachtung, sondern ein Wunder und ein Erstaunen, das dauernd aus der Seele quilt, selbst derweil die Hände den Stein behauen oder den Webstuhl besorgen?
Wer vermöchte sein Vertrauen zu trennen von seinen Taten, oder seinen Glauben von seinen Beschäftigungen? Wer vermag seine Stunden vor sich auszubreiten und sprechen: "Dies ist für Gott und das für mich; dies für meine Seele und das für meinen Leib?"
All eure Stunden sind Flügel, die sich durch den Weltraum bewegen, vom Ich zum Ich.
Wer seine Frömmigkeit nur als bestes Gewand trägt, täte besser daran, nackt zu bleiben.
Der Wind und die Sonne werden keine Löcher in seine Haut reissen.

Und wer seinen Lebenswandel gemäß der Sittenlehre begrenzt, kerkert seinen Singvogel in einen Käfig.
Das schönste Lied der Freiheit dringt nicht durch Gitter und Stacheldraht.
Und wem der Gottesdienst ein Fenster ist, das man öffnet, aber auch schließt, der ist noch nicht eingekehrt in das Haus seiner Seele, dessen Fenster offen steht, von einem Morgenrot zum andren.

Euer täglich Leben ist euer Tempel und eure Religion. So oft ihr ihn betretet, bringet euer Alles mit:
Bringt den Pflug und die Schmiede und den Hammer und die Laute. Die Dinge, die ihr formet aus Notwendigkeit, oder zum Ergötzen.
Denn in der Andacht könnt ihr nicht höher steigen als eure Leistungen, noch tiefer sinken als eure Vergehen.
Und gewähret allen Mitmenschen Einlass:
Den in der Verehrung könnt ihr nicht höher fliegen als ihr Hoffen und nicht tiefer sinken als ihre Hoffnungslosigkeit.
Und so ihr Gott erkennen möchtet, werdet nicht darob zum Rätsellöser.
Blicket lieber um euch, und ihr werdet Ihr erschauen, wie Er mit euren Kindern spielt. Und blicket in den Weltraum; und ihr werdet Ihn in den Wolken wandeln sehn, wie Er sein Arme reckt im Blitze und herabwallent im Regen.
Ihr werdet Ihn erschauen, wie Er lächelt in den Blumen und dann emporsteigt und mit Seinen Händen winkt in den Bäumen.


Khalil Gibran
 
M

mar

Guest
AW: Khalil Gibran

Blicket lieber um euch, und ihr werdet Ihn erschauen,

das ist seit langem etwas, was mir morgens das herz aufgehen lässt...der prophet von gibran... danke lalezar. denn obgleich es regnet, obgleich es kalt ist oder stürmisch im herzen , immer ist das , was wir erblicken und erfühlen oder wahrnehmen die wirklichkeit und sie ist zugleich auch das wunder.
 
L

Lalezar2006

Guest
AW: Khalil Gibran

das ist seit langem etwas, was mir morgens das herz aufgehen lässt...der prophet von gibran... danke lalezar. denn obgleich es regnet, obgleich es kalt ist oder stürmisch im herzen , immer ist das , was wir erblicken und erfühlen oder wahrnehmen die wirklichkeit und sie ist zugleich auch das wunder.

Kahlil Gibran lässt mich immer wieder erstaunen, wie er in jungen Jahren die mystischen Lebensweisheit entdeckt hat, die passenden Wörter, die passende Beschreibung und diese romantische Lyrik.

Im Internet kann man kaum über seine Werke stolpern ausser einigen Zitaten, aber das Buch "Der Prophet" ist mir gestern in die Hand gefallen und wirklich es lässt das Herz aufgehen und kann einen oder mehreren einen Denkanstoss vermitteln.
 
A

Anouk

Guest
AW: Khalil Gibran

Ich mag Gibran sehr gerne. Ein echter Klassiker, ganz zeitlos. Sein Text "Von den Kindern" hat mich tief beeindruckt (fast mehr noch als "Von der Liebe"). Ein paar Zeilen daraus hab ich damals für die Geburtsanzeige meines Sohnes verwendet. Das hat allerdings nicht jeder verstanden.. seltsam, wie schnell manche Menschen sich von einfachen, klaren, leisen Wörtern irritieren lassen, wenn sie nur ihre eigene Lebenswelt sehen und zum alleinigen Maßstab der Dinge machen...
 
E

Elena

Guest
AW: Khalil Gibran

Ich mag seine Bücher auch sehr gerne. Ich habe eine Gesamtausgabe mit seinen Werken gelesen, die mich sehr beeindruckt hat.
 

Soledad

Member
AW: Khalil Gibran

GOTT

Als vor Zeiten der erste bebende Laut über meine Lippen drang, erklomm ich den heiligen Berg und sprach zu Gott.
Und ich sagte: «Herr, ich bin dein Diener. Dein geheimer Wille ist mein Gesetz, und ich folge dir immerdar.»
Aber Gott antwortete nicht. Er entschwand einem mächtigen Sturme gleich.

Und nach tausend Jahren erklomm ich den heiligen Berg, und wieder sprach ich zu Gott.
Und ich sagte: «Schöpfer, ich bin dein Geschöpf. Aus Ton hast du mich geformt, und was ich bin und habe, schuldeich dir.»
Aber Gott antwortete nicht. Er entschwand tausend eiligen Flügeln gleich.

Und nach tausend Jahren erklomm ich den heiligen Berg, und wieder sprach ich zu Gott.
Und ich sagte: «Vater, ich bin dein Sohn. Aus Liebe und Erbarmen hast du mich gezeugt, und in Liebe und Ehrerbietung will ich dein Königreich erben.»
Aber Gott antwortete nicht. Er verschwand wie Dunst in der Ferne.

Und nach tausend Jahren erklomm ich den heiligen Berg, und wieder sprach ich zu Gott.
Und ich sagte: «Mein Gott, mein Ziel und meine Erfüllung. Ich bin dein Gestern, und du bist mein Morgen. Ich bin deine Wurzel in der Erde, du bist meine Blüte am Firmament, und gemeinsam wachsen wir vor dem Antlitz der Sonne.»
Da neigte sich Gott hernieder und flüsterte süße Worte in mein Ohr. Und wie der See das Bächlein umfängt, das in ihn mündet, so umfing er mich. Und als ich in die Weiten und Täler hinabstieg, war Gott auch dort.

von Khalil Gibran aus Der Narr
 

Soledad

Member
AW: Khalil Gibran

Von der Freundschaft

Und ein Jüngling sprach: "Rede uns von der Freundschaft."

Und er antwortete also:

Dein Freund ist die Antwort auf deine Not.
Er ist das Feld, das du besäst mit Liebe und worauf du erntest mit Dankgebeten.
Und er ist dein Tisch und dein Herd.
Denn du kommst zu ihm mit deinem Hunger und du suchst bei ihm deinen Frieden.
Äußert dein Freund frei seine Meinung, so fürchte nicht das "Nein" in deiner Meinung, noch halte mit dem "Ja " zurück.
Und schweigt er, so lasse dein Herz nicht ab, auf das seine zu lauschen;
Denn in der Freundschaft werden alle Gedanken, alle Wünsche und Erwartungen geboren und geteilt, ohne Worte, und mit einer Freude, die keines Beifalles bedarf.
Scheidest du von deinem Freunde, so gräme dich nicht;
Denn was du am meisten an ihm liebst, mag in seiner Abwesenheit klarer werden, wie der Berg dem Wanderer von der Ebene aus klarer erscheint.
Und deine Freundschaft verfolge kein weiteres Ziel als ein Vertiefen des Geistes.
Denn Liebe, die etwas sucht außer der Offenbarung ihres eigenen Mysteriums, ist nicht Liebe, sondern ein ausgeworfenes Netz: und nur das Wertlose wird darin gefangen.
Das beste, was du hast, sei für deinen Freund.
Wenn er um die Ebbe deiner Flutzeiten wissen muß, so laß' ihn auch um deren Hochwasser wissen.
Denn was wäre dein Freund, so du ihn nur aufsuchtest um Stunden totzuschlagen?
Suche ihn stets nur, um Stunden mit ihm zu erleben.
Denn er ist da, um das Fehlende in dir zu füllen, nicht deine Leere.
Und zu der Süße der Freundschaft geselle sich auch das Lachen und geteilte Lust.
Denn im Tau kleiner Dinge findet das Herz seinen Morgen und seine Erquickung.

von Khalil Gibran aus Der Prophet
 
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