Linie 4 über den Bosporus

nAn-coeur Kenan

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Auf dem Weg zur Strassenbahnhaltestelle komme ich linkerhand an drei Kiosken vorbei: Top, Can und Malatya Kiosk. Seit es etwas wärmer ist, improvisieren die Inhaber wilde Strassencafés, für die Plastikstühle auf den Bürgersteig gestellt werden. Vor Can sitzen zwei ältere Männer, die auf einem Hocker zwischen sich ein Tavla-Kasten aufgeklappt haben und sich noch streiten, wer anfängt.
Bei Malatya sitzen hauptsächlich mit ihren Mobiltelefonen beschäftigte junge Männer. Ein von Leben und Alkohol gezeichneter Nachbar fragt aus einem Erdgeschossfenster gelehnt den Inhaber des Kiosks mit Balkan-Akzent: "Ulvi, hast Konzession hast?" Ulvi lacht und gibt dem Mann durch das Fenster eine kleine Kornflasche.
Am Bahnsteig steht die übliche Mischung aus New Economy Veteranen, die das nahegelegene Schanzenviertel mit seinen geplatzten Medienhauptstadtträumen abwickeln, Kopftuchträgerinnen mit kleinen Kindern, wobei der Anteil an arabischsprechenden in den letzten zwei Jahren zugenommen hat, Junkies, Obdachlosen und heute einer Reihe pubertierender Mädchen, die zu einem nahegelegenen Fernsehstudio wollen, um dort auf die Ankunft ihrer Idole zu warten.

In der Bahn ist es sehr warm. Der immer noch vorhandene Plastikgeruch der Wagenausstattung kann Schweiss, Gewürze und Urin kaum übertünchen. Ich setze mich einer alten Frau gegenüber, die das lokale Boulevardblatt aufgeschlagen ganz nah an ihr Gesicht hält. So ist nahezu ihr ganzer Öberkörper verdeckt und nur ihre Finger und ihre in einer karierten Golfhose steckenden Beine sind zu sehen.
Die Schlagzeilen verkünden, dass eine Fernsehmoderatorin dem Feminismus die Schuld an allem gibt und das WM Turnier "uns" allen gehöre.
Eine persisch aussehende Frau mittleren Alters mit ihrem Sohn steigt ein und setzt sich auf die Bank neben den Türen. Ich schätze ihren Sohn auf 15 Jahre, denn er ist 1 Meter 85 gross, hat Akne und leichten Bartwuchs. Seiner leicht gebeugten Haltung, seinem Gesichtsausdruck mit der hängenden Unterlippe und der ständigen ängstlichen Vergewisserung nach, dass seine Mutter noch neben ihm sitzt, scheint er geistig zurückgeblieben.
Den beiden gegenüber sitzt ein Mann, dessen pubertäre Kleidung, bestehend aus einer Kappe mit dem Aufdruck "Michael Schumacher Champion", einem Eishockey Trikot der örtlichen Mannschaft und lächerlich weiten Jeans, nicht zu seinem verlebten Gesicht und seinen schmutzigen Händen passt. Der Junge, der sich nun wohler fühlt, weil er nach einer kurzen Diskussion die Hande seiner Mutter halten darf, beobachtet ihn und beginnt ihm Grimassen zu schneiden. Der Mann mit der Kappe reagiert, indem er sich vorbeugt, seinerseits eine Grimasse zieht, die bedrohlich wirken soll. Als der Junge trotz der leisen Ermahnungen seiner Mutter nun auch mit Gesten den Bekappten provoziert, presst dieser ein "Bekloppt oder wat?" hervor. Nun tritt ein grosser dicker Mann in Arbeitskleidung hinzu. Mittlerweile bin ich davon überzeugt, dass diese Prachtkerle mit ihren langen Haaren und gepflegten Schnurbärten nur in Köln existieren. Er weist den Bekappten mit einem "Du triffst den Nagel auf'n Kopp - und jetzt halt' die Klappe" zurecht und nickt der Mutter wohlwollend zu. Der Junge freut sich sichtlich über den gewonnenen Freiraum und streckt nun selig glucksend seine Mittelfinger in die Luft und summt ein Spottlied vor sich hin. Seine Mutter versucht ihn nur noch halbherzig davon abzuhalten. Sie streicht ihrem Sohn zärtlich über das Haar.
Die Bahn überquert die asiatische Seite verlassend nun den Fluss. An der ersten Haltestelle auf der linken Rheinseite wechselt das Ensemble aus Arabern, Türken, Aussiedlern, Obdachlosen und Omas. Jetzt bin ich umgeben von Schicken, Studenten und Schwulen.
Zwei enge Freundinnen, die man an ihrer zwar nicht identischen, aber sehr ähnlichen Kleidung einschliesslich einem in die Achsel gepressten Handtäschchen, sowie gleichen Farbsträhnchen im Haar erkennt, stehen im Mittelgang. Sie haben beide einen hautfarbenen Schutzverband über dem Nasenrücken. Wie ich aus aufgeregten Gesprächen mittels ihrer pinken Mobiltelefone erfahre, sind sie auf dem Weg in eine Privatklinik, um das Resultat einer Nasenoperation präsentiert zu bekommen. Sie reden gleichzeitig und korrigieren mit den gleichen Bewegungen den Sitz von Haaren und Kleidern.
Ich bin etwas neidisch und wäre auch gern jemandes Busenfreundin.

An einer komplett orange gekachelten Haltestelle steige ich aus. An die Wand gelehnt steht ein Mann, der so dunkler Hautfarbe ist, dass ich sein Gesicht nicht erkennen kann. Neben ihm, in einer an die Wand geschraubten orangen Sitzschale sitzt ein kleines Mädchen, deren sechs dicke geflochtene Zöpfe wie Spinnenbeine aussehen. Trotz der milden Temperaturen trägt sie einen grasgrünen Stepp-Overall, sodass ich kurz meine Augen schliesse, da der Farbkontrast des Grün vor den orangen Kacheln ihre Konturen zum Schwingen bringt. Als der Mann sich umwendet, um das kleine Mädchen auf den Arm zu nehmen, sehe ich, dass etwas in grossen fluoreszierenden Buchstaben auf dem Rücken seines dunkelblauen Blousons steht:
SICHERHEIT

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PS: Vom 11. bis zum 14.5. finden in Bochum die 5. deutsch-türkischen Theatertage statt. Die Veranstalter haben wieder Theater, Kabarett und Musik aus Deutschland und der Türkei zu einem interessanten Programm zusammengestellt. GÖKSEL ist dieses Jahr der Alternativ Star aus der Türkei.
http://www.theater-getuerkt.de/programm.html

PPS: Fatih Cevikkollu hat den Jurypreis des Prix Pantheon 2006 gewonnen, Murat Topal wird wie er um den Piblikumspreiskonkurrieren. Jeder Fernsehzuschauer kann hierzu am 12.5. und 23.5. auf 3sat sein Votum abgeben. nAn-coeur.de wünscht unseren Homies viel Erfolg...
www.murattopal.de
www.nomagandaclub.de
 
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