Paul Auster: Mr. Vertigo

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Anouk

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Auf einem Jahrmarkt in Kansas spaziert im Jahre 1927 der zwölfjährige Waisenjunge Walter Clairborne Rawley durch die Lüfte. Es ist der Beginn einer wundersamen Karriere.
Doch bald geraten Walt - frech, scharfzüngig und nie um einen Trick verlegen - und sein Lehrmeister Yehudi ins Visier der Schurken und Gangster Amerikas.

Paul Austers abenteuerlicher Roman ist ein Gleichnis von ökonomischem Aufstieg und moralischem Verfall, ein Spiel mit den Mythen eines Landes, das sich noch unschuldig wähnt, doch längst durch Gier und Übermut gefährdet ist.

Hier ein kurzer Textauszug:

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Mit zwölf Jahren bin ich zum erstenmal übers Wasser gegangen. Das hat mir der Schwarzgekleidete beigebracht, und ich will nicht so tun, als hätte ich diesen Trick über Nacht gelernt. Als Meister Yehudi mich auflas, war ich neun, ein Waisenjunge, der auf den Straßen von Saint Louis betteln ging, und bevor er mich öffentlich auftreten ließ, hat er ganze drei Jahre mit mir gearbeitet.

Das war 1927, das Jahr von Babe Ruth und Charles Lindbergh, das Jahr, in dem sich endgültig die Nacht über die Welt gesenkt hat. Ich habe damit weitergemacht bis ein paar Tage vor dem Schwarzen Freitag, und was ich geleistet habe, war phantastischer als alles, was sich diese beiden Herrschaften je hätten träumen lassen. Ich habe getan, was kein Amerikaner vor mir geschafft hat und seitdem auch niemand mehr.

Auf mich ist Meister Yehudi verfallen, weil ich der kleinste war, der schmutzigste, der elendste. "Du bist nicht besser als ein Tier", meinte er, "ein menschliches Nichts." Das war der erste Satz, den er zu mir sagte, und seit dem Abend sind achtundsechzig Jahre vergangen, aber die Worte aus dem Mund des Meisters klingen mir noch heute im Ohr. "Du bist nicht besser als ein Tier. Wenn du bleibst, wo du bist, wirst du das Ende des Winters nicht erleben. Wenn du aber mit mir kommst, bringe ich dir das Fliegen bei."

"Kein Mensch kann fliegen, Mister", sagte ich. "Die Vögel, die machen das. Seh ich vielleicht wie 'n Vogel aus?"

"Du weißt nichts", sagte Meister Yehudi. "Du weißt nichts, denn du bist nichts. Wenn ich dir bis zu deinem dreizehnten Geburtstag nicht das Fliegen beigebracht habe, kannst du mir mit einem Beil den Kopf abhacken."

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Die Berliner BZ urteilte darüber: "Die Story um die außergewöhnliche Freundschaft des abgeklärten Juden Yehudi mit dem Straßenjungen Walt erinnert an die großen Romane des 19. Jahrhunderts: an einen Mark Twain, Robert Louis Stevenson oder Charles Dickens."

Stimmt. Und nebenbei eines meiner Lieblingsbücher. :)



Paul Auster, "Mr. Vertigo"
rororo TB, Rowohlt Verlag
Reinbek/Hamburg 1996
ISBN 3-499-22152-7
EUR 8,90

 
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