Probleme der Aufarbeitung von ethnonationaler Geschichtsschreibung

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von Efkan Barin
Der kommende 24. April ist der Tag an dem insbesondere Armenien und die Diaspora an den „Ittihatistischen Völkermord“ an den Armeniern des Osmanischen Reiches trauern und gedenken. Jener Tag des Jahres 1915 wird als Beginn dieser Tragödie datiert, an dem die politische, intellektuelle und Handelselite in Istanbul festgenommen und anschließend ins Landesinnere verschleppt und ermordet wurde; so die armenische Lesart. Tatsächlich wurden binnen einem Monat 2.345 Armenier verhaftet; so auch die türkische Lesart. „Niemand anders hat die furchtbare Vernichtung des armenischen Volkes herbeigeführt, als die Politik der christlichen Großmächte selbst.“ Diese Worte stammen von dem deutschen evangelischen Pfarrer Johannes Lepsius, der sein Leben der „armenischen Sache“ widmete und stellte schon damals in den Vordergrund, dass es sich nicht wie so oft irrtümlich dargestellt um eine „Erbfeindschaft“ zwischen Türken und Armeniern gehandelt habe. Gerade diese Eigenart macht dieses traurige Ereignis zur eigentlichen Tragödie, in der „das treue Volk“ wie osmanischerseits bezeichnet unter die Räder intriger Politik kam. Daher ist es umso wichtiger die historische „Black-Box“ der Zeit richtig zu erfassen. Und leider liegen schon hier die Schwierigkeiten begraben. Wenn Geschichte der Mystifizierung von Nationalgeschichtsschreibungen dient, dann erhöhen sich die Hürden der Dechiffrierung von offiziellen Geschichtsschreibungen und ihrer Aufarbeitungen.
Medial gesehen verlief das letzte Jahr sehr ruhig- Um nicht zu sagen verdächtig ruhig! Was nicht heißt, dass darüber geschwiegen wird, im Gegenteil, das Tabu ist gebrochen in der Türkei. Die Forschungen haben sich durch Konferenzen und Publikationen zur dieser Thematik überproportional in all ihren Facetten vermehrt. Diese wissenschaftlichen Erkenntnisse werden nun allmählich durch die Veröffentlichungen in der breiten Öffentlichkeit mehr und mehr publik gemacht. Zwar gilt in der Türkei staatlicherseits nach wie vor eine strikte Ablehnung des Völkermordvorwurfs, jedoch wird deutlich gemacht, dass auch die Regierung interessiert ist aus Raison der EUropäischen Integration mehr Licht um das Jahr 1915 zu bringen. In der Völkermordsdebatte kristallisieren sich drei wesentliche Streitpunkte heraus. Erster Punkt beschäftigt sich um die Frage in wieweit die Deportation der osmanischen Armenier militär-strategisch notwendig war und sich rechtfertigen lässt. Der zweite Punkt erfasst sich mit der Erhebung von genauen Bevölkerung-, Opfer-, und Flüchtlingszahlen. Und zum Dritten und markantesten die Frage nach ihrer sozio-historischen Klassifikation, d.h. der Anerkennung eines Genozids oder nicht. Doch warum ist es erst so spät möglich sich kollektiv mit dieser Tragödie zu befassen?
Die ethnonationale Geschichtsschreibung der Türkei galt Jahrzehnte lang als die eigentliche schwierig Hürde um sie zu erforschen. Denn sich mit der Völkermordthese zu befassen, bedeutet für die Türkei Geschichte aufzuarbeiten und gegebenenfalls die offizielle Geschichtsschreibung zu entmystifizieren. Dies beinhaltet jedoch auch sich mit der polyethnischen Bevölkerungsstruktur des Landes befassen zu müssen. So spiegelte sich noch bis vor kurzem der Grundsatz der Verfassung, dass weder Staat noch Nation teilbar sind, auch in den jeweiligen türkischen Forschungen wieder. Schließlich brachten die begangenen Massaker nicht nur auf armenischer Seite Opferzahlen sondern auch auf muslimischer Seite. Ethnisch betrachtet also auch um Türken, Kurden, Araber, Aleviten, etc... Daher wurde stets, wenn es um muslimische Opfer ging monistisch immer von Türken bzw. Muslimen gesprochen. Einem Land, das jahrelang überhaupt auch die Existenz -Christen und Juden abgesehen- von Minderheiten leugnete, brächte eine distanzierte und differenzierte Geschichtsaufarbeitung einen bitteren Beigeschmack mit, da folglich indirekt die nationale Identität, die brisanteste „Gretchen Frage“ der Türkei, hinterfragt worden wäre. Die Gleichsetzung von Muslimen mit Türken transformiert allerdings einen konfessionellen Konflikt in einen ethnischen oder umgekehrt. Auf lange Zeit betrachtet führt dies folglich nicht nur zu innergesellschaftlichen Brüchen sondern auch zu bilateralen Störfaktoren zwischen Armenien und der Türkei, die noch bis heute hinhalten.
In der gegenwärtigen wissenschaftlichen Forschung sind drei wesentliche Grundthesen zu verzeichnen, nämlich die des Völkermords an den Armeniern, die Antithese das aufgrund der Opferzahlen kein Genozid an den Armeniern sondern an den Türken bzw. Muslimen begannen worden ist, sowie die Synthese des gegenseitigen Massakers. Die Gegenthese, dass nicht Armenier sondern Türken dem Völkermord zum Opfer gefallen sind, basiert eher auf populärwissenschaftlichen Publikationen und Forschungen. Entscheidend ist der Fortschritt der Kenntnis über die erste und dritte These. Das grundsätzliche Problem stellen die Opferzahlen dar. Den 200.000 bis 2,5 Mio. umgekommenen Armenier stehen 500.000 bis 2,5 Mio. Muslime gegenüber. Leider wird viel zu viel mit den Zahlen gehandhabt, eine menschliche Tragödie wird versucht mit den Mitteln von „numerischen Buchungssätzen“ zu beweisen bzw. zu widerlegen. Oder es wird gestritten, ob nun der Fall für deren Auswertung den Juristen, den Historikern oder den Politikern zu übertragen sei, wobei das Wesentliche, nämlich menschliches Leid an den Rand der Wahrnehmung gedrängt wird.
Sicherlich gibt es durchaus Zahlen und Fakten aus Kirchenbüchern und den statistischen Volkszählungen, die Aufschluss geben, jedoch liegt in dieser Auswertung das Problem der ethnonationalen Geschichtsschreibung zu Grunde. Der Terminus Technicus „Ermeni milleti“, d.h. armenisches Volk (im Sinne einer konfessionellen Gemeinde) gibt dem heutigen Leser nicht das wieder, was früher damit gemeint war. Das osmanische Millet-System gab den jeweiligen Konfessionen, welche einen nationalen Charakter besaßen, wie Griechen, Armenier und Juden, kulturell-konfessionelle Autonomien. Die Bestimmung wie viele Armenier tatsächlich im Osmanischen Reich lebten, hängt letztlich von dieser Definition ab. Der armenische Patriarch war religiöses Oberhaupt aller ihm Unterstehenden, also folglich nicht nur Armenier, d.h. Anhänger der armenisch apostolischen Kirche, sondern auch anderen christlichen Minderheiten wie Nestorianern und Jakobiten. Aber zu ihnen gehörten auch -und das ist wichtig- nicht die monotheistischen und „heidnischen“ Bevölkerungsgruppen, dazu zählen, Yeziden, Roma (Zigeuner) und soweit es der interpretatorische Spielraum es zulässt auch Aleviten. Aleviten wurden im Osmanischen Reich nicht als Muslime anerkannt und gehörten demnach nicht der islamischen Gemeinde an, zudem tauchen in vielen armenischen Kirchenbüchern türkische Namen auf, die auf alevitische Wurzeln hinweisen. Aus dieser Perspektive würde die Forschung einen neuen Blickwinkel gewinnen, da viele muslimische Opfer möglicherweise aus osmanischer Sicht gar nicht zu den muslimischen Opfern sondern zu den armenischen zählen, da insbesondere muslimische Minderheiten in den armenisch besiedelten Regionen wohnten. Demnach wäre in die Völkermordsdebatte möglicherweise sogar ein türkisch-türkisches Massaker hinzuzufügen und eine innertürkische Tragödie zusätzlich zu betonen. Daher sind in diesen Fällen genau zu betrachten mit welcher „Brille“ Opferzahlen genannt und wie Bevölkerungszahlen bewertet werden.
Die auffällige Ruhe seit einem Jahr um die Völkermorddiskussion hat zwei mögliche, sich überschneidende Gründe. Einerseits ist die bisherige staatliche Forschung auf die akademische wissenschaftliche Forschung übergegangen, so dass statt staatlicher Propaganda wissenschaftliche Erkenntnis gewonnen wird. Die neuen Erkenntnisse brauchen Zeit um ausgewertet und interpretiert zu werden, um neuen „Wirbel“ in die Thematik zu bringen. Allerdings bleiben die armenischen staatlichen Archive nach wie vor verschlossen, nachdem auch Russland seine Archive für die Forschung öffnen ließ. Damit wären nahezu alle Archive, die die Völkermordsthematik angehen außer in Erivan offen.
Andererseits ist offenbar eine neue Ära von Politik in die Wege geleitet worden, welche versucht, durch bilaterale Beziehungen zwischen Armenien und der Türkei das bestehende Grenzembargo zu lockern oder sogar aufzuheben, um „normale“ zwischenstaatliche Beziehungen führen zu können. Die feierliche Eröffnung im März der nun restaurierten ehemaligen armenischen Katholikatskirche auf der Insel Ahtamar (heute Akdamar) im Van-See in der Türkei ist nicht nur von symbolischer Natur sondern auch eine geographische Annäherung hin zur armenisch-türkischen Grenze. Konrad Adenauer sagte seiner Zeit: „Wir leben alle unter dem gleichen Himmel, aber wir haben nicht alle den gleichen Horizont“. Eine willensbereite Öffnung der Grenzen und ein dadurch erst möglicher Völkerverkehr führen vielleicht irgendwann dazu, die Vergangenheit hinter sich lassend, den Berg Ararat gemeinsam zu erklimmen und miteinander in eine Zukunft zu blicken.
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