Protest in Italien: Kreuzzug gegen Europa

Omitier

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Abwegig, gravierend, skandalös: Italienische Politiker wettern gegen den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Nach dessen Urteil gegen Kruzifixe im Klassenzimmer verbünden sich Staat und Kirche - und starten zum Kampf ums Kreuz.

Tarcisio Bertone sieht düstere Zeiten auf Italien zukommen. "Dieses Europa des dritten Jahrtausends nimmt uns die wertvollsten Symbole weg und lässt uns nur noch die Kürbisse des Halloween-Festes", wettert der Kardinalstaatssekretär, immerhin ranghöchster Vertreter im Vatikan unter Papst Benedikt XVI. "Müssen jetzt alle Kreuze weggeräumt werden, auch von den Straßen? Und was ist mit den Kunstwerken? Ich frage mich, ob das alles vernünftig ist", fragt der Kirchenmann empört.

Was Bertone erregt, ist das jüngste Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte. Der hatte am Dienstag entschieden: Ein christliches Kreuz im Klassenzimmer einer Staatsschule verletzt die Religionsfreiheit der Schüler, nimmt zudem Eltern die Freiheit, ihre Kinder nach ihren philosophischen Überzeugungen zu erziehen, und ist nicht mit der Europäischen Menschenrechtskonvention vereinbar.

Seither tobt Italien. Kirche und Staat wittern eine Frontalattacke auf das katholische Brauchtum. Den Fall aufgebracht hatte eine finnisch-italienische Familie. Die atheistischen Eltern mochten nicht einsehen, warum ihre beiden Söhne unter dem Kreuz lernen sollten, wo doch auch in Italien wenigstens auf dem Papier die staatliche Schule nicht-konfessionell ist. "Gleich drei Kreuze" hätten bei ihm in der Klasse an der Wand gehangen, berichtet einer der Söhne, "wohin man sich auch drehte, man fühlte sich beobachtet".

Durch alle Instanzen hatten sich die Eltern geklagt, von der Schulkonferenz ihres Gymnasiums bis hin zum Kassationshof, dem obersten Gericht des Landes - ohne Erfolg. In ihren Begründungen der Klageabweisung erklärten die italienischen Richter das christliche Kreuz vielmehr zum Symbol von "Freiheit, Gleichheit und Toleranz".

"Koordinierte Trennung von Kirche und Staat" in Italien

Solange die Sache in Italien verhandelt wurde, genoss die katholische Kirche Heimvorteil. Nicht umsonst unterscheidet Papst Benedikt XVI. "überzogenen Laizismus" von "gesunder Laizität"; diese findet er in Italien. Der französische Kurienkardinal Jean-Louis Tauran sprach vor einigen Jahren davon, dass in dem Land eine "koordinierte Trennung von Kirche und Staat" existiere.

Entsprechend gering waren die Erfolgsaussichten für die Kreuzkritiker bisher. Zu ihnen gehört der Richter Luigi Tosti. Er wollte es nicht hinnehmen, dass er bei der Arbeit das Kreuz im Rücken hatte - und weigerte sich, Sitzungen durchzuführen, solange das katholische Symbol an der Wand hing.

Im Jahr 2005 verurteilte ihn ein Gericht zu sieben Monaten Haft auf Bewährung wegen "Unterbrechung einer öffentlichen Dienstleistung" und suspendierte ihn ein Jahr vom Dienst. Erst im Jahr 2009 sprach der Kassationsgerichtshof ihn frei. Die Rechtsgrundlage für Kreuze in den Gerichtssälen - eine Anordnung des Justizministers von 1926, aus der Mussolini-Zeit also - sei schlicht illegal, befand das Gericht. Die Kreuze in den Gerichtssälen Italiens hängen weiterhin an ihrem Platz.

Pech hatte auch der muslimische Funktionär Adel Smith. Er erstritt 2003 für seine Kinder im Abruzzen-Dorf Ofena das Recht, einen kommunalen Kindergarten ohne Kreuz zu besuchen. Doch kurzerhand annullierte der Präsident des Gerichts von L'Aquila den Beschluss. Und als der Gymnasiallehrer Franco Coppoli in seinem Klassenraum das Kreuz abhängte, wurde er im Februar 2009 von der Schulbehörde für einen Monat vom Dienst suspendiert.

Wird jetzt die Straßburger Entscheidung jetzt die Wende im Kampf ums Kruzifix bringen? Wohl kaum, denn nach dem Urteil formiert sich Widerstand an höchster Stelle.

Von Silvio Berlusconi über Außenminister Franco Frattini bis hin zu Bildungsministerin Mariastella Gelmini haben so gut wie alle Kabinettsmitglieder das Urteil als "abwegig", "gravierend", "skandalös" kritisiert und sich nach Kräften über den "ideologiebefrachteten Gerichtshof" erregt.

Landesweiter Wettbewerb, es den Richtern zu zeigen

Auch Oppositionsführer Pierluigi Bersani von der gemäßigt linken Demokratischen Partei stellte sich offen an die Seite der Kirche und erklärte, "dass in solch einer empfindlichen Frage der gesunde Menschenverstand zum Opfer des Rechts geworden ist. Eine Tradition wie die des Kreuzes kann für niemanden eine Beleidigung darstellen".

Und so dürfen sich der Vatikan und die italienische Bischofskonferenz wenigstens als moralische Sieger fühlen. Und nicht nur das: Statt mit weniger werden die Italiener - ganz anders als von Kardinal Bertone befürchtet - jetzt erst einmal mit mehr Kreuzen gesegnet werden.

Landesweit hat ein wahrer Wettbewerb eingesetzt, um es den Straßburger Richtern zu zeigen. Im lombardischen Busto Arsizio beschränkt sich die Kommune noch darauf, die EU-Flaggen an den Amtsgebäuden auf Halbmast zu setzen. Der Bürgermeister von San Remo dagegen hat gleich ein zwei Meter hohes Kruzifix im Rathaus aufstellen lassen. Ein großes Kruzifix prangt jetzt auch auf der Fassade des Bellini-Theaters von Catania. Diverse Gemeinden haben einen Schwung neuer Kreuze für ihre Schulen geordert.

Die Linie gab Verteidigungsminister Ignazio La Russa in einer TV-Diskussion vor. "Alle Kreuze bleiben hängen", schrie er, "sollen sie (die Kreuzgegner - d. Red.) doch sterben, samt diesen internationalen Schein-Institutionen!"

http://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/0,1518,659474,00.html
 
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