Reisebericht Sozialarbeiterprogramm Türkei -Teil 1

Annie

Active Member
Günyadin!

Im Mai hatte ich die tolle Gelegenheit, über eine internationale Sozialarbeiter-Organisation auf einem Programm in der Türkei teilzunehmen. Ich dachte mir, ich stelle hier einfach mal meinen Erfahrungsreport ein. Vielleicht interessiert es ja den Ein oder die Andere :wink:

CIF-Programm in der Türkei vom 28.04. bis 18.05.2012

Meine Begeisterung für die Türkei…

2006 bereiste ich zum ersten Mal die Türkei. Inspiriert wurde ich von meiner älteren Schwester, die seit 20 Jahren jährlich in die Türkei reist und mir immer wieder von diesem wunderschönen Land vorgeschwärmt hatte. Auch ich war sofort von Land und Leuten begeistert und konnte mich dem Reiz nicht entziehen.
Seit nunmehr sechs Jahren war ich an verschiedenen Orten als Touristin in der Türkei. 2010 verbrachte ich schließlich 10 Wochen in Izmir, um an der dortigen Sprachschule in einem Intensivkurs meine Türkischkenntnisse zu verbessern.

Mein Interesse an der Türkei mit ihrer besonderen Geschichte und Kultur führte auch dazu, dass ich zunehmend in meiner Arbeit als Bewährungshelferin versuchte, meine Sprachkenntnisse und meine Erfahrungen und Erlebnisse meiner Türkeireisen einzubringen. Zusammen mit KollegInnen erarbeitete ich ein Gruppenangebot für türkische Klienten, das den Umgang mit ihrem Leben zwischen zwei Kulturen zum Hauptthema hat. Auch gestalten wir Informationsabende über die Bewährungshilfe für Eltern mit Migrationshintergrund.

Immer wieder versuchte ich, über das Internet Informationen über die Soziale Arbeit in der Türkei zu finden, was jedoch meinen Wissensdurst nicht stillen konnte. Zufällig stieß ich dann auf die Seite von CIF Deutschland und wusste sofort: Das will ich machen! Nach einem sehr netten Kontakt mit der CIF-Vorsitzenden Inge Bierbrauer bekam ich eine Zusage für das Programm 2012 und freute mich riesig!

Es geht für 2 Wochen nach Ankara…
Aufgrund günstigerer Flugzeiten konnte ich bereits einen Tag vor Programmbeginn anreisen und wurde in Ankara von meiner Gastfamilie Melis& Mehmet abgeholt. Melis arbeitet als Psychologin beim Familiengericht in Ankara. Bereits in unseren Mailkontakten vor meiner Anreise wurde deutlich, dass wir auf einer Wellenlänge liegen und so fühlte ich mich bereits spätestens nach unserem gemeinsamen Hamam-Besuch am Folgetag meiner Anreise sehr wohl und unglaublich gastfreundlich aufgenommen.
Am Sonntag 29.04. trafen wir uns schließlich mit den anderen zwei Teilnehmerinnen, deren Gastfamilien und anderen CIF-Mitgliedern aus Ankara etwas außerhalb zu einem gemütlichen Frühstück im Freien.
Die Teilnehmerinnengruppe bestand aus Ruth aus Schottland, Marjatta aus Finnland und mir. Leider erhielt Babasaheb aus Indien kurzfristig kein Visa für die Einreise und konnte deshalb am Programm nicht teilnehmen, was wir alle sehr bedauert haben.

Nach einer sehr warmherzigen Begrüßung durch Mustafa , CIF-Vorsitzender Turkey, erhielten wir von ihm und Rabia eine erste Einführung in die Soziale Arbeit in der Türkei. Interessant war für mich zu hören, dass Sozialarbeit erst in den 80-er Jahren zunehmend etabliert wurde und sich damals noch überwiegend auf die Arbeit mit Kindern und älteren Menschen konzentrierte. Erst seit 1988 fand eine Ausweitung auf andere Bereiche der Sozialen Arbeit statt.
Hintergrund der noch sehr geringen Anzahl an ausgebildeten Sozialarbeitern ist auch, dass es lange Zeit nur eine einzige Universität im Land gab (Hacetepe Universität Ankara), die Sozialarbeiter ausbildete. Erst seit 2003 wurden neue Departements an verschiedenen Universitäten gegründet. Nach wie vor mangelt es jedoch an Dozenten mit Doktorabschluss für die Ausbildung. Ebenso fehlen einheitliche Qualitätsstandards und Ausbildungsinhalte. Derzeit gibt es nur ca. 6000 Sozialarbeiter in der ganzen Türkei. Der Bedarf an weiteren Fachkräften ist daher riesig.

Mustafa berichtete uns, dass im Juni 2011 eine umfassende Reform des Sozialsystems der Türkei erfolgte, deren Veränderungen im Einzelnen noch nicht gänzlich strukturiert und umgesetzt wurden.
Im Rahmen dieser Reform wurde ein neues Ministerium für Soziales und Familie gegründet. Das Ministerium ist zuständig für den Aufbau von sozialen Diensten in den Bereichen Kinderschutz, ältere und behinderte Menschen, Frauen, Sozialhilfe und Opfer von Terror. Vor allem für den Schutz von Frauen, die Opfer von (häuslicher) Gewalt geworden sind, soll das Ministerium, die Umsetzung der Opferschutzrichtlinien durchsetzen.

Soziale Dienste in Ankara Teil 1…

In den folgenden 2 Wochen in Ankara besuchten wir insgesamt 16 verschiedene Einrichtungen. Jeder Besuch war gefüllt mit unzähligen Informationen, teilweise auch Rundgängen in den Einrichtungen. Stets war ein CIF-Mitglied als Übersetzungshilfe mit dabei. Insgesamt kann ich sagen, dass jeder Besuch für mich sehr eindrücklich und informativ war. Es gab nicht einen Besuch, bei dem ich mich gelangweilt fühlte. Selbst wenn das gezeigte Arbeitsfeld mit meiner Arbeit als Bewährungshelferin nichts zu tun hatte, fanden die Ausführungen der Mitarbeiter mein Interesse.
Alle besuchten Einrichtungen im Detail vorzustellen, würde den Rahmen sprengen, weshalb ich mich auf einige Einrichtungen beschränken möchte:

Ministerium für Soziales und Familie:
Bereits am ersten Programmtag hatten wir die Möglichkeit, mit einem Berater im Ministerium ein sehr ausführliches Gespräch zu führen. Hier muss sicherlich von einer besonderen Gelegenheit gesprochen werden. Dass CIF Turkey es geschafft hatte, uns einen Termin im Ministerium zu vermitteln, hat uns sehr beeindruckt.
Hr. Kars informierte uns darüber, dass mit der Neustrukturierung des Ministeriums 2011 (s. oben) der Bezug zur Praxis im sozialen Bereich stärker betont wurde. Dazu wurde in allen 81 Provinzen der Türkei hierfür jeweils ein zuständiger Direktor eingesetzt.

Im Bereich „Kinderschutz“ ist oberstes Ziel, dass gefährdete Kinder in ihren Familien verbleiben können. Früher wurden Kinder oftmals rein aus finanzieller Not heraus in staatliche Einrichtungen gegeben. Nun erhalten ca. 30 000 Kinder in ihren Familien finanzielle Hilfen und Unterstützung durch Sozialarbeiter vor Ort.
Für die staatlichen Kinderheime ist geplant, große Einrichtungen zu schließen und stattdessen kleinere, gemeinwesenorientierte Einrichtungen zu schaffen. Ca. 14000 Kinder sind derzeit in der Türkei stationär untergebracht. Pflegefamilien sind noch nicht weit verbreitet, nur ca. 1500 Kinder leben in Pflegefamilien.
Auf Nachfrage teilte Hr. Kars mit, dass das Ministerium für die Weiterentwicklung der Organisation der Sozialen Arbeit in der Türkei mit Holland und England kooperiert habe. Die Hinzuziehung von Fachkräften aus dem Ausland in die einzelnen Einrichtungen sei jedoch nicht angedacht. Die geplanten Neuerungen im sozialen Sektor sollten bis 2023 zum 100. Geburtstag der Republik Türkei implementiert sein.

Als eine sehr professionelle Einrichtung haben wir Teilnehmerinnen die Familienberatungsstelle in Ankara erlebt. Selva und Ural arbeiten dort als Psychologen sowohl mit Einzelpersonen als auch mit Familien. Die Mitarbeiter wurden an der Universität als Familientherapeuten ausgebildet (100 Stunden Theorie+ 50 Stunden Supervision) und arbeiten nach dem systemtherapeutischen Ansatz.
Ihre Beratungstätigkeit dauert in der Regel 24 Sitzungen, wobei eine Sitzung pro Woche stattfindet. Schwerpunkt ihrer Beratungstätigkeit ist die Gestaltung von Beziehungen innerhalb von Familien. Sie arbeiten mit den Familien zu unterschiedlichen Themen wie Kommunikation, Grenzen, Rollen, Konfliktlösung u.a. Ihr Angebot ist kostenfrei, die Wartezeit beträgt lediglich 2-3 Wochen.

Unser Besuch des Notfall-Rufnummer-Zentrums zeigte uns eine sehr neuartige, mit moderner Technik ausgestattete Einrichtung, die 2005 gegründet wurde. Von Not und Gewalt betroffene Menschen aus der ganzen Türkei können hier anrufen. Die Hotline ist 7 Tage die Woche rund um die Uhr besetzt.
Zunächst nehmen Nicht-Fachkräfte die Anrufe im Callcenter entgegen. Besteht offensichtlicher Bedarf werden die Anrufer an die Fachkräfte weitergeleitet (8 Sozialarbeiter, 2 Psychologen). Pro Tag gehen ca. 1500 Anrufe ein, davon werden 400 Anrufe von den Fachkräften bearbeitet. Bei Bedarf findet eine Kooperation mit der Polizei oder Sozialdiensten vor Ort statt.

Kappadokien- Ein Traum wird wahr…
Am Wochenende hatten Marjatta und ich die Möglichkeit, einen Trip nach Kappadokien zu unternehmen. Damit ging für mich ein lang gehegter Traum in Erfüllung. Elvan, CIF-Mitglied und in Nevsehir/ Kappadokien als Sozialarbeiter tätig, erwies sich als sehr fürsorglicher Tourguide und führte uns zusammen mit seinem syrischen Freund Ahmed zu wunderschönen Plätzen in den Weiten Kappadokiens.
An zwei Abenden besuchten Marjatta und ich eine kleine, ausschließlich von Einheimischen frequentierte Bar, in der eine 3 Mann-Band wunderschöne türkische Volksmusik spielte. Nachdem ich mich am ersten Abend aus einem Zufall heraus als der türkischen Sprache etwas mächtig geoutet hatte, wurden wir in typischer türkischer Gastfreundlichkeit an den vordersten Tisch gebeten und ich durfte mir mein Lieblingslied wünschen, das von allen Anwesenden lauthals mitgesungen wurde. Wie schnell kann man doch in der Türkei nette Kontakte knüpfen!

Soziale Dienste in Ankara Teil 2…
In der zweiten Woche besuchten wir unter anderem das Kinderschutz-Zentrum im Gazi-Krankenhaus. 2 Sozialarbeiterinnen arbeiten mit missbrauchten und vernachlässigten Kindern, die ambulant oder stationär im Krankenhaus behandelt werden. Nach einer Ersterhebung mit den Eltern und dem Kind legen sie jeweils die weitere Vorgehensweise fest. Bspw. vermitteln sie medizinische und psychiatrische Hilfen. Dazu beraten sie sich in einem interdisziplinären Team mit Kinderärzten, Rechtsanwälten und anderen Professionen.
 
Top