Sozialarbeiter-Programm Teil 2

Annie

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Die Sozialarbeiterinnen bearbeiten ca. 100 Fälle pro Jahr mit nachgewiesenem Missbrauch. Sie sind ausgebildete Familienberaterinnen und führen mehrere Gespräche mit den betroffenen Familien. Für die therapeutische Aufarbeitung vermitteln sie die Kinder an Kinderpsychologen. Spezielle Behandlungszentren für sexuell missbrauchte Kinder gibt es in der Türkei leider noch nicht.

Besonders interessant in dieser Woche war für mich natürlich der Besuch des Justizministeriums. Wir hatten die Möglichkeit mit Fr. Dr. Nilay zu sprechen. Sie ist zuständig für alle Einrichtungen der Bewährungshilfe.
Nilay hat uns berichtet, dass die Bewährungshilfe in der Türkei erst 2005 gegründet wurde. Unterstützung erhielt die Türkei dabei von Fachkräften der Bewährungshilfe aus England. Das Ministerium steuert 133 Bewährungshilfe-Zentren in der ganzen Türkei. Lokal zuständig ist der jeweilige Staatsanwalt. Pro Zentrum gibt es einen Direktor und 4 Fachkräfte, die sich aus Lehrern, Psychologen, Soziologen und Sozialarbeitern zusammensetzen.

Inhaltlich wird ein Bewährungshilfeplan erstellt, der verschiedene Auflagen und Weisungen umfassen kann (z.B. Schule fortführen; Beratungsangebote nutzen). Diese werden vom Gericht festgelegt. Weiterführende Auflagen können von der Bewährungshilfe vorgeschlagen werden. Interessant war für mich, dass offensichtlich nicht alle Auflagen verbindlich sind und der Verurteilte ein Anrecht darauf hat, dass in bestimmten Fällen die Auflagen nochmals überprüft werden.
Bei Nichterfüllung von zwingenden Auflagen erfolgt eine Verwarnung durch den Direktor der Bewährungshilfe oder das Gericht. Auch ein Widerruf ist möglich, dies deckt sich mit der Vorgehensweise in Deutschland.

Die Bewährungshilfe in der Türkei verfügt über verschiedene Interventionsprogramme zu den Themen „Aggressionsbearbeitung“, „Sucht“, „Schwere Kriminalität“. Diese sind in Zusammenarbeit mit dem englischen Justizministerium entstanden. Bislang wurden von der Bewährungshilfe noch keine Sexualstraftäter betreut. Es ist jedoch die Bildung einer Arbeitsgruppe hierfür geplant.
Vom Justizministerium wurde uns eine Rückfallquote nach Kurzstrafen von 1% genannt. Auch wurde uns mitgeteilt, dass ein Bewährungshelfer ca. 50 Klienten zu betreuen hat. Da uns diese Zahlen sehr gering erschienen, haben wir mehrfach nachgefragt, erhielten jedoch die gleiche Auskunft. Später haben wir von anderen Fachdiensten erfahren, dass die tatsächliche Klientenzahl bei ca. 500 pro Bewährungshelfer liegt und daher bislang im Regelfall kaum eine wirkliche inhaltliche Betreuung der Verurteilten stattfinden kann.

Interessant war weiterhin, dass die Bewährungshilfe in der Türkei auch mit den Opfern von Straftaten arbeitet, was in Deutschland in der Regel von freien Trägern geleistet wird. Es gibt bestimmte Opferprogramme, die den Opfern psychosoziale und finanzielle Hilfen zukommen lassen. Opfer werden zu Hauptverhandlungen begleitet. Es sei außerdem geplant, Sozialarbeiter speziell für die Arbeit mit Opfern auszubilden.

Nachmittags besuchten wir eine Einrichtung des offenen Jugendstrafvollzugs für männliche jugendliche Straftäter. Die Jugendlichen werden zur U-Haft oder nach ihrer Verurteilung dort untergebracht. Insgesamt gibt es 3 solcher Einrichtungen in der Türkei mit 200 Jugendlichen. In der Einrichtung in Ankara befinden sich derzeit 50 Jugendliche. Sie können bis zu ihrem 21. Lebensjahr dort bleiben. Bei andauerndem Strafvollzug werden sie dann in die Erwachsenenanstalten verlegt.
Ziele der Einrichtung sind die Resozialisierung und Vermeidung neuer Straftaten. Die Gefangenen besuchen Schulen oder Praxisstellen außerhalb der Einrichtung und kehren erst am Abend dorthin zurück. In der Einrichtung nehmen sie an Gruppenarbeiten zur Verbesserung ihrer Sozialkompetenzen und ihres Sozialverhaltens teil. Ebenso finden gemeinsame Freizeit- und Bildungsaktivitäten statt.
Die durchschnittliche Verweildauer beträgt 2 Jahre. Der Großteil der Jugendlichen ist dabei zwischen 16 und 18 Jahre alt. Meist wurden die Jugendlichen wegen Eigentumsdelikten verurteilt, die aus Obdachlosigkeit, Armut und schlechten Familienverhältnissen resultieren. Strafmündig ist man in der Türkei bereits ab 12 Jahren, die Höchststrafe für Jugendliche bis 18 Jahre beträgt 18 Jahre Haft (In Deutschland sind es nur 10 Jahre).

Istanbul- die Millionenstadt am Bosporus…

Mit dem Bus reisten wir schließlich am Samstag um 8 Uhr ab Richtung Istanbul mit einem Zwischenstopp in Izmit.
Nach einer Reise von über 12 Stunden kamen wir schließlich in Istanbul an und waren mächtig aufgeregt als man uns mitteilte, dass unsere Gastfamilien alle sehr weit auseinander wohnen. Ich wohnte am Weitesten außerhalb bei Irmak und ihrem Mann Fadir. Ihr Haus war traumhaft auf einem Hügel über der Bosporus-Bucht von Sariyer gelegen.
Der Zeitpunkt meiner Ankunft hätte ungünstiger nicht sein können. Mitten in den letzten 10 Minuten des Meisterschaftsfinales zwischen Fehnerbahce und Galatasaray Istanbul! Fadir holte mich am Treffpunkt im Fehnerbahce-Trikot ab und verpasste wegen mir den Schlusspfiff. Kein guter Start dachte ich, aber meine Gastgeber blieben zum Glück gelassen.

Die ersten Tage in Istanbul war ich komplett erschlagen von der Größe dieser 17 Millionen-Stadt. Meine Erinnerungen an meine erste Istanbul-Reise beschränkten sich auf die Touristengegenden, die viel überschaubarer waren, als wenn man plötzlich durch die ganze Stadt unterwegs ist. Wie soll man sich zwischen 300 verschiedenen Buslinien zurecht finden, wenn es keinen Fahrplan gibt? Wie erklärt man dem Dolmus-Fahrer (Sammeltaxi), wo man aussteigen möchte, wenn dieser sich in atemberaubender Geschwindigkeit mitten im Verkehrschaos seinen Weg bahnt? Unglaublich, dass wir uns jeden Morgen alle am Treffpunkt eingefunden haben und jeder abends wieder sicher und ohne Umwege nach Hause gefunden hat.

Auch in Istanbul konnten wir viele verschiedene Einrichtungen besuchen. Manchmal haperte es etwas an den Übersetzungsmöglichkeiten, aber letztendlich konnten wir uns doch durch Umschreibungen und einem mehrsprachigen Kauderwelsch in Englisch, Deutsch und Türkisch immer irgendwie verständigen.


Besonders beeindruckt hat mich der Besuch des Frauenhauses „Mor cati/ Purple roof“. Mor cati wurde 1990 als erstes Frauenhaus in der Türkei gegründet und ist auch international sehr bekannt. Die Grundphilosophie stützt sich auf einen feministischen Ansatz, der das Ziel hat, den Selbstwert und die Kraft der Frauen zu stärken.
Die Frauen können dort bis zu 2 Jahren bleiben und dürfen auch mehrmals wiederkehren. Dies war bspw. bei einem staatlichen Frauenhaus, das wir in Ankara besucht haben, nicht möglich. Mit Mitarbeiterinnen setzen sich aus 6 Hauptamtlichen Kräften und 20 Ehrenamtlichen zusammen. Sie berichteten uns, dass der Schutz von von Gewalt betroffenen Frauen in der Türkei nach wie vor noch nicht flächendeckend als notwendig und sinnvoll angesehen wird. So gebe es immer wieder Polizisten, die die Frauen nicht ernst nehmen würden und wieder nach Hause schicken, wenn diese bei der Polizei häusliche Gewalt zur Anzeige bringen wollen. Hier gibt es noch sehr viel Bedarf an Informationen und Umdenken.

Am vorletzten Abend in Istanbul trafen wir uns alle in einem netten kleinen Restaurant in Ortaköy- dem für seine Riesenkartoffeln und der schönen Lage bekannten Viertel Istanbuls. Nüket, langjährige CIF-Vorsitzende, hatte für alle Frauen nette Blumenkränze besorgt und es entstanden schöne Erinnerungsfotos. E-Mail-Adressen wurden ausgetauscht und auch hier das Versprechen, dass wir versuchen wollten, uns bei der Weltkonferenz im nächsten Jahr wieder zu sehen.

Am letzten Abend trafen sich Marjatta, Ruth und ich uns zusammen mit unseren angereisten Freunden für ein letztes gemeinsames Abendessen. Der Abschied fiel schwer. Wir haben festgestellt, dass wir in drei Wochen nicht nur viel über die Arbeit der Anderen kennengelernt haben, sondern auch viel über uns persönlich, in welcher Kultur wir leben, wie sich unser Alltag gestaltet, wie unser Familienleben aussieht usw. und wo die Unterschiede liegen. Schön zu wissen, dass mir durch CIF nun auch Türen in Schottland und Finnland für einen Besuch offen stehen.

Unschätzbare Erfahrungen…
Zusammenfassend kann ich sagen, dass die Teilnahme am CIF-Programm in der Türkei meine Erwartungen weit übertroffen hat. Ich hätte nicht erwartet, so viele verschiedene Einrichtungen besichtigen zu können und so viele interessante und umfassende Informationen zu erhalten, die auch für meine Arbeit hier mit türkischen Klienten von Vorteil sein können.

Es ist sehr spannend zu sehen, dass die Soziale Arbeit in der Türkei derzeit quasi „am Explodieren“ ist. Offensichtlich wurde erkannt, dass soziale Dienste notwendig und weiter ausgebaut werden müssen, um die sozialen Probleme- die es in der Türkei wie in jedem anderen Land auch gibt – professionell angehen zu können. Momentan überwiegen sicherlich noch die Schwierigkeiten bei der Organisation und Umsetzung der neuen gesetzlichen Regelungen im sozialen Bereich. Aber ich denke, dass die Türkei hier auf einem guten Weg ist und viele junge, engagierte Kolleginnen und Kollegen motiviert am Aufbau der einzelnen Sozialen Dienste mitwirken.
Wer weiß, vielleicht kann ich in 10 Jahren nochmals an einem CIF-Programm in der Türkei teilnehmen und sehen, wie die Entwicklungen weiter gegangen sind. Bis dahin werde ich meine Begeisterung für die türkische Kultur in der Arbeit mit meinen Klienten und meinen jährlichen Reisen in die Türkei weiter pflegen und freue mich riesig auf die internationale Konferenz 2013 in Ankara!

Annie (36 Jahre)
Süddeutschland
seit 10 Jahren als Bewährungshelferin tätig
 

hilal74

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AW: Sozialarbeiter-Programm Teil 2

Vielen Dank das du uns an deinen Erfahrungen teilhaben lässt. Ich finde das sehr interessant,vorallem weil die meisten Menschen denken, dass in dem Bereich...soziale Arbeit.. in der Türkei noch nicht viel getan wird.
 

rüzgar

Well-Known Member
AW: Sozialarbeiter-Programm Teil 2

Es ist sehr spannend zu sehen, dass die Soziale Arbeit in der Türkei derzeit quasi „am Explodieren“ ist. Offensichtlich wurde erkannt, dass soziale Dienste notwendig und weiter ausgebaut werden müssen, um die sozialen Probleme- die es in der Türkei wie in jedem anderen Land auch gibt – professionell angehen zu können. Momentan überwiegen sicherlich noch die Schwierigkeiten bei der Organisation und Umsetzung der neuen gesetzlichen Regelungen im sozialen Bereich. Aber ich denke, dass die Türkei hier auf einem guten Weg ist und viele junge, engagierte Kolleginnen und Kollegen motiviert am Aufbau der einzelnen Sozialen Dienste mitwirken.

...hast du auch etwas über die Arbeitsbedingungen der Mitarbeiter in der Sozialen Arbeit erfahren können (z.B. Ansehen in der Türkei, Gehalt, Arbeitszeiten, Arbeitsmarktlage,...)?

PS: Super, danke für deinen ausführlichen Bericht! :)
 

Annie

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AW: Sozialarbeiter-Programm Teil 2

Also, ich glaube, das Gehalt liegt so bei ca. 1000€ wenn ich mich recht erinnere. Es kommen sehr viele Sozialarbeiter aktuell von den Unis, aber der Bedarf ist RIESIG. Die Türkei hat insgesamt in etwa so viele Sozialarbeiter wie wir in Ba-Wü. Ich denke daher, dass die Jobchancen prima sind.
Wie man mir erzählt hat, ist das Ansehen in der Bevölkerung zunehmend, da die Leute merken, dass Sozialarbeiter ihnen tatsächlich helfen und was bewegen.

Ich hatte beim Ministerium für Soziales /natürlich ganz uneigennützig :lol:) angefragt, ob sie auch Fachkräfte aus dem Ausland anstellen. Es kam ein sehr eindeutiges und vernichtendes "Nein, das habe man nicht nötig, das schaffe man alleine."
Meiner Ansicht nach wäre es sehr wohl nötig, denn die fachliche Qualität ist durchaus noch deutlich ausbaufähig und könnte doch davon profitieren, dass wir in Eurpoa einfach schon einige Jahre länger Erfahrung haben...
 

rüzgar

Well-Known Member
AW: Sozialarbeiter-Programm Teil 2

Also, ich glaube, das Gehalt liegt so bei ca. 1000€ wenn ich mich recht erinnere. Es kommen sehr viele Sozialarbeiter aktuell von den Unis, aber der Bedarf ist RIESIG. Die Türkei hat insgesamt in etwa so viele Sozialarbeiter wie wir in Ba-Wü. Ich denke daher, dass die Jobchancen prima sind.
Wie man mir erzählt hat, ist das Ansehen in der Bevölkerung zunehmend, da die Leute merken, dass Sozialarbeiter ihnen tatsächlich helfen und was bewegen.

Ich hatte beim Ministerium für Soziales /natürlich ganz uneigennützig :lol:) angefragt, ob sie auch Fachkräfte aus dem Ausland anstellen. Es kam ein sehr eindeutiges und vernichtendes "Nein, das habe man nicht nötig, das schaffe man alleine."
Meiner Ansicht nach wäre es sehr wohl nötig, denn die fachliche Qualität ist durchaus noch deutlich ausbaufähig und könnte doch davon profitieren, dass wir in Eurpoa einfach schon einige Jahre länger Erfahrung haben...

...lieben Dank, Miss Auslandskorrespondentin - cool, du hast ja vor Ort schon an alles gedacht. :wink:
Das habe ich mir fast gedacht, dass keine Fachkräfte aus dem Ausland eingestellt werden... :-?
 

russini

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AW: Sozialarbeiter-Programm Teil 2

Hallo Annie,

wie lange dauert denn so ein Studium?

Und gibt es da möglichkeiten paar semester angerechnet zu bekommen, wenn man z.b. schon einen türkischen lehrer-bachelor von der uni hat?
 

Annie

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AW: Sozialarbeiter-Programm Teil 2

Hallo Annie,

wie lange dauert denn so ein Studium?

Und gibt es da möglichkeiten paar semester angerechnet zu bekommen, wenn man z.b. schon einen türkischen lehrer-bachelor von der uni hat?

Hmm, 4 Jahre Bachelor., dann noch 2 Jahre bis zum Master. Wie das mit Anrechnungsmöglichkeiten aussieht weiß ich leider nicht. Das ist bestimmt von Uni zu Uni unterschiedlich, da sie noch kein einheitliches System in der Sozialarbeit haben.
 
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