umstrittener Paragraph gegen Intellektuelle in der Türkei

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Quelle: http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/0,1518,438500,00.html

Land der Richter und Denker

Von Dilek Zaptcioglu, Istanbul

Mit einem umstrittenen Paragraphen gehen nationalistische Juristen gegen Intellektuelle in der Türkei vor. Auch der Autorin Elif Shafak wurde der Prozess gemacht. Ihr überraschender Freispruch lässt hoffen, ist aber erst ein Anfang.

Wenn in einem Land das Strafrecht auf Schriftsteller angewandt wird, steht es dort nicht gut um die Meinungsfreiheit. Das weiß auch der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan. Nach massiven Protesten der Europäischen Union versucht er in diesen Tagen eine Formel zu finden, um den berüchtigten Paragraphen 301 des türkischen Strafgesetzes zu ändern. "Wenn darüber ein Konsens im Parlament erreicht wird, können wir den Paragraphen abschaffen", sagte er heute bei einer Fabrikeinweihung.


Dieser Konsens ist noch nicht in Sicht. Wegen "Verunglimpfung des Türkentums" wurde an diesem Donnerstag der Romanautorin Elif Shafak der Prozess gemacht - er wurde aus Mangel an Beweisen eingestellt. Das bisher prominenteste Opfer des Paragraphen ist der Chefredakteur der armenischen Wochenzeitung "Agos", Hrant Dink, der bei Wiederholung seines "Delikts" eine sechsmonatige Haftstrafe absitzen muss.

Der türkische Paragraph 301 sieht für die "Herabsetzung des Türkentums, der Republik und der Nationalversammlung" eine Haftstrafe zwischen sechs Monaten und drei Jahren vor. Wenn der Straftatbestand im Ausland erfolgt, wird die Strafe um ein Drittel erhöht. Brüssel verlangt schon seit Monaten die Abschaffung des Paragraphen, dem seit seinem Inkrafttreten vor gut einem Jahr mindestens 82 Schriftsteller, Verleger, Journalisten und Intellektuelle zum Opfer fielen. Nach dem jüngsten Bericht der Türkischen Stiftung für Menschenrechte TIHV wurden in den letzten fünfzehn Monaten zahlreiche Periodika und Bücher konfisziert und Internetseiten gesperrt. Insgesamt 15 Angeklagte wurden zu verschiedenen Haftstrafen verurteilt. Es gilt als sicher, dass die Europäische Kommission in ihrem diesjährigen Fortschrittsbericht im Oktober die Türkei mit deutlichen Worten zu einer Änderung dieses Paragraphen mahnen wird.

Das erfordert aber in der Türkei eine tief greifende Veränderung, die noch aussteht. Die dänische Prozessbeobachterin von Amnesty International, Elna Leth Pedersen, hält einen "Mentalitätswandel" im Land für notwendig. Der Paragraph könne nicht abgeschafft und wieder durch einen anderen ersetzt werden. "Es gibt in vielen Ländern, auch der Europäischen Union, ähnliche Paragraphen", sagte der EU-Abgeordnete Joost Lagendijk heute beim Shafak-Prozeß in Istanbul, "sie haben aber nie die Inhaftierung von Schriftstellern oder Journalisten zur Folge". Eugene Schoulgin, der Vertreter des Internationalen Pen-Clubs, nennt den Shafak-Prozess einen "Skandal" und weist darauf hin, dass er nicht der einzige Fall ist, den der Pen-Club im Auge behält. "Von Ländern der Europäischen Union bis hin zu Australien gibt es durchaus Menschenrechtsverletzungen", sagte der Norweger, der sich inzwischen in Istanbul niedergelassen hat. Die Häufung der Gerichtsverfahren in der Türkei hänge auch mit den "großen Schritten der Türkei in Richtung Demokratie" zusammen. Sie riefen "in bestimmten Kreisen" heftige nationalistische Reaktionen hervor.

Rapider Kulturwandel

Die Herren in Anwaltsroben, die bei den "Türkentumsprozessen" immer als Nebenkläger auftreten, sind in der Tat reaktionär. Sie gehören der extrem rechten Juristenunion "Hukukcular Birligi" an. Angeführt von dem Istanbuler Anwalt Kemal Kerincsiz sind sie es oft, die eine Strafanzeige gegen Autoren stellen. In ihren Augen sensible Bereiche sind: Die Massaker an den Armeniern von 1915, die Kurdenfrage, die Stellung der Armee in der Türkei - und die jüngere türkische Geschichte überhaupt.

In der Türkei findet seit dem Beginn der 2000er Jahre ein rapider Kulturwandel statt. Durch die Annäherung an die EU wird über die Vergangenheit und Gegenwart so offen und kontrovers diskutiert wie noch nie. Dabei tut sich aber auch eine wachsende Kluft zwischen den Reformkräften und der übrigen Gesellschaft auf. Die Reformen gehen vielen zu schnell und zu weit. Ehemals linke, heute liberal gesinnte Intellektuelle wie der Professor für Anglistik, Murat Belge, sind die Katalysatoren der EU-Reformen im geistigen Bereich. Diese Intellektuellen sind heute nicht mehr so marginalisiert wie etwa vor zehn oder zwanzig Jahren, als sie wegen ihrer politischen Gesinnung arbeitslos waren oder in kleinen Verlagen ums Überleben kämpften. Sie sind heute an einer der vielen privaten Universitäten Istanbuls angestellt und nutzen ihre Verbindungen, um Konferenzen über die Armenier- oder Kurdenfrage zu veranstalten. Hauptgegenstand der Kritik, die dort immer wieder geäußert wird, ist die offizielle türkische Geschichtsschreibung. Laut Belge hat diese "bisher nichts anderes geleistet als die Armenier- oder Kurdenfrage zu leugnen und historische Wahrheiten aus extrem nationalistischen Gründen zu verfälschen". Die liberalen Intellektuellen bilden eine Art "geschlossene Gesellschaft", die gute Kontakte zum Westen unterhält und ihre Aktivitäten auch durch westliche Fonds finanziert.

Den türkischen Nationalisten stößt das sauer auf. Der Strafgesetzparagraph 301 dient ihnen als ein Kriegsinstrument: Mit der Anklage wegen "Verunglimpfung des Türkentums" oder "Schädigung des Rufs der Türkei im Ausland" sollen gerade diese Intellektuellen und Schriftsteller vor dem Volk bloßgestellt werden. Das Ziel der extremen Nationalisten ist nicht unbedingt, Literaten ins Gefängnis zu bringen, sondern denjenigen Türken, die ihre Bücher nicht gelesen haben, zu zeigen, dass sie gefährliche Feinde der Gesellschaft sind.

Diese Strategie geht auf. Kerincsiz und seine rechten Anwälte werden von der Mehrheit als etwas zu hitzige Kämpfer für eine gute Sache angesehen. Die breite Unterstützung der extremen Nationalisten in ihrem Kampf gegen die "Feinde des Volkes" treibt sogar die sozialdemokratische Opposition im Parlament dazu, gegen eine Abschaffung des Gesinnungsparagraphen zu plädieren. Im Herbst 2007 gibt es Neuwahlen in der Türkei. Da wird auch dem Premier Erdogan der Mut fehlen, das türkische Strafgesetz vollkommen zu liberalisieren. So gefällt sich Erdogan in diesen Tagen in der Rolle des Demokraten, dem alle Hände gebunden sind. Der Autorin Elif Shafak wünschte er am Vorabend des Prozesses lediglich alles Gute.
 
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