Warum identifizieren sich manche Einwanderer mit dem Staat und andere nicht?

BodrumBodrum

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Heute ist Zafer-Bayrami und an vielen Balkonen hängen die türkischen Flaggen. Auch am Balkon gegenüber. Dort wohnt eine Familie, die ursprünglich mal vor Jahren vom Balkan in die Türkei gekommen ist. Manchmal, aber ganz selten höre ich sie ihre Muttersprache sprechen, aber ansonsten nur Türkisch. Jedenfalls hängt diese Familie, bei allen Feierlichkeiten die türkische Flagge aus dem Fenster.

Mir ist bei Beobachtungen und Gesprächen mit Menschen/ Freunden hier in der Türkei immer folgendes aufgefallen: Irgendwann, wird erwähnt, dass die Familie ursprünglich mal aus X (meistens vom Balkan) eingewandert ist (meistens die Großeltern oder Urgroßeltern). Dann wird auch erwähnt, dass man die Ursprungsorte einmal im Jahr besucht. Aber, wenn ich sie dann frage, mit welchem Land sie sich identifizieren, dann kommt als Antwort natürlich "Türkei." (Was ja auch normal ist.)

Ich lebe seit 5 Jahren hier und ich identifiziere mich mehr mit dem Land IN dem ich im Moment lebe, als mit dem Land von dem ich komme (obwohl ich bald wieder nach D. gehe.). Warum? Das Leben und die politischen Entscheidungen hier treffen mich unmittelbar. Es trifft mich, wenn meine Freunde ihren Job verlieren oder unglücklich sind. Es trifft mich, wenn die Preise steigen und die TL an Wert verliert. Es trifft mich, wenn Recht und Gesetz nicht eingehalten werden. Es trifft mich, wenn eine Krankenschwester auf offener Straße mit einem Schuss in den Kopf getötet wird. Ich lebe in diesem Land, also identifiziere ich mich damit. Ich wünschte mir so sehr, dass ich wählen dürfte.

Jetzt meine Frage? Warum
a) identifizieren sich die 2. und 3. Generation Einwanderer vom Balkan mit der Türkei? Ist es die gemeinsame osmanische Vergangenheit? Ist es die verbindende Religion? Ist es die Gehirnwäsche in der Schule?

b) Was hat Deutschland falsch gemacht und warum können sich so viele Einwanderer bei uns immer noch nicht mit dem Staat identifizieren?

Was denkt ihr dazu?
 
G

Gladio

Guest
Jetzt meine Frage? Warum
a) identifizieren sich die 2. und 3. Generation Einwanderer vom Balkan mit der Türkei? Ist es die gemeinsame osmanische Vergangenheit? Ist es die verbindende Religion? Ist es die Gehirnwäsche in der Schule?

b) Was hat Deutschland falsch gemacht und warum können sich so viele Einwanderer bei uns immer noch nicht mit dem Staat identifizieren?

Was denkt ihr dazu?

Weil wir ihnen das Gefühl geben, dazu zu gehören. Diese Akzeptanz spüren sie. :)
 

BodrumBodrum

Active Member
@Gladio .... es gibt auch in Deutschland Leute, die Zuwanderer akzeptieren, genauso wie es in der Türkei Leute gibt, die immer noch sagen "Ach, göcmen. Das sind sowieso keine richtigen Türken."

Aber ich habe auch diesen Link gefunden, der das Thema Akzeptanz und die Art und Weise wie man aufeinander zu geht als wesentliche Grundlage für die Identifizierung mit dem Aufnahmestaat darlegt.

http://www.wiesbaden-akademie.de/identitaetsbildung/
 

alterali

Well-Known Member
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b) Was hat Deutschland falsch gemacht und warum können sich so viele Einwanderer bei uns immer noch nicht mit dem Staat identifizieren?

Was denkt ihr dazu?

Keiner muss sich mit dem Staat identifizieren. Vielleicht als Beamter.

Bullenschweine, dass ist ein von Deutschen gebrauchtes Wort.

Den Staat sollte man akzeptieren, solange man meint, es läuft OK.

Keiner sollte seine Identität aufgeben (müssen).

Deutschland macht vieles falsch. Damit muss man leben, daran kann man arbeiten.
 

Tanrısız56

Well-Known Member
Ich kann mich mit keinem Staat identifizieren. Sicherlich muss ich, solange es das warenproduziernde Weltsystem mit seinen Staaten gibt, mich dazu ins Verhältnis setzen, dass es eine Dopplung der Gesellschaft in Politik und Ökonomie gibt (Karl Marx brachte hier seine "Kritik der politischen Ökönomie" in Anschlag). Von daher ist es mir auch nicht egal, ob beispielsweise die politischen Verhältnisse in einem Staat etwa repressiver (sozialer usw.) sind als in einem anderen. Klare Kante, dass ich da die weniger repressive (sozialere usw.) Variante bevorzuge. Auf gar keinen Fall identifiziere ich mich mit D'lands Rolle innerhalb des warenproduzierenden Weltsystems als Vize-Exportweltmeister und Schuldeneintreiber (und damit europäische Krisenländer zwangsläufig beschädigende Macht).

Nationalismus ist mir auch emotional ziemlich fremd. 1987 habe ich als damaliges Mitglied der grünen Partei (ausgetreten 1998) eine 10-tägige Gruppen-Studienfahrt durch die DDR organisiert. Wir mussten "getarnt" als "engagierte Gewerkschafter" (nicht wenige waren aber auch Gewerkschaftsmitglied) reisen. Es gab viele Gespräche mit DDR-Bürger_innen, bei denen seitens dieser häufig auf eine sog. "nationale Frage" verwiesen wurde, dass wir doch alle Deutsche seien usw. Dafür war niemand in unserer Reisegruppe ansprechbar. Es fiel auch auf - nicht zuletzt bei der Esskultur - dass das, was in der Nachkriegs-BRD einmal die "Italienisierung der Verhältnisse" genannt worden war, im (von mir damals als ausgesprochen "spießig" empfundenen) Osten offensichtlich nicht stattgefunden hatte. Nach Wende, Zusammenbruch des Staatssozialismus am Weltmarkt usw. hätte ich persönlich eine Weiterexistenz einer (nun nicht mehr staats-, sondern konkurrenzkapitalistischen DDR) einem vereinigten und größeren "Deutschland" vorgezogen. Bei Österreich hat es ja schließlich auch geklappt mit der "kleindeutschen" gegenüber einer "großdeutschen" (gemeinsames Staatsgebiet mit der BRD) Lösung.

Ich will jetzt nicht auf den ja auch (und gerade) in der Türkei und bei (Deutsch-)Türk_innen auftretenden Nationalismus eingehen. Auf der anekdotischen Ebene kann ich immerhin beisteuern, dass auch da nicht alle Staatsinsass_innen, Türkeistämmige usw. von infiziert zu sein scheinen. Als ich unlängst einen Almancı-Freund in Berlin zum Essen eingeladen und ihm die Auswahl des Restaurants überlassen habe, konnten wir nicht - wie von mir gehofft - in ein türkisches Lokal gehen. Nein, die umliegenden türkischen Restaurants kamen deshalb nicht in Frage, da die Betreiber von "türkischem Nationalstolz" beseelt seien. Diese Haltung hatte ich von meinem Freund so nicht erwartet, zumal er als Old-school-Linker eigentlich eher in Richtung "Staatssozialismus 2.0" tendiert ...

Grundsätzlich würde ich für eine "Entvolkung" in unseren Zeiten einer globalisierten Menschheit eintreten. Das heißt nicht, dass die Menschen überall gleich sind bzw. sein müssen. Völkische, nationalistische Wege führen m. E. aber nicht weiter - to say the least.

Interessant scheint mir in diesem Zusammenhang auch der Ansatz John Holloways ("Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen"):

https://de.wikipedia.org/wiki/John_Holloway
 

BodrumBodrum

Active Member
Okay, ich werds mal anders formulieren. während in Deutschland junge Einwanderer in der dritten Generation "scheiss Deutschland" oder "scheiss deutsche Hure" brüllen dürfen, habe ich eine solche Unterschicht hier noch nie erlebt. Die meisten Einwanderer hier glauben die Türkei ist der Himmel auf Erden.
 

noname75

Well-Known Member
Auch die sozialen Unterschiede sind erheblich: Mehr als 15 Prozent der Türken, aber nur 7,6 Prozent der Griechen lebten von Hartz IV. Ebenso zeigen sich bei den Deutschkenntnissen Differenzen. Jeder fünfte Türke, aber nur jeder 17. Italiener oder jeder zehnte Pole beherrscht die hiesige Sprache nur mangelhaft oder gar nicht. Die Hälfte der Türken pflege laut Studie zudem keine häufigen Kontakte zur deutschen Bevölkerung. Der Großteil der Italiener und Migranten aus dem früheren Jugoslawien habe hingegen mehrmals in der Woche freundschaftliche Kontakte zu Deutschen.

Es liegt nicht nur an den deutschen. Egal welche Studie man nimmt. Die Türken sind die am schlechtesten integrierte Gruppe.

Alle anderen Gruppen heiraten mit großem Abstand mehr deutsche. Und viele können hier ein Lied davon singen auf welcher Seite die meisten Probleme bei türkisch Deutschen Beziehungen auftauchten.

Immer das Geleier man sei nicht willkommen. Hier hat mal ein Türke geschrieben wie er es sieht. Was war. Verräter, assimiliert und so ein Müll.
 
P

Pit 63

Guest
Das Problem liegt im erkennbaren völkischen Unterschied und in der vorhandenen oder fehlenden Bereitschaft, sich anzupassen.
Den Einwanderern aus dem Balkan geht es in der Türkei vermutlich so wie den Polen in Deutschland.

Die Identifikation mit Rasse, Ethik oder Religion halte ich grundsätzlich für abwegig aber die meisten Menschen nehmen die dem Herdeninstinkt entstammende ankonditionierte kollektive Selbsteinordnung als Grundlage ihrer Identität wahr. Dieser Instinkt funktioniert übrigens auch mit umgekehrten Vorzeichen und äusser sich dann als Hass auf das eigene Kollektiv.

Das Ein- und Ausgrenzen- zum Teil gegen jede Vernunft oder Gerechtigkeit oder "Menschlichkeit" wird mithin als identitätsstiftend wahrgenommen. (Menschlichkeit in Anführungszeichen, weil dieses Verhalten eben auch menschlich ist)
Der Mensch ist auch keine homogenes Wesen und seine mentalen Entscheidungsprozesse verlaufen zu über 95 Prozent im Unbewussten. Deshalb auch Aussagen, wie ich bin zwar nicht/kein...aber...
Der rationale Verstand dient der Begründung der eigenen Haltung/Befindlichkeit/Meinung, die meistens schon da ist, bevor man darüber nachdenkt.
Beispiel: Wird jemand aus der eigenen Gruppe kritisiert, erfolgt Loyalität als identitiätsstiftender Reflex. Kommt es zur Diskussion, wird der Verstand dazu benutzt, die Loyalität objektiv zu begründen.
Oft genug auch hier im Forum erlebt...
Sich von der ankonditionierten kollektiven Befindlichkeit zu emanzipieren, fällt Individualisten und antiauthoritär geprägten Menschen leichter, als Anderen. (Was keine Bewertung sein soll)

Aus eigener Erfahrung kann ich nur sagen, dass diese inneren Freiheit und Unabhängigkeit ein Geschenk ist, dass einen in vielfältig bereichert. Ich weiss aber auch, dass manche Menschen mehr oder weniger ein Leben lang an dem schmerzhaften Gefühl leiden, nirgends richtig dazu zu gehören. Das finde ich sehr traurig.
 
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