Aylin2009
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Erdbeben.
Erinnerst du dich, an das Bootsrestaurant in Silivri. Es war unser erster Türkeiurlaub als du mich dorthin ausführtest. Wir waren gerade vier Monate zusammen, waren naiv und blind vor Liebe. Uns sollte ein langes, glückliches gemeinsames Leben bevorstehen. Oder eine kurze, aufregende Liaison. Mit beiden Varianten hätten wir gut leben können. Es ging um den Moment. Um uns. Es war eine stürmische Zeit. Die Zeit, in der man die Grenzen austestet. Die Zeit in der man alles vergibt, weil ein Blick in die verliebten Augen des anderen genügt um zu verstehen, dass man sich niemals absichtlich wehtun würde. Die Zeit, in der man sein gegenüber in einem verklärten Blick sieht. Geblendet von der Schönheit. Betäubt durch den Cocktail aus Verliebtheitsgefühlen und durchgemachter Nächte. Für Schlaf hatten wir wenig Zeit in diesen Tagen. Es gab so viel zu entdecken am Körper des anderen. Es gab so viel zu erfahren aus dem Leben des anderen. Das Leben war ein nicht enden wollendes Feuerwerk in diesen Tagen. Ein mächtiges Feuerwerk.
So führtest du mich auf dieses kleine Boot. Von dort aus hatten wir einen Blick auf den beleuchteten Hafen der Stadt und das bunte Nachtleben. Du gabst die Bestellung auf ohne mich nach meiner Meinung zu fragen. Ich mochte das. Ich war neugierig auf alles in diesem mir fremden Land. Wollte neues kennenlernen. Wollte, dass du mir zeigst, was das Leben hier zu bieten hatte. Wir aßen an diesem Abend diese kleinen Fische. Ich weiß bis heute nicht, wie man sie auf Deutsch nennt. Eigentlich hatten sie nicht wirklich viel Geschmack. Wir betröpfelten sie mit Zitronen. Sie waren ziemlich fettig, sodass man nicht viel davon essen konnte. Aber um die Fische ging es gar nicht.
Wir redeten an diesem Abend über uns, über unsere gemeinsame Zukunft, über unsere Vergangenheit und über den noch bevorstehenden Urlaub. Wir hatten beide diese Macht. Diese Macht der Selbstständigkeit. Zu diesem Zeitpunkt hätten wir beide noch gut ohne den anderen Leben können. Die Macht der Gewohnheit hatte uns nicht eingeholt. Alles war neu. Und das gab uns Macht. Macht, wir selbst zu sein. Macht uns zu verstellen. Es gab uns die Macht uns in das perfekte Licht zu rücken. Der zu sein, der wir gerne wären. Der zu sein, für den uns der andere hielt. Und so führten wir unser mächtiges Schauspiel fort. Bis in den späten Abend.
Nach dem Essen gingen wir an der Strandpromenade spazieren. Wir aßen ein Softeis. Nicht etwa, weil uns danach war. Wir waren ein verliebtes Pärchen an einer Strandpromenade und jemand verkaufte Softeis. Das Softeis gehört dazu. Es rundete den Abend ab.
Zuletzt saßen wir in einem Cafe mit Livemusik. Die jungen Einheimischen um uns herum sangen mit. Auch du hast gesungen. Und dabei sahst du mich an, als wenn jedes Lied unsere Geschichte erzählte. Es hatte etwas Exotisches für mich. Eine fremde Sprache, die fremden Klänge, ein mir noch fast fremder Mann, der sich aus meiner und seiner Fantasie zusammensetzte und für mich sang. Ich hätte ewig dort mit dir sitzen können um deinem Gesang zuzuhören. Um in deine verliebten Augen zu schauen und darin mein Spiegelbild in Perfektion zu sehen.
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Im letzten Jahr führtest du mich wieder in das Bootsrestaurant in Silivri. Diesmal war es mein Wunsch. Meine verbitterte Bitte, mich auszuführen. Mir etwas zu zeigen von dem Land, das du so liebst. Mein flehender Wunsch uns etwas gemeinsame Zeit zu schenken. Nur du und ich. So wie damals. Es war deine Idee nach Silivri in das Restaurant zu fahren. Du dachtest es sei romantisch. Du hattest die Hoffnung, mich an diesen Ort, an dem wir einst den perfekten Abend verbracht hatten, zurückzuführen, würde reichen, die Romantik aufblühen zu lassen. Um die Hormone wieder zu erwecken. Oder einfach um ein Gesprächsthema zu haben. Es war eine schöne Idee. Aber von Beginn an war etwas anders.
Ich hatte mich für diesen Abend schick gemacht. Wir hatten in diesem Urlaub so wenig Gelegenheit dazu, dass ich es voll ausgekostet hatte. Ich war gierig nach deinen Blicken. Wollte mich noch einmal in diesem Licht sehen. In deinen verliebten Augen. Aber anstatt bei deinem Anblick ein perfektes Abbild meiner selbst in deinen Augen zu sehen, fragtest du mich, ob ich nicht lieber eine lange Hose anziehen wolle. Es könne ja kalt werden.
Ich hatte mich längst an die Kälte gewöhnt.
Und so kamen wir in dem uns bekannten Restaurant an. Du bestelltest denselben Fisch. Dazu noch ein paar frittierte Tintenfische. Warum war in diesem Land alles frittiert? Und so saßen wir da mit Unbehagen. Nicht wissend, was es noch zu sagen gäbe. Man hatte sich bereits alles erzählt in den letzten gemeinsamen Wochen. In den letzten Jahren. Jedes Wort war an diesem Abend bedacht. Wir wollten beide keinen Streit hervorrufen. Das wäre zu einfach gewesen.
Und so redeten wir lange über den Fisch. Bis auch der Fisch besprochen war und das Schweigen lauter wurde. So saßen wir uns gegenüber, machtlos, nicht wissend, was zu sagen. Gequält durch das laute Schweigen. Ohrenbetäubend. Entkräftet von den stürmischen vergangenen Jahren. Wohlwissend, dass das alles nicht richtig war. Das wir dort nicht hingehörten. Das alles ein großes Schauspiel gewesen war und wir unsere Masken abgelegt hatten und alles was übrig war, die Erinnerung, an die stürmischen Zeiten war. Die Zeiten der Macht. Das alles und viel mehr grölte das Schweigen.
Als das Schweigen gerade unerträglich wurde, sagtest du plötzlich: „Spürst du das? Ein Erdbeben.“. Ich dachte, was für ein netter Versuch. Wir saßen auf einem Boot, das auf dem Wasser schwamm. Hin und wieder kamen Wellen, die das Boot zum wanken brachten. Daraus ein Erdbeben zu machen, nur um das Schweigen zu brechen, das war genial. Ich sagte dir, dass das kein Erdbeben sei, sondern nur ein paar Wellen. Und du fingst an, mir von deinem ersten Erdbeben in Istanbul zu erzählen. Welch ein Glück du damals gehabt hattest, weil du draußen unterwegs warst. Und was für ein überwältigendes Gefühl es sei, wenn plötzlich die Erde unter deinen Füßen anfängt zu wackeln. Wenn du den Halt verlierst. Und wie deine von mir so geliebte Baba Anne aus dem Fenster schaute. Die Nachbarn hatte sie angefleht, das Haus zu verlassen. Sie hatte nur in ihrer spröden Art geantwortet, dass Allah sie sowieso eines Tages zu sich holen würde. Sie wolle an diesem Tag in dem Haus sein, welches ihr Ehemann für sie erbaut hatte. Ich hörte interessiert zu. Wir hatten tatsächlich noch ein Thema gefunden, das noch nicht besprochen war. Etwas, das mich faszinierte. Etwas, dass ich wirklich von dir hören wollte. Unsere Hände trafen sich in der Mitte des Tisches. Du hieltest meine Hand. Du drücktest sie fest und unsere Blicke trafen sich kurz. Kurz aber intensiv. War das ein kurzer Moment der Hoffnung?
Du wurdest dann in deinem Vortrag unterbrochen, als die Frau am Tisch hinter dir, die mit jemandem über Handy sprach, zu ihrem Tischnachbar sagte, dass es in Istanbul ein Erbeben gegeben habe und es noch keine Entwarnung gäbe.
Wir hatten in unserer Beziehung unzählige Erdbeben durchlebt. Damit uns die Themen nicht ausgingen. Und da in unseren Breitengraden, die Erdbeben auf sich warten ließen, suchten wir uns unsere kleinen Beben. Die Beben, die unseren scheinbar sicheren Boden unter den Füßen ins Wanken brachten. Die unsere zufriedenstellende Beziehung durchrüttelten. Alles auf den Kopf stellten. Uns ständig bei Null anfangen ließen. Stein auf Stein. Nur so konnten wir wieder die Macht des Anfangs erlangen. Das große Schauspiel. So gingen uns die Themen nicht aus. Nach der Ruhe kommt der Sturm. Mit jedem noch so großen Sturm hatten wir umgehen gelernt. Die Ruhe konnten wir nicht ertragen. Die Erdbeben hatten uns abgelenkt. Von unserem Gegenüber. Von uns selbst.
Auch an diesem Abend liefen wir die Strandpromenade entlang. Vorbei an dem Softeisstand.
Du hattest keinen Appetit auf Eis. Du hattest nicht begriffen, dass es nicht um das Eis ging.
Erinnerst du dich, an das Bootsrestaurant in Silivri. Es war unser erster Türkeiurlaub als du mich dorthin ausführtest. Wir waren gerade vier Monate zusammen, waren naiv und blind vor Liebe. Uns sollte ein langes, glückliches gemeinsames Leben bevorstehen. Oder eine kurze, aufregende Liaison. Mit beiden Varianten hätten wir gut leben können. Es ging um den Moment. Um uns. Es war eine stürmische Zeit. Die Zeit, in der man die Grenzen austestet. Die Zeit in der man alles vergibt, weil ein Blick in die verliebten Augen des anderen genügt um zu verstehen, dass man sich niemals absichtlich wehtun würde. Die Zeit, in der man sein gegenüber in einem verklärten Blick sieht. Geblendet von der Schönheit. Betäubt durch den Cocktail aus Verliebtheitsgefühlen und durchgemachter Nächte. Für Schlaf hatten wir wenig Zeit in diesen Tagen. Es gab so viel zu entdecken am Körper des anderen. Es gab so viel zu erfahren aus dem Leben des anderen. Das Leben war ein nicht enden wollendes Feuerwerk in diesen Tagen. Ein mächtiges Feuerwerk.
So führtest du mich auf dieses kleine Boot. Von dort aus hatten wir einen Blick auf den beleuchteten Hafen der Stadt und das bunte Nachtleben. Du gabst die Bestellung auf ohne mich nach meiner Meinung zu fragen. Ich mochte das. Ich war neugierig auf alles in diesem mir fremden Land. Wollte neues kennenlernen. Wollte, dass du mir zeigst, was das Leben hier zu bieten hatte. Wir aßen an diesem Abend diese kleinen Fische. Ich weiß bis heute nicht, wie man sie auf Deutsch nennt. Eigentlich hatten sie nicht wirklich viel Geschmack. Wir betröpfelten sie mit Zitronen. Sie waren ziemlich fettig, sodass man nicht viel davon essen konnte. Aber um die Fische ging es gar nicht.
Wir redeten an diesem Abend über uns, über unsere gemeinsame Zukunft, über unsere Vergangenheit und über den noch bevorstehenden Urlaub. Wir hatten beide diese Macht. Diese Macht der Selbstständigkeit. Zu diesem Zeitpunkt hätten wir beide noch gut ohne den anderen Leben können. Die Macht der Gewohnheit hatte uns nicht eingeholt. Alles war neu. Und das gab uns Macht. Macht, wir selbst zu sein. Macht uns zu verstellen. Es gab uns die Macht uns in das perfekte Licht zu rücken. Der zu sein, der wir gerne wären. Der zu sein, für den uns der andere hielt. Und so führten wir unser mächtiges Schauspiel fort. Bis in den späten Abend.
Nach dem Essen gingen wir an der Strandpromenade spazieren. Wir aßen ein Softeis. Nicht etwa, weil uns danach war. Wir waren ein verliebtes Pärchen an einer Strandpromenade und jemand verkaufte Softeis. Das Softeis gehört dazu. Es rundete den Abend ab.
Zuletzt saßen wir in einem Cafe mit Livemusik. Die jungen Einheimischen um uns herum sangen mit. Auch du hast gesungen. Und dabei sahst du mich an, als wenn jedes Lied unsere Geschichte erzählte. Es hatte etwas Exotisches für mich. Eine fremde Sprache, die fremden Klänge, ein mir noch fast fremder Mann, der sich aus meiner und seiner Fantasie zusammensetzte und für mich sang. Ich hätte ewig dort mit dir sitzen können um deinem Gesang zuzuhören. Um in deine verliebten Augen zu schauen und darin mein Spiegelbild in Perfektion zu sehen.
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Im letzten Jahr führtest du mich wieder in das Bootsrestaurant in Silivri. Diesmal war es mein Wunsch. Meine verbitterte Bitte, mich auszuführen. Mir etwas zu zeigen von dem Land, das du so liebst. Mein flehender Wunsch uns etwas gemeinsame Zeit zu schenken. Nur du und ich. So wie damals. Es war deine Idee nach Silivri in das Restaurant zu fahren. Du dachtest es sei romantisch. Du hattest die Hoffnung, mich an diesen Ort, an dem wir einst den perfekten Abend verbracht hatten, zurückzuführen, würde reichen, die Romantik aufblühen zu lassen. Um die Hormone wieder zu erwecken. Oder einfach um ein Gesprächsthema zu haben. Es war eine schöne Idee. Aber von Beginn an war etwas anders.
Ich hatte mich für diesen Abend schick gemacht. Wir hatten in diesem Urlaub so wenig Gelegenheit dazu, dass ich es voll ausgekostet hatte. Ich war gierig nach deinen Blicken. Wollte mich noch einmal in diesem Licht sehen. In deinen verliebten Augen. Aber anstatt bei deinem Anblick ein perfektes Abbild meiner selbst in deinen Augen zu sehen, fragtest du mich, ob ich nicht lieber eine lange Hose anziehen wolle. Es könne ja kalt werden.
Ich hatte mich längst an die Kälte gewöhnt.
Und so kamen wir in dem uns bekannten Restaurant an. Du bestelltest denselben Fisch. Dazu noch ein paar frittierte Tintenfische. Warum war in diesem Land alles frittiert? Und so saßen wir da mit Unbehagen. Nicht wissend, was es noch zu sagen gäbe. Man hatte sich bereits alles erzählt in den letzten gemeinsamen Wochen. In den letzten Jahren. Jedes Wort war an diesem Abend bedacht. Wir wollten beide keinen Streit hervorrufen. Das wäre zu einfach gewesen.
Und so redeten wir lange über den Fisch. Bis auch der Fisch besprochen war und das Schweigen lauter wurde. So saßen wir uns gegenüber, machtlos, nicht wissend, was zu sagen. Gequält durch das laute Schweigen. Ohrenbetäubend. Entkräftet von den stürmischen vergangenen Jahren. Wohlwissend, dass das alles nicht richtig war. Das wir dort nicht hingehörten. Das alles ein großes Schauspiel gewesen war und wir unsere Masken abgelegt hatten und alles was übrig war, die Erinnerung, an die stürmischen Zeiten war. Die Zeiten der Macht. Das alles und viel mehr grölte das Schweigen.
Als das Schweigen gerade unerträglich wurde, sagtest du plötzlich: „Spürst du das? Ein Erdbeben.“. Ich dachte, was für ein netter Versuch. Wir saßen auf einem Boot, das auf dem Wasser schwamm. Hin und wieder kamen Wellen, die das Boot zum wanken brachten. Daraus ein Erdbeben zu machen, nur um das Schweigen zu brechen, das war genial. Ich sagte dir, dass das kein Erdbeben sei, sondern nur ein paar Wellen. Und du fingst an, mir von deinem ersten Erdbeben in Istanbul zu erzählen. Welch ein Glück du damals gehabt hattest, weil du draußen unterwegs warst. Und was für ein überwältigendes Gefühl es sei, wenn plötzlich die Erde unter deinen Füßen anfängt zu wackeln. Wenn du den Halt verlierst. Und wie deine von mir so geliebte Baba Anne aus dem Fenster schaute. Die Nachbarn hatte sie angefleht, das Haus zu verlassen. Sie hatte nur in ihrer spröden Art geantwortet, dass Allah sie sowieso eines Tages zu sich holen würde. Sie wolle an diesem Tag in dem Haus sein, welches ihr Ehemann für sie erbaut hatte. Ich hörte interessiert zu. Wir hatten tatsächlich noch ein Thema gefunden, das noch nicht besprochen war. Etwas, das mich faszinierte. Etwas, dass ich wirklich von dir hören wollte. Unsere Hände trafen sich in der Mitte des Tisches. Du hieltest meine Hand. Du drücktest sie fest und unsere Blicke trafen sich kurz. Kurz aber intensiv. War das ein kurzer Moment der Hoffnung?
Du wurdest dann in deinem Vortrag unterbrochen, als die Frau am Tisch hinter dir, die mit jemandem über Handy sprach, zu ihrem Tischnachbar sagte, dass es in Istanbul ein Erbeben gegeben habe und es noch keine Entwarnung gäbe.
Wir hatten in unserer Beziehung unzählige Erdbeben durchlebt. Damit uns die Themen nicht ausgingen. Und da in unseren Breitengraden, die Erdbeben auf sich warten ließen, suchten wir uns unsere kleinen Beben. Die Beben, die unseren scheinbar sicheren Boden unter den Füßen ins Wanken brachten. Die unsere zufriedenstellende Beziehung durchrüttelten. Alles auf den Kopf stellten. Uns ständig bei Null anfangen ließen. Stein auf Stein. Nur so konnten wir wieder die Macht des Anfangs erlangen. Das große Schauspiel. So gingen uns die Themen nicht aus. Nach der Ruhe kommt der Sturm. Mit jedem noch so großen Sturm hatten wir umgehen gelernt. Die Ruhe konnten wir nicht ertragen. Die Erdbeben hatten uns abgelenkt. Von unserem Gegenüber. Von uns selbst.
Auch an diesem Abend liefen wir die Strandpromenade entlang. Vorbei an dem Softeisstand.
Du hattest keinen Appetit auf Eis. Du hattest nicht begriffen, dass es nicht um das Eis ging.