Kein Beruf wird um seiner selbst willen ausgeübt, sondern um den Lebensunterhalt zu verdienen. Somit ist in vielen Berufen die Gefahr enthalten, dass der Nutzeffekt, genauer gesagt der Profit, das Entscheidende wird. Das kann in besonderen Fällen, in denen der Profit mühelos und groß ist, zu Gier und Habsucht, zu standespolitischen Aggressionen, zu Machtstreben des einzelnen wie bestimmter Standesgruppierungen führen, wodurch die eigentliche Berufsidee verzerrt wird; denn in seinem ursprünglichen Sinn ist der Beruf ein inneres Angerufensein (advocatio)...
... Die Mängel der menschlichen Natur, mit denen wir geboren werden, zwangen bereits im 5. Jhd. vor Christus den griechischen Arzt Hippokrates zur Aufstellung bestimmter Pflichtendes Arztes gegenüber den Kranken. Er selbst schwor sich, diese Regeln zu beachten; sie sind bekannt als hippokratischer Eid; er wird auch heute noch bei der Verleihung des Arztpatents abgenommen. Der Arzt soll jedem Kranken, auch dem Armen und dem Fremden, helfen. Er soll nur solche Heilmethoden anwenden, die bereits erprobt sind, er soll Rücksicht nehmen auf die wirtschaftliche Lage des Kranken. Er soll das im Umgang mit dem Kranken Gesehene und Gehörte nicht weitererzählen. Das Wohl des Kranken soll das einzige Ziel ärztlichen Denkens und Handelns sein. All diese Obliegenheiten bestehen auch heute noch genauso wie vor 2500 Jahren.
Weil dieser hippokratische Eid die älteste berufsethische Kodifizierung darstellt, ist er für unsere moderne Berufsmoralproblematik besonders interessant. Der Mediziner wird durch den hippokratischen Eid für den Dienst am Patienten verpflichtet. Der Anwalt hat seinem Klienten, seinem Mandanten zu dienen, der Lehrer nicht dem Berufsverband, sondern der Schule, d.h. den Schülern in der Gesellschaft, der Kaufmann seinem Kunden und der Psychologe dem bei ihm Rat suchenden Menschen.