Wohngemeİnschaft İn Meİnem Körper

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selcuk1972

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WOHNGEMEİNSCHAFT İN MEİNEM KÖRPER


Alles fing damit an, dass man mich erst mal gar nicht gefragt hat ob ich auf diesen Planeten will und somit schon vor der Geburt meinen Willen gebrochen hat. Dafür hat man mir bei der Geburt einen inneren Schweinehund aufs Auge gedrückt und der mich von jenem Augenblick nie mehr verlassen hat. Morgens steht er mit mir auf, mittags isst er mit mir und abends gehen wir gemeinsam zu Bett. Er begleitet mich in allen Lebenslagen. Nur nachts während meines Schlafes nehme ich ihn nicht wahr.
Wie mein Schweinehund überhaupt aussieht, kann ich selbst bis heute nicht schildern.
Ich habe ihn nie zu Gesicht bekommen. Mehr Hund oder doch eher mehr Schwein? Rosa Kringelschwänzchen oder treue Rehaugen?
Ich kann es nicht sagen. Ist er etwa vielleicht ein Geist, der in meinem Kopf herum spukt, oder flüstert er mir ins Ohr, doch noch diesen Becher Eiscreme vor dem Fernseher zu schlemmen? Sitzt er im Magen oder wohnt er in meinen Beinen und Füßen schwer wie Blei, so dass ich trotz Verabredung nicht zur Sportstunde erscheine? Ist er eine unsichtbare Hülle oder ein Fluidum, gar so groß wie ich selbst und gerade deshalb überall in mir drin?
Sogar die medizinische Forschung konnte bislang keinen inneren Schweinehund dingfest machen, weder im Blut oder im Urin, noch auf Röntgenbildern oder unter dem Mikroskop. Eine Pille gegen ihn gibt es nicht, Fachliteratur bestimmt, bloß der Weg zur Buchhandlung und das Lesen des spezifischen Buches schaffen die wenigsten.
Mein Schweinehund suchte sich also meinen Körper aus, um in meinem tiefsten Inneren sein Wohnquartier aufzuschlagen. Ich hatte also einen Untermieter. Ich nahm ihn anfangs kaum wahr, so winzig war er. Mit den Jahren wuchs mein Körper und er folglich auch. Am Anfang kamen dubiose Freunde zu Besuch, wie zum Beispiel Frau Cannabis oder Herr Shit.
Sie brachten Geschenke mit, nur für mich. Angenehm waren diese Bewusstseinserweiterungen, leichter Rausch, schnellste Wirkung und Glücksgefühle. Es waren tolle Geschenke und berauschende Feste, und in meinem Körper war noch viel Platz für jede Menge neue Erfahrungsgeschenke. Es waren Jahre des gegenseitigen Einklangs, des Nehmens und des Gebens. Er fühlte sich wohl meiner Wohnung, und mir war er ein willkommener Kumpel.
Natürlich krachte es auch mal in unserem kleinen Haushalt, denn durch seine einfache Überredungskunst gab ich allzu schnell nach und ärgerte mich im Nachhinein über ihn wenn immer neue Kumpels eigeladen wurden.
Aus dem Wald die Pilzfamilie und vom Rasthaus von der Autobahn Herr Speed samt LSD.
Auch aus dem Ausland hielten sich teilweise Señor Kokaino mit Crack auf und brachten phantastische Geschenke mit und über mein schlechtes Gewissen konnte ich mich daher gar nicht mehr aufregen. Trotz der Sauerei in meiner Wohnung kamen wir ziemlich gut miteinander aus. Schließlich lud mein Untermieter seinen besten Freund Alkohol zu uns ein.
Anfangs war mir seine Bekanntschaft sehr angenehm. Er kam ja immer nur mal so zu Besuch, um Hallo zu sagen. Auch er brachte mir Geschenke mit: Enthemmungen, Leichtigkeit, Geselligkeit, Fröhlich sein. Alles war bestens. Tja, alles war bestens, bis zu dem Tag, an dem mein innerer Schweinehund mich überredete, Freund Alkohol in unsere Wohngemeinschaft aufzunehmen.
Ach, es war ihm ein leichtes, mich zu überreden, und in meinem Körper war ja noch viel Platz. Freund Alkohol zog als Untermieter ein und belohnte mich täglich mit seiner Wirkung. Schweinehund und Alkohol halfen mir, mein Selbstwertgefühl und mein wachsendes Schuldgefühl zu betäuben. Schweinehund wurde während meiner Alkohol-Suchterkrankung im tagtäglichen Kampf gegen meine Gewissensbisse und guten Vorsätze, weniger zu trinken, zum unumstrittenen Sieger.
Es war dem Schweinehund stets ein Leichtes, mich zu überreden oder mein geplagtes Gewissen zu überwinden. Durch ihn bekam ich sofortige Belohnung: nämlich Bequemlichkeit, Genuss, Rausch, jede nur erdenkliche Entschuldigung, um nicht zur Arbeit zu gehen, zu Verabredungen nicht zu erscheinen und dass ich doch eh nicht auf diese Welt wollte.
Er verhalf mir, mit seinem Freund Alkohol den stressreichen Alltag zu bewältigen und mich nicht der Realität in dieser Neiderwelt stellen zu müssen. Ich war ihm und seinem Freund diese ganze Zeit sehr, sehr dankbar. Wir drei waren ein alteingespieltes Team, eine perfekte Wohngemeinschaft in meinem Körper. Das schlechte Gewissen wurde ertränkt, und mein Selbstwertgefühl musste ausziehen wegen Platzmangel.
Manchmal jedoch war unsere Dreier-Harmonie zerrüttet. Es geschah meistens montagmorgens. Der schwere Gang nach Kanossa, nämlich der zum Kunden bzw. zur Arbeit. Mein Körper rebellierte gegen diese Disharmonie durch Schwitzen, Übelkeit, Zittern und sonstiges Unwohlsein. Der innere Schweinehund wurde durch den Kompromiss beruhigt indem ich ihm sagte, dass eben gerade durch meine Arbeit das nötige Kleingeld in unseren kleinen Haushalt fließen würde, denn der Unterhalt unseres Freundes Alkohol war inzwischen sehr kostspielig geworden, meine Lebensgefährtin nichts mehr dazugab, was aber schnell als nebensächlich abgetan wurde.
Auch Kontrollverluste, Filmrisse sowie der Zusammenbruch individueller Wertvorstellungen waren ein Ergebnis unseres ständigen Zusammenseins: Sie wurden zwar registriert, aber als nicht wichtig in die unterste Schublade verstaut. Zusammen mit meinem inneren Schweinehund gelang es mir spielend und dies mit Leichtigkeit, das vermehrte und das heimliche Trinken durchzuführen. Unfassbar heute, damals aber selbstverständlich, die tägliche Logistik von Alkohol, der unbegrenzte Ideenreichtum an Entschuldigungen und der Riesenaufwand an Verstecken und Alibis waren so gesehen die einzigen Meisterleistungen an Energiekonzentration, damit unsere Wohngemeinschaft reibungslos funktionieren konnte.
Waren wir drei wieder vereint, klappte es erneut mit der Harmonie. Zusammen waren wir stark und belohnten uns mit Faulheit, Lustlosigkeit, Bequemlichkeit und sozialem Rückzug. Keine alten Freunde konnten unsere traute Dreisamkeit stören und andere Besucher aus der Vergangenheit waren höchst unerwünscht. Energieaufwand, Anerkennung, Selbstdisziplin, Freizeitgestaltung, Leistungssteigerung, Sex, Interessenvielfalt und Körperhygiene, allesamt wurden diese Wörter als extrem gefährlich erklärt und aus meinem Lebenslexikon verbannt.
Es kam, was unweigerlich kommen musste. Schweinehund und Alkohol, sie verschworen sich gegen mich und nahmen immer mehr Platz in meinem Körper ein. Die Wohnung platzte aus allen Nähten, so enorm waren Schweinehund und Alkohol gewachsen. In mir drin sah es aus wie bei Hempels unterm Sofa.
Dann kam auch wieder öfters dieser Verein der weißen Rüssel (Koks) zu Besuch. In mir war es so voll, ich selbst kam manchmal überhaupt nicht mehr rein. Meine Wohnung glich einem Trümmerhaufen. Ich war Dank meiner Untermieter samt ihren Besuchern zur wandelnden Ruine geworden, ein lebendes Schlachtfeld.
Ich bin ein geduldiger Mensch, der lange zusehen kann, aber der auch sagen kann: hierher und keinen Schritt weiter.
Und dann, plötzlich eines Tages, als meine Untermieter sich verschworen hatten, mir den Zutritt zu meiner eigenen Wohnung zu verweigern, nahm ich eine kleine zarte Stimme wahr.
Es war mein Selbsterhaltungstrieb. Ich hatte ihn ganz vergessen. Ich schenkte ihm Gehör und er schwoll zum Überlebensdrang an. Auf der Todesstation in einem ärztlichen Gutachten über die Schäden in meiner Wohnung, wurde mir eine Grundsanierung vorgeschlagen. Mir wurde geraten, mein kaputtes Mauerwerk mit „Hardberger“ Backsteinziegeln (meine Klinik) auszubessern, es wären die besten für mich.
Es kostete mich viel Kraft und Zeit, die erste Mauer hochzuziehen. Ich kann mich selbst nur loben. Dieser Mauerbau bewirkte so einiges in mir. Die Konsequenzen blieben nicht aus Meine beiden Untermieter hatten all die Jahre keine Miete bezahlt, ich hasste sie wie die Pest.
Freund Alkohol flog sofort raus. Zurzeit wohnt er im Supermarkt auf einem Regal. Dem inneren Schweinehund sprach ich mündlich die Kündigung aus. Er nahm sie zwar zur Kenntnis, weigert sich aber auszuziehen. Er ist vorgewarnt. Er wohnt jetzt in einer staubigen Schublade, welche ich verschlossen habe. Ich weiß, ich kann ihn nicht immer da drinnen lassen, schließlich ist er ja mein Hund. Und ein Hund ist treu, also wird er mich nie verlassen. Und wenn er rauskommt, hat er Schwein gehabt, und ist dann wieder mein alter Schweinehund
Es gibt noch viel Mauerwerk zu reparieren, und deshalb habe ich die letzten Monate eine ganze Wagenladung Hardberger Backsteinziegel mit nach Hause genommen. Es gibt viel Arbeit, aber ich verzweifle nicht. Jeder Ziegelstein ist ein winziger Teil einer ganzen Mauer. Mit kleinen Schritten und viel Geduld werde ich an meiner neuen Wohnung arbeiten.
Ich setzte mir realistische und erreichbare Ziele. Der Anfang ist bereits gemacht. Ich sammle Ideen, setze Prioritäten, wäge Möglichkeiten ab und treffe verbindliche und konkrete Verabredungen. Meine echten, wahren Freunde sind mir geblieben und unterstützen mich voll und ganz. Natürlich wird mein innerer Schweinehund in Zukunft versuchen mir im Weg zu stehen, so dass ich über ihn stolpern könnte. Aber ich habe mich mit ihm auseinandergesetzt und ihn an seinen Platz zurückgewiesen. Beide haben wir aus dieser erstaunlichen Wohngemeinschaft gelernt.
Und ich werde in Zukunft nicht mehr so schnell seinen Freunden sagen: „Zimmer frei”, sondern eher: „Meine Wohnung gehört mir” oder “Vorsicht bissiger Schweinehund”.

http://www.ichbinsuechtig.de/
www.ichbinsuechtig.dehttp://ichbinsuechtig.de/blog2/?p=9
 

Gizelle

Well-Known Member
AW: Wohngemeİnschaft İn Meİnem Körper

Ein Wunder, was ein Körper überhaupt so aushalten kann und Du noch lebst. Du scheinst ja nichts ausgelassen zu haben. Und Respekt für Deine Selbstreflexion.
 
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selcuk1972

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AW: Wohngemeİnschaft İn Meİnem Körper

Ein Wunder, was ein Körper überhaupt so aushalten kann und Du noch lebst. Du scheinst ja nichts ausgelassen zu haben. Und Respekt für Deine Selbstreflexion.


ich muss aufmerksam darauf machen das dies keine geschichte von mir ist..sie wurde wie man aus dem link siehst aus einer anderen seite ""ausgeliehen"".aber sie spricht mich auch an..
 
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