Kedi08
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Von der Sünde und der Sitte
Einmal traf die Sitte auf die Sünde und sprach zu ihr:
„Sünde, warum gibt es dich überhaupt? Dein Dasein ist doch völlig überflüssig für die Menschen, weil du sie nur ins Verderben führst und somit unglücklich machst.“
Während die Sitte so sprach, erschrak sie gleichzeitig über ihre eigenen Worte, denn ihr war klar, dass sie die Sünde soeben gekränkt hatte…und somit selbst gesündigt.
Doch die Sünde lächelte und antwortete:
„Liebe Sitte, wer sagt, dass ich die Menschen ins Verderben führe? Manch einer lebt mit seiner kleinen Sünde sehr viel glücklicher, als mit einem großen Meer voller Sitten.“
Die Sitte schüttelte den Kopf. „Nein, nein. Man kann mit einer Sünde nicht glücklich leben. Auch wenn sie noch so klein ist. Sünden sind etwas Schlechtes.“
Erstaunt und mit großen Augen schaute die Sünde jetzt die Sitte an. „Aber woher wissen die Menschen denn, was eine Sünde ist? Woher weißt du es überhaupt, liebe Sitte? Schau, was eine Sitte ist, lässt sich leicht ausmachen. Sie sind niedergeschrieben in Gesetzen, Regeln, Geboten. Aber was ist eine Sünde? Etwa alles, was dort nicht geschrieben steht oder wenn, dann als Verbot? Das ist doch wohl etwas zu einfach.“
Jetzt war es die Sitte, die nachdenklich wurde. Sie überlegte, was alles nicht geschrieben stand oder eben als Verbot. Gut, die Verbote ließen sich leicht als Sünde definieren. Doch das Nichtgeschriebene glich einer Unendlichkeit. Die Sitte wurde etwas verzweifelt, sie war es nicht gewohnt, sich mit Dingen zu beschäftigen, die sich nicht erklären ließen. Zu guter letzt sagte sie: „Ich bleibe dabei, wenn der Mensch sich nicht an die Regeln hält, begeht er eine Sünde.“
Die Sünde schaute der Sitte fest in die Augen und erwiderte: „Ist dir schon einmal der Gedanke gekommen, in wie vielen Sünden eine Sitte steckt? Denk nur an das kleine Kind, dass sein Butterbrot nicht mag und es auf dem Weg von der Schule nachhause einem Bettler schenkt. Aber die Mutter anlügt, dass es das Brot gegessen hat. Eine Sünde, keine Frage, denn es steht geschrieben, dass du nicht lügen sollst, dass du Mutter und Vater ehren sollst. Aber was ist mit dem glücklichen Bettler, dem sein Hunger gestillt wurde?“
Jetzt war die Sitte sehr verblüfft. „Du meinst, das Kind ist glücklich mit dem, was es getan hat?“
„Wer weiß“, antwortete die Sünde, „das muss das Kind für sich selbst entscheiden. Wahrscheinlich wird es Momente geben, in denen es mit seiner Lüge sehr glücklich ist, aber es kann im nächsten Augenblick auch wieder sehr unglücklich darüber sein. Ob es eine Sünde war, das Butterbrot zu verschenken und die Mutter anzulügen, steht nirgendwo geschrieben. Also, wer will darüber urteilen?“
Nun fing die Sitte an milde zu lächeln. „Ich glaube, ich verstehe, was du mir sagen willst. Das Kind hatte gar keine Wahl. Wenn es die Sitte ausführen wollte, musste es gleichzeitig eine Sünde begehen. Und muss jetzt für sich entscheiden, was schwerer wiegt.“
„Genau so ist es“, sprach die Sünde, „Aber was schwerer wiegt hängt meist davon ab, wie die Umgebung darauf reagiert. Eine ungeschriebene Sünde ist erst eine Sünde, wenn jemand das Handeln verurteilt. Wenn jemand gekränkt ist, traurig, verletzt. Solange die Mutter nichts von der Lüge weiß, kann sie nicht urteilen. Leider, denn das würde dem Kind wahrscheinlich schon die Überlegung ersparen, dass es eventuell gesündigt hat. Denk nur, die Mutter wäre stolz auf ihr Kind, weil es einen armen Bettler glücklich gemacht hat. Sie würde dem Kind die Lüge verzeihen und es wäre nie wieder die Rede davon, dass eine Sünde in ihr steckte.“
„Aber dafür müsste das Kind der Mutter ja von seiner Lüge erst mal erzählen.“ triumphierte nun die Sitte.
„Ja“, sagte die Sünde nun leise und schaute betrübt zu Boden, „und genau darin liegt die eigentliche Sünde. Dass die Menschen sich viel zu oft selbst belügen und nicht zu ihrem Handeln stehen. Dass es ihnen viel zu oft wichtiger ist, selbst gut dazustehen. Ihr eigenes Ansehen über das Glück anderer stellen. Anstatt mit Stolz zu sagen: ich nehme die Schuld der Sünde auf mich, um einem anderen Menschen die wertvollste Sitte auf Erden zukommen zu lassen. Nämlich reine, selbstlose Liebe.“
Der Sitte traten bei diesen Worten Tränen in die Augen. Sie kniete vor der Sünde nieder, nahm ihre Hand und sprach: „Du hast mich zu Tränen gerührt. Und doch ist es keine Sünde, denn es sind Tränen der Freude, weil du mich etwas gelehrt hast, was ich ab jetzt immer im Herzen tragen werde.“
Einmal traf die Sitte auf die Sünde und sprach zu ihr:
„Sünde, warum gibt es dich überhaupt? Dein Dasein ist doch völlig überflüssig für die Menschen, weil du sie nur ins Verderben führst und somit unglücklich machst.“
Während die Sitte so sprach, erschrak sie gleichzeitig über ihre eigenen Worte, denn ihr war klar, dass sie die Sünde soeben gekränkt hatte…und somit selbst gesündigt.
Doch die Sünde lächelte und antwortete:
„Liebe Sitte, wer sagt, dass ich die Menschen ins Verderben führe? Manch einer lebt mit seiner kleinen Sünde sehr viel glücklicher, als mit einem großen Meer voller Sitten.“
Die Sitte schüttelte den Kopf. „Nein, nein. Man kann mit einer Sünde nicht glücklich leben. Auch wenn sie noch so klein ist. Sünden sind etwas Schlechtes.“
Erstaunt und mit großen Augen schaute die Sünde jetzt die Sitte an. „Aber woher wissen die Menschen denn, was eine Sünde ist? Woher weißt du es überhaupt, liebe Sitte? Schau, was eine Sitte ist, lässt sich leicht ausmachen. Sie sind niedergeschrieben in Gesetzen, Regeln, Geboten. Aber was ist eine Sünde? Etwa alles, was dort nicht geschrieben steht oder wenn, dann als Verbot? Das ist doch wohl etwas zu einfach.“
Jetzt war es die Sitte, die nachdenklich wurde. Sie überlegte, was alles nicht geschrieben stand oder eben als Verbot. Gut, die Verbote ließen sich leicht als Sünde definieren. Doch das Nichtgeschriebene glich einer Unendlichkeit. Die Sitte wurde etwas verzweifelt, sie war es nicht gewohnt, sich mit Dingen zu beschäftigen, die sich nicht erklären ließen. Zu guter letzt sagte sie: „Ich bleibe dabei, wenn der Mensch sich nicht an die Regeln hält, begeht er eine Sünde.“
Die Sünde schaute der Sitte fest in die Augen und erwiderte: „Ist dir schon einmal der Gedanke gekommen, in wie vielen Sünden eine Sitte steckt? Denk nur an das kleine Kind, dass sein Butterbrot nicht mag und es auf dem Weg von der Schule nachhause einem Bettler schenkt. Aber die Mutter anlügt, dass es das Brot gegessen hat. Eine Sünde, keine Frage, denn es steht geschrieben, dass du nicht lügen sollst, dass du Mutter und Vater ehren sollst. Aber was ist mit dem glücklichen Bettler, dem sein Hunger gestillt wurde?“
Jetzt war die Sitte sehr verblüfft. „Du meinst, das Kind ist glücklich mit dem, was es getan hat?“
„Wer weiß“, antwortete die Sünde, „das muss das Kind für sich selbst entscheiden. Wahrscheinlich wird es Momente geben, in denen es mit seiner Lüge sehr glücklich ist, aber es kann im nächsten Augenblick auch wieder sehr unglücklich darüber sein. Ob es eine Sünde war, das Butterbrot zu verschenken und die Mutter anzulügen, steht nirgendwo geschrieben. Also, wer will darüber urteilen?“
Nun fing die Sitte an milde zu lächeln. „Ich glaube, ich verstehe, was du mir sagen willst. Das Kind hatte gar keine Wahl. Wenn es die Sitte ausführen wollte, musste es gleichzeitig eine Sünde begehen. Und muss jetzt für sich entscheiden, was schwerer wiegt.“
„Genau so ist es“, sprach die Sünde, „Aber was schwerer wiegt hängt meist davon ab, wie die Umgebung darauf reagiert. Eine ungeschriebene Sünde ist erst eine Sünde, wenn jemand das Handeln verurteilt. Wenn jemand gekränkt ist, traurig, verletzt. Solange die Mutter nichts von der Lüge weiß, kann sie nicht urteilen. Leider, denn das würde dem Kind wahrscheinlich schon die Überlegung ersparen, dass es eventuell gesündigt hat. Denk nur, die Mutter wäre stolz auf ihr Kind, weil es einen armen Bettler glücklich gemacht hat. Sie würde dem Kind die Lüge verzeihen und es wäre nie wieder die Rede davon, dass eine Sünde in ihr steckte.“
„Aber dafür müsste das Kind der Mutter ja von seiner Lüge erst mal erzählen.“ triumphierte nun die Sitte.
„Ja“, sagte die Sünde nun leise und schaute betrübt zu Boden, „und genau darin liegt die eigentliche Sünde. Dass die Menschen sich viel zu oft selbst belügen und nicht zu ihrem Handeln stehen. Dass es ihnen viel zu oft wichtiger ist, selbst gut dazustehen. Ihr eigenes Ansehen über das Glück anderer stellen. Anstatt mit Stolz zu sagen: ich nehme die Schuld der Sünde auf mich, um einem anderen Menschen die wertvollste Sitte auf Erden zukommen zu lassen. Nämlich reine, selbstlose Liebe.“
Der Sitte traten bei diesen Worten Tränen in die Augen. Sie kniete vor der Sünde nieder, nahm ihre Hand und sprach: „Du hast mich zu Tränen gerührt. Und doch ist es keine Sünde, denn es sind Tränen der Freude, weil du mich etwas gelehrt hast, was ich ab jetzt immer im Herzen tragen werde.“