Let’s talk about sex

Asyali

Well-Known Member
Für ein Buchprojekt haben türkische Frauen Einblicke in ihre Erfahrungen mit dem eigenen Körper, mit Partnerschaft, Arbeit, Kindern, Alter, Glück und Tod gewährt
Von Kirsten Achtelik

Hülya Adak/Ayse Gül Altnay/Nilgün Bayraktar/Esin Düzel:
»So ist das, meine Schöne«. Orlanda Verlag, Berlin 2009, 183 Seiten, 14,90 Euro


Die Geschichten sollen »Lesetheaterstücke« sein: Sie sind Frauen von Frauen erzählt worden, sie sollen Frauen von Frauen weitererzählt werden. 50 Türkinnen unterschiedlicher sozialer und ethnischer Herkunft haben für dieses Projekt von ihrem Leben gesprochen, 40 davon wurden ausgewählt und von den Herausgeberinnen bearbeitet. Hülya Adak, Ayse Gül Altnay, Nilgün Bayraktar und Esin Düzel berichten in ihrer Einleitung, daß die Geschichten gerade durch ihre Unterschiedlichkeit auf Lesungen bei vielen Zuhörerinnen einen Wiedererkennungseffekt und ein Gemeinschaftsgefühl hervorgerufen haben: »Ich bin ja doch nicht allein!« Ausdrücklich wünschen sich die Herausgeberinnen, die bereits ein weiteres Buch planen, daß Leserinnen inspiriert werden, ihre eigenen Geschichten mit anderen zu teilen – kurz, daß Frauen mehr miteinander über ihre Sexualität reden und daraus neues Selbstbewußtsein gewinnen. Die vier verstehen sich als Feministinnen, die Frauen darin bestärken wollen, ihre eigene Sexualität kennenzulernen und sie zu genießen.

Die wenigsten Frauen sprechen explizit über ihre sexuellen Erlebnisse, Praktiken und Bedürfnisse. Themen wie Selbstbefriedigung, das »erste Mal« und Orgasmen werden oft eingebettet in Reflexionen über damit verbundene Erwartungen, Schuldgefühle und Ängste. Die meisten sprechen über ihre Kindheit und Jugend, über ihre Beziehung zu ihren Eltern und über die zu ihren Partnern und Partnerinnen, über die Verbindung oder Trennung von Sexualität und Liebe. Bei einigen geht es um psychische und physische Gewalt und um sexuelle Belästigung und den Umgang damit. Die »heißen« Themen, die in der öffentlichen Debatte über Frauen aus islamisch geprägten Ländern diskutiert werden, kommen auch hier zur Sprache: Zwangsheirat, Kopftuch, Jungfräulichkeit. Die persönlichen Aussagen dazu lassen sich jedoch nicht in die üblichen Klischees einordnen, sie regen vielmehr zu einem neuen Nachdenken an, das über stereotype Zuschreibungen hinausgeht.

Deutlich wird, daß die meisten Frauen einen Kampf austragen: mit ihrem eigenen Körper, mit ihrer Umwelt, mit sich selbst. Einen Kampf um Unabhängigkeit, Anerkennung und Verantwortung. Einige Geschichten kommen westeuropäischen Leserinnen so fremd vor, als hätten sie sich vor 1000 Jahren hinter 1000 Bergen zugetragen – und handeln doch in den 70er Jahren in der Bundesrepublik. Andere klingen so vertraut, als erzählte sie eine Nachbarin – und sind doch in einem türkischen Dorf im vergangenen Jahrhundert passiert.

Über Tabus wird viel gesprochen in diesen Geschichten – und noch mehr nicht gesprochen, sondern angedeutet und umschrieben. Da ist zum Beispiel Nevbahar, die mit ihren Freundinnen ungezwungen über Jungfräulichkeit, Monatsblutung und Eheprobleme reden kann, aber betretenes Schweigen erntet, wenn sie ihre Menopause erwähnt. Oder die Armenierin Sogig, deren Beziehung zu einem Türken von ihrer Familie einfach ignoriert wird, weil nicht sein kann, was nicht sein darf; Hilda, die sich dafür schämt, daß sie mit 23 immer noch keinen Freund hat; die transsexuelle Sinem, die von ihrer Familie an eine Heizung gekettet und halb totgeschlagen wurde und es satt hat, ihres Andersseins wegen verfolgt zu werden.

Einige reden über ihr Körpergefühl. Wie Nuran, deren Kosmetikerin sie als die behaarteste Frau der Welt bezeichnet und die ihre Auffassung von Fitneß so beschreibt: »Ich mache zwei Stunden Step-Aerobic, dann gehe ich in die Konditorei, kaufe ein Kilo Schokolade und esse es.« Was bedeutet es, eine Frau zu sein? Diese Frage zieht sich durch alle Erzählungen. Und die Antworten darauf sind so unterschiedlich wie die Frauen selbst. Manche Geschichten sind wahnsinnig komisch, manche herzergreifend traurig, bei vielen würde man gern nachfragen: Wie war das genau? Was ist dann passiert? Warum hast du das so gemacht? Die Berichte eignen sich wunderbar zum gegenseitigen Vorlesen. Und im Anschluß daran sollte noch genug Zeit und Wein da sein, damit auch die Zuhörerinnen zu Erzählerinnen werden können.
 
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