AW: neue gastarbeiter
Auf die Gefahr, mich völlig unbeliebt zu machen: Wenn ich das richtig gelesen habe, geht's nicht um Zuwanderung aus Mitgliedsstaaten der EU, sondern aus Drittstaaten. Denn innerhalb der EU herrscht eh' Freizügigkeit. Nein, hier geht's um was ganz anderes:
Ausgewählte Arbeitskräfte aus armen Ländern könnten künftig für drei bis fünf Jahre in einem EU-Land leben, Geld in die Heimat überweisen und anschließend mit neu erworbenem Wissen zurückkehren, erläuterte Schäuble. Experten der Vereinten Nationen sähen eine solche «zirkuläre Migration» als sinnvoll und nützlich an, sagte der Bundesinnenminister.
Es geht anscheinend sozusagen um eine Neuauflage der Green-Card auf EU-Ebene. Und dagegen ist zumindest aus meiner Sicht wenig einzuwenden: denn Fakt ist, dass in bestimmten Branchen zunehmend Fachkräfte fehlen. Fakt ist aber auch, und das scheint mir viel wichtiger, dass zumindest Deutschland - in anderen Ländern sah und sieht es recht unterschiedlich aus - sich über Jahrzehnte in punkto Zuwanderung sehr schwer getan hat. Und tut. Und das ändert sich jetzt offenbar allmählich.
Menschen, die aus wirtschaftlichen Gründen ihre Heimat verlassen und im Ausland ihr Glück suchen, hat es immer gegeben und wird's immer geben: dafür braucht man z.B. nicht erst in der amerikanischen Einwanderungsgeschichte herumzugraben (denkt nur an die vielen Deutsche oder Iren, die nach USA emigriert sind).
Es reicht der Blick auf die ersten türkischen Migranten, die nach Deutschland kamen. Aus wirtschaftlichen Gründen angeworben, kamen sie nur aus wirtschaftlichen Gründen: ein vollkommen legitimes, nachvollziehbares und sehr menschliches Motiv.
Viele sind hier geblieben, etliche wieder in die Türkei zurückgekehrt. Tatsache aber ist, dass die deutsche Gesellschaft sich mit Integrationsfragen bis heute nicht leicht tut. Erst seit sechs Jahren hat jedes in Deutschland geborene Kind ausländischer Eltern automatisch das Recht auf die deutsche Staatsangehörigkeit, zum Beispiel. Es gäbe weitere Beispiele, aber das würde hier zu weit führen.
Der Punkt, um den es geht, ist auch folgender: Wer aus Nicht-EU-Staaten, wie z.B. Indien, Afrika, Südamerika, Irak, Iran, Libanon oder allen möglichen anderen Ländern der Welt nach Europa will - und das sind lt. Migrationsstatistiken die Allerwenigsten! - hat im Grunde nur eine Chance, wenn er/sie politisch oder aus humanitären Gründen verfolgt ist oder heiratet. (Eine Ausnahme bilden, glaube ich, nur die Commonwealth-Staaten und ehemalige französische Kolonialstaaten.) Das hält die Leute aber nicht davon ab, unter Umständen auch illegal einzuwandern. Und wenn sie's legal tun, als Flüchtlinge Asyl beantragen, werden sie zumindest in Deutschland erstmal lange Zeit mit Arbeitsverboten belegt und staatlich alimentiert. Also gesetzlich zum Nichtstun verdonnert, während sie warten, dass sie endlich tun können, wofür sie einzig und allein kommen: arbeiten, Geld verdienen, einen (Groß-)Teil davon nach Hause schicken, um sich und ihren Familien eine wie auch immer geartete bessere Existenzgrundlage zu schaffen - und dann wieder zurückkehren. Als gemachter Mann. Das ist der Traum, zumindest oft. Die Realität sieht anders aus.
Ob Ihr es sehen wollt oder nicht: Menschen, die's daheim nicht mehr aushalten, aus welchen Gründen auch immer, kommen sowieso. Und wenn sie Pech haben, richtig Pech, müssen sie horrende Schulden bei Menschenschleppern abstottern, irgendwelchen Typen, die mit der Not anderer ihr Geld machen. Ist das menschenwürdig? Nein. Legal? Erst recht nicht. Und Länder oder ganze Staatengebilde, die das ganze Problem einfach verkennen, sich qua Gesetzgebung abschotten und so tun, als gäbe es keine Wirtschaftsmigration, handeln im Grunde völlig unethisch. Die großen Konfliktlinien sind doch längst nicht mehr nur die innerhalb der, verzeiht bitte den Ausdruck, kleingärtnerischen deutschen Gesellschaft. Die verlaufen längst ganz woanders, und zwar im Wesentlichen zwischen Nord und Süd, Industriegesellschaften, Schwellenländern und der so genannten dritten Welt. (Ich warte, sehr ungern, nur auf den Tag, an dem ein Krieg um Wasserresourcen ausbricht.)
Viele, oder die Meisten, oder sogar alle von uns fordern hier gern Solidarität und Integration ein. Ja, gern! Wunderbar! Aber warum soll das denn nur für einzelne, ausgewählte Gruppen und nicht auch für andere gelten? Ich kann dieses "Das Boot ist voll"-Geschreie, entschuldigt bitte, nicht mehr hören, schon lange nicht mehr. Es bereitet genau den Leuten, die alles andere als Integration im Sinn haben, den Boden. Und mehr.
Jedenfalls glaube ich, die EU, nein, nicht nur die EU, viel zu abstrakt: jede Gesellschaft kann im Grunde nur profitieren, wenn sie sich öffnet, Einflüsse von außen zulässt und menschenwürdige Bedingungen für Migranten schafft. Egal, aus welchen Gründen sie kommen. Und wenn dieser schwerfällige Riese EU das nun endlich kapiert, kann ich das nur begüßen. Denn Menschen dazu zu treiben, dass sie windige Schlepper anheuern und lügen müssen, um etwas zu tun, was ein Menschenrecht ist: Arbeit zu finden: sich eine Existenz aufzubauen: ist unmoralisch, unverantwortlich und verkennt die Realitäten.
Und noch was möchte ich Euch zu bedenken ans Herz legen: Wenn ein Staatenverbund wie die EU solche Signale setzt, nämlich befristete Zuwanderung zu vereinheitlichen und legalisieren, bedeutet das was anderes als, unter Umständen, die Konkurrenz um schlecht bezahlte Mini-Jobs. Es bedeutet, zumindest aus deutscher Sicht, einen echten Politikwechsel. Man bekennt sich endlich dazu, Einwanderungsland zu sein. Und zwar umso verbindlicher, als dass per EU-Gesetzgebung eine Harmonisierung auf ganzer Linie angestrebt ist, was der Sache sehr viel mehr Nachdruck verleiht, als wenn die Große Koalition in Berlin irgendwas im Alleingang beschließen würde (was dann womöglich in Brüssel nicht lange Bestand hätte).
Und von diesem Bekenntnis zu einer geänderten Zuwanderungspolitik können im Endeffekt alle profitieren. Alle! Alles andere wäre, zynisch argumentiert, über kurz oder lang wahrscheinlich sogar einklagbar.
Denn Integration hat ja nicht nur was mit den Menschen zu tun, von denen sie permanent eingefordert wird - es ist auch die Bringschuld einer jeden Gesellschaft. Wenn Zuwanderung im allgemeinen Bewusstsein einer Gesellschaft als selbstverständlich wahrgenommen wird, wird es auf Dauer für alle einfacher. Und vielleicht würde das uns dann endlich auch manche große politische Pseudo-Debatte ersparen,
hofft zumindest
anouk