Im Netz - DER TEXT

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sdost

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AW: Im Netz - DER TEXT

Joelle nahm die Karte, sah sie kurz an und steckte sie in die Handtasche. Dann legte sie einen 10 Euroschein auf den Tisch und verließ das Lokal mit den Worten „sie sind eingeladen, wir telefonieren noch“.
Erol ließ sich mit seinem Frühstück Zeit und blätterte in der ausliegenden Zeitung. Nachdem er den letzten Schluck Kaffee getrunken hatte, griff er sich seinen Mantel und wandte sich an die Bedienung um den Weg zur Untertrave zu erfragen.
„Ist es dafür nicht noch zu früh?“ war die abweisende Antwort der Kellnerin. Erol verstand nicht so recht, was die Dame damit meinte und sah sie stirnrunzelnd an. Sofort schob sie ein versöhnliches „war nur ein Scherz“ hinterher und erklärte eine Spur zu hastig den Weg dorthin. Er nickte ihr zu, bedankte sich und verließ die Kneipe. Er überquerte die Strasse und kam so auf die Trave zu, die durch eine durchgängige Metallabsperrung abgesichert war. Das braun-graue Wasser plätscherte vor sich hin und das alles schien eher ein Kanal als ein Fluss zu sein. Auf dem Metallgeländer saßen dutzende Möwen, die ihn scharf musterten. Hatte dieser Mensch Brot dabei oder lohnte es nicht sich startklar zu machen? Schnell erkannten sie, dass er kein Futter dabei hatte, waren aber dennoch auf der Hut um rechtzeitig fliehen zu können, sollte er die Idee haben, die Tiere aufzuscheuchen. Einige mutige blieben sitzen, andere stießen sich ab und flogen eine kleine Runde um sich dann sofort wieder auf das Geländer zu setzen. Dabei rissen sie noch unerfahrene Möwen mit, so dass es größere Lücken in der Phalanx gab. Erol kam auf das Holstentor zu, überquerte die Strasse und kam so an die Untertrave. Er betrachtete beim vorbeigehen die Fassaden der Häuser auf der gegenüberliegenden Seite. Nun verstand er die laxe Bemerkung der Kellnerin aus der Kneipe von vorhin. Diese Lokale waren nicht mehr das was man als vorzeigbar bezeichnen könnte. Ein Taxi rauschte heran und eine schlanke, hochgewachsene Frau stieg aus. Schwankend überquerte sie die Strasse und sogar der tugendhafte Erol erkannte, welcher Art Broterwerb sie nachging. Einer plötzlichen Idee folgend lief er hinterher und sprach sie an.
„Guten Tag, ich bin auf der Suche nach Melinda. Wissen sie wo sie anzutreffen ist?“
Die Dame sah Erol abschätzend an, zuckte die Achseln und ging weiter.
„Es ist sehr wichtig für mich.“
„Sie arbeitet ein paar Meter weiter runter im Balkanexpress. Die haben aber noch geschlossen, ist eine Nachtbar.“
Erol dankte für die Auskunft und ging die Strasse weiter entlang. Dann sah er das Lokal. Der Balkanexpress war eher unscheinbar, ein Lokal wie alle anderen hier. Um nicht aufzufallen ging er weiter. Dann, nach guten 50 Metern, wandte er sich der Trave zu und fragte sich erneut, was er hier eigentlich wollte. Er war Melinda nichts schuldig, hatte sie nicht mit Versprechungen dazu verleitet das zu tun, was sie getan hatte. Er war nur freundlich gewesen, mehr nicht. Und doch, da war das schlechte Gewissen nichts getan zu haben, als sie so dringend Hilfe gebraucht hatte. Aber er war kein Hellseher, konnte doch nicht ahnen in welchen Schwierigkeiten sie steckte. Und dann tauchte das Bild des wütenden Mannes wieder in seiner Erinnerung auf, welcher ihn per Webcam angebrüllt hatte, wo der Stoff sei. Es war also auch seine Sache. Als er sich wieder umdrehte, sah er ein Lokal mit dem Namen „Kelkit“. Na so etwas, dachte er bei sich, das ist ja der Name meines Herkunftsortes. Kelkit liegt im Nordosten der Türkei, nahe der Stadt Erzincan. Vielleicht traf er hier sogar noch Bekannte. Erwartungsvoll überquerte er die Strasse und betrat das Lokal. Eine Frau war gerade beim durchwischen und vom Tresen her rief eine männliche Stimme „wir haben noch nicht geöffnet“. Erol grüßte freundlich und trat an den Tresen heran.
„Ich habe auch nur eine Frage. Dieser Name hier, Kelkit, warum heißt das Lokal so?“
Hinter dem Tresen stand ein junger Mann, der Gläser spülte. Ein wenig missmutig sagte er, dass sein Vater aus Kelkit stammen würde. Erol erfragte neugierig den Namen des Vaters und war einigermaßen erstaunt einen ihm bekannten Namen zu hören.
„Ich glaube, ihren Vater zu kennen. Wenn er es ist, den ich meine, dann sind sein Opa und meine Mutter Geschwister, wir sind also verwandt.“
Der junge Mann ging zwei Schritte zurück, öffnete eine Tür und rief seinen Vater. Es dauerte nur kurz dann erschien eine massige Gestalt. Als diese Erol sah, lachte er aus vollem Hals, breitete die Arme aus und kam auf Erol zu. Beide umarmten sich und hatten Tränen in den Augen. „Mustafa, wie geht es dir“ fragte der Wirt.
„Nicht Mustafa, Erol. Ich bin Erol, der Sohn von Mustafa.“
„Nein, ich kenne doch meinen alten Freund Mustafa. Wie schön dich zu sehen.“
Erol sah etwas gequält zu dem jungen Mann am Tresen. Dieser zuckte die Achseln.
Mit den Worten, ich bin gleich wieder da stürmte der Vater aus dem Raum. Nun kam der Sohn an den Tisch an den sich Erol gesetzt hatte. „Mein Vater leidet an Demenz. Er lebt in einer Zeit, die 30 Jahre her ist. Es ist zwecklos sich dagegen zu wehren. Spielen sie einfach mit und tun so, als wären sie dieser Mustafa.“
Erol kamen die Tränen. Betroffen registrierte dies der junge Mann. Erol fing sich schnell und meinte nur, dass es ein unglaublicher Zufall wäre, dass er vorbeigekommen sei. In diesem Moment klopfte jemand heftig gegen die Scheiben. Die aus dem Taxi gestiegene Frau hatte Erol im Lokal sitzend ausgemacht. Angeheitert wie sie war, kam sie zur Tür herein und rief Erol zu, dass der Balkanexpress ein paar Meter weiter zurück lag. Dann war sie auch wieder verschwunden.
Der junge Mann mustert Erol fragend. Einer Eingebung folgend meinte Erol, dass er Infos über den Albaner sammeln würde.
„Lassen sie die Finger von dem, das ist ein ganz rabiater Hund.“
„Kennen sie Melinda?“
„Die arbeitet bei dem als Bardame. Ist ziemlich tief gefallen die Gute.“
„In wie fern?“
„Sie war sehr jung als sie aus Polen hergelockt wurde und eine Schönheit. Der Albaner hat sie geheiratet und nicht auf den Strich geschickt aber nach 15 Jahren Ehe hat er sich scheiden lassen und sie als Bardame beschäftigt um sie weiter unter Kontrolle zu haben. Was auch immer passiert ist, sie hat bei ihm ausgespielt.“
„Trauen sie ihm einen Mord zu?“
„Ihm selbst durchaus, aber er hat seine Leute. Er macht sich nie die Hände schmutzig ist auch nie in seinem Lokal zu sehen. Er hat sich ein Image geschaffen, was nicht mit der Realität kompatibel ist aber das wollen gewisse Leute hier nicht sehen. Darf ich ihnen einen Kaffee anbieten?“
Erol lehnte dankend ab und verwies auf sein erst vor kurzem beendetes Frühstück. Etwas unschlüssig verweilte er im Lokal.
„Auf meinen Vater brauchen sie nicht zu warten, er hat schon längst vergessen, dass sie hier sind.“
Erol verabschiedete sich und machte, dass er ins Hotel kam.
Dort erwartete ihn schon Feo und brannte darauf Neuigkeiten zu hören. Je mehr Erol erzählte, umso schockierter war sie. Diese Entwicklung war eine Katastrophe und sie drang darauf so schnell es ging Lübeck zu verlassen. Wer auch immer etwas von dir will, soll sich dort bei dir melden, sagte sie resolut. Immerhin konnte er verhindern, dass sie auf der Stelle nach Berlin zurück fuhren. Er wollte doch noch mit dieser Journalistin sprechen. So bummelten sie durch die Altstadt, fuhren bis nach Travemünde um dort am Ostseestrand spazieren zu gehen und kamen ziemlich K.O. wieder ins Hotel zurück. Joelle Mardin hatte sich nicht gemeldet und sie sollte sich nie wieder melden.
 
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sdost

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Am nächsten Tag waren sie wieder in Berlin und der Alltag hatte sie zurück. Die Reise nach Lübeck schien in der Erinnerung nun in irgendeiner Weise surreal und wurde schnell verdrängt. Erol saß wieder im Büro seiner Versicherungsagentur und bearbeitete einige Akten. Da kam ein auffallend unauffällig gekleideter Mann herein und Erol ahnte, dass das Ärger geben könnte.
„Guten Tag, Kommissar Westphal von der Lübecker Mordkommission.“
Mit diesen Worten streckte der Mann Erol eine Blechmarke entgegen und dieser hatte kaum die Chance einen prüfenden Blick darauf zu werfen, weil er sie hastig wieder einsteckte.
„Mordkommission Lübeck?“
„Ja. Wir haben da einen Mordfall und am Tatort wurde etwas gefunden, was sie sicher interessieren dürfte.“
Der Kommissar förderte einen Plastikbeutel hervor in dem sich etwas befand.
„Neben der Leiche wurde das hier gefunden. Es kommt schon mal vor, dass ein Mörder seinen Ausweis oder auch seine Visitenkarte am Tatort verliert und in unserem Fall lag ihre Visitenkarte neben der Leiche.“
„Um Himmels Willen, wie kommt die denn dahin?“
„Das fragen wir uns auch, vielleicht haben sie da eine schlüssige Erklärung?“
Erol erzählte von seiner Begegnung mit Joelle Mardin und das er ihr seine Karte überlassen hatte. Entweder hatte Joelle die Karte weitergegeben oder sie war ihr abhanden gekommen und so an den Tatort geraten.
„Worüber haben sie mit Frau Mardin geredet?“
Erol sah keinen Grund mit seinen Infos hinter dem Berg zu halten, war eigentlich ganz froh endlich mal alles los zu werden und erläuterte seinen Kenntnisstand. Der Kommissar war verblüfft, diese Fülle an Infos hatte er nicht erwartet. Nach dem Gespräch musste Erol versprechen sich zur Verfügung zu halten und niemandem von dieser Begegnung zu erzählen. Erol beschäftigte sich aber am Abend zu Hause derart intensiv mit den Ereignissen, dass es Feo nicht verborgen blieb und so bedrängte sie ihn zu erzählen, was ihm am Herzen lag. So erfuhr Feo von der Sache und war schockiert. Nachdem Erol alles erzählt hatte sagte Feo: „Polizei ist Ländersache. Lübeck liegt in Schleswig-Holstein und die schicken keine Polizeibeamten nach Berlin. Die Berliner Kripo leistet Amtshilfe und laden vor. Die machen keine Hausbesuche. Mit wem du auch immer gesprochen hast, von der Polizei war der sicher nicht. Erol war verzweifelt und wollte das nicht akzeptieren. So suchte Feo die Telefonnummer der Lübecker Kripo raus und rief an. Eine freundliche Frauenstimme meldete sich und als Feo Kommissar Westphal sprechen wollte, wurde ihr nur mitgeteilt, dass es keinen Beamten dieses Namens dort gäbe. Der einzige Kommissar Westpahl war schon vor 10 Jahren pensioniert worden.
 

Zerd

Well-Known Member
Erol hatte das Gespräch kopfschüttelnd mitgehört und nachdem Feo aufgelegt hatte, sackte er wie ein Häufchen Elend auf das Sofa und starrte entgeistert an die Wand. Er schien in diesem Moment sogar Giacomos Mitleid zu erregen, der entgegen seiner Gewohnheit, sich möglichst in sicherer Entfernung zu Erol ein gemütliches Plätzchen zu suchen, neben ihn aufs Sofa sprang, sich setzte und seinen müden Blick träge von Erol zur Wand, die er anstarrte, und wieder zurück zu Erol wandern ließ. Feo kam auf Erol zu, scheuchte Giacomo davon, setzte sich ihrerseits neben Erol hin und nahm seine Hand:

„Ich weiss auch nicht, was ich davon halten soll, hast Du eine Idee?“

„Eine Idee!?“, sprudelte es aus Erol hervor, „Was sollte ich eine für eine Idee haben: ich lerne ein Mädchen kennen, das sich als 24-jährige ausgibt und auch so aussieht, aber schon 15 Jahre verheiratet ist; die mir einen Brief schreibt von einer Wohnung, in der sie zwar umkommt, die aber offensichtlich nicht die ihre ist; die ihren kriminellen Ehemann aus Eifersucht verraten will und gleichzeitig davon träumt, mit ihrer Internetbekannschaft ein neues Leben im Ausland zu beginnen, und sich dafür sogar in Gefahr bringt, indem sie ihren Mann beklaut Dann noch diese merkwürdige Begegnung mit dieser Journalistin, die sich zwar melden will, es aber nicht tut und heute dieser Polizist, der offensichtlich keiner ist. Das alles wirkt einfach nur wie ein skurriler Traum auf mich, ein Albtraum! Du kennst mich doch, so etwas überfordert mich, ich bin doch ein stinknormaler Versicherungsvertreter, wir träumen sogar ausschließlich von Prämien und Provisionen. Was sollte ich da für eine Idee haben? Zwick mich bitte, weck mich auf, ich will raus hier!“

Feo erinnerte sich plötzlich daran, wie sie Erol vor einigen Jahren kennengelernt hatte. Sie hatte sich damals mit einer guten Freundin in einem Cafe verabredet, um in aller Ruhe über ihren letzten Urlaub zu plaudern. Ihre Freundin hatte es sich zwei Wochen in einem All-inclusive-Hotel direkt am Mittelmeer gut gehen lassen, während Feo eine Kulturreise gebucht hatte, die sie innerhalb von zehn Tagen durch drei europäische Hauptstädte führte. Beide erzählten stundenlang begeistert von ihren Erlebnissen, was ihnen wie eine Fortsetzung ihrer schönen Urlaubszeit vorkam. Irgendwann im Laufe des Abends kreuzten sich plötzlich ihre und Erols Blicke, der mit einigen Freunden zwei Tische weiter in Feos Blickrichtung saß. Schon zuvor, als ihre Freundin von Pedro erzählt hatte, dem attraktiven Rettungsschwimmer am Strand, den sie so gerne etwas näher kennengelernt hätte, war ihr dieser südländisch aussehende gepflegte Mann etwa in ihrem Alter aufgefallen und sie hatte sich vorgestellt, dass auch Pedro ungefähr so ausgesehen haben könnte. Aber erst nach diesem zufälligen Blickkontakt war ihr Interesse geweckt und während sie sich weiter angeregt mit ihrer Freundin unterhielt, wanderte ihr Blick nun immer wieder an ihrer Freundin vorbei zu ihrem Pedro. Das musste wohl auch Erol aufgefallen sein, der nun dasselbe tat und später noch seinen Stuhl zurecht rückte, wohl um Feo genau vor sich in seinem Blickfeld zu haben. Irgendwann gingen dann zunächst Erols Freunde. Feo erkannte, dass sie ihn aufforderten, mitzugehen, da sie an diesem Abend wohl noch eine andere Bar oder Diskothek aufsuchen wollten. Aber er lehnte freundlich ab und bestellte sich noch ein Getränk. Später sprach auch Feos Freundin davon, dass es nun Zeit für sie sei, aufzubrechen. Feo lächelte sie an und sagte ihr, dass sie gerne noch ein wenig dableiben wolle, vielleicht ein kleines Gläschen Wein trinken alleine in Gedanken an die schöne Ferienzeit. Die Freundin schaute zwar einen Moment lang etwas verwundert, bescheinigte ihr aber dann, dass das wohl eine gute Idee wäre, sie aber nun unbedingt losmüsse.

Als sie nun so dasaßen, beide jeweils alleine an ihren Tischen, fremd, aber auf eine merkwürdige Weise auch schon etwas vertraut, vermied Feo jeden weiteren direkten Blickkontakt. Kaum merklich stieg in ihr zunächst ein leichtes, dann aber von Minute zu Minute zunehmendes Gefühl der Unbehaglichkeit auf. Sie wollte schon die Bedienung herbeirufen, bezahlen und aufstehen, als sie aus den Augenwinkeln bemerkte, dass Erol aufstand und auf sie zukam. Die Zeit schien für sie stillzustehen als sie ihre Gänsehaut spürte und einen inneren Kampf gegen die auf ihrem Gesicht allmählich aufkommende Anspannung und Röte führte.

(Wer gerne weiter erzählen möchte, der siehe auch: Im Netz – Prolog)
 
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