Aleviten
Der Glaube der Aleviten
Die Aleviten sind
Muslime, die aber mit den für andere Muslime religiös verbindlichen Vorschriften liberal umgehen. Sie halten sich nicht an alle Fünf Säulen des Islams (aus Sicht der Sunniten), kennen keine Pflichtgebete und brauchen zum Beten keinen besonderen Raum und keine spezielle Zeit. Jede Alevitin und jeder Alevit betet dann und dort, wo er oder sie will auf eine Art, wie es ihm oder ihr entspricht.
Der
Koran ist für Aleviten kein Gesetzbuch, sondern die Niederschrift von Offenbarungen, die kritisch gelesen werden dürfen (siehe dazu:
Buyruk). Sie sehen in ihm kein
verbalinspiriertes Buch, sondern interpretieren ihn
mystisch. Sie lehnen auch die
Schari'a, das islamische Gesetz, ab.
Der heutige Glaube der Aleviten ist sehr stark vom
Humanismus und
Universalismus bestimmt. Im Zentrum ihres Glaubens steht daher der Mensch als eigenverantwortliches Wesen. Wichtig ist ihnen das Verhältnis zum Mitmenschen. Die Frage nach dem Tod und den Jenseitsvorstellungen ist demgegenüber für sie nebensächlich. In der Alevitischen Lehre ist die Seele eines jeden Menschen unsterblich, sie strebt durch die Erleuchtung die Vollkommenheit mit Gott an, sie durchwandert auf ihrem Weg zur Erleuchtung viele (tausend) Menschenleben.
Diese liberalen Auffassungen, vor allem die Ablehnung der Scharia, unterscheidet Aleviten besonders von den
Sunniten. Darum haben viele Sunniten, dabei die meisten islamischen Gelehrten, Vorurteile gegenüber Aleviten oder betrachten sie überhaupt nicht als Muslime.
Toleranz
Aleviten bekennen sich zu
Humanität,
Demokratie und den allgemeinen Menschenrechten. Diesen Werten fühlen sie sich auf eine undogmatische Weise verpflichtet. Sie bejahen besonders die Meinungs- und Religionsfreiheit. Sie gestehen jedem Menschen ausdrücklich das freie Selbstbestimmungsrecht und damit das Recht auf einen eigenen Glauben zu. Jeder kann nach ihrer Auffassung beliebige Rituale pflegen oder darf sogar Atheist sein, sofern er seine eigenen Ansichten nicht anderen aufzwingen will. Darum haben Aleviten zu anderen Religionen, Glaubensbekenntnissen und Ideologien ein sehr offenes Verhältnis. So sagt ein alevitisches Gedicht:
Adımız miskindir bizim Düşmanımız kindir bizim Biz kimseye kin tutmayız Kamu alem birdir bizim.
Sie nennen uns Ergebende, Wir haben nur einen Feind, den Hass Wir hassen niemanden Alle sehen wir gleich und eins.
geschrieben von Yunus Emre
Der Alevitische Glaubensdienst: "Cem"
Die Aleviten beten nicht in einer
Moschee, sondern treffen sich zu Kulthandlungen, genannt Cem, in einem
Cemevi (Versammlungshaus) zur
Rezitation von Gedichten und zum
rituellen Tanz (
Semah). Dieser wird von Frauen und Männern gleichzeitig ausgeführt und dabei vom Dede ("Großvater") oder von der Ana ("Großmutter") beaufsichtigt. Dedes und Anas sind Personen, die sich mit den alevitischen Ritualen und Traditionen sehr gut auskennen und daher hohes Ansehen unter den Aleviten genießen. Während der Cem in den dörflichen alevitischen Gemeinschaften vor der zunehmenden Abwanderung weiter Teile der alevitischen Bevölkerung Ostanatoliens unregelmäßig stattfand, nämlich immer dann, wenn ein Dede ins Dorf kam, erlebte das alevitische Kongregationsritual im Zuge der zunehmenden Urbanisierung des Alevitentums, die sich seit mehreren Jahrzehnten beschleunigt vollzieht, eine gewisse Umgestaltung, die von manchen Beobachtern zum Teil auch mit einer Sunnitisierung des Alevitentums in Verbindung gebracht wird: Der Cem wird nun in von alevitischen Vereinigungen und Kulturvereinen zur Verfügung gestellten Versammlungshäusern in regelmäßigen, oftmals wöchentlichen Zyklen abgehalten, aus den Dörfern mitgebrachte heterogene Ritualelemente werden dabei vereinheitlicht. Auf diesem Wege ist der Cem in den letzten Jahren zu einem prominenten Mittel der bewussten Neubestimmung der alevitischen Identität in der Türkei geworden, die sich seit dem Militärputsch von
1980, in dessen Folgezeit ein gewisses Wiedererstarken sunnitischer politisch-religiöser Kräfte verzeichnet werden konnte, in einem konstanten Prozess der kulturellen, religiösen und geschichtlichen Wiederentdeckung und Neuverortung befindet.
Der
Semah symbolisiert das Universum (
Evren) mit den
Planeten des Sonnensystems und der
Galaxie. Er wird daher im Kreis getanzt, wobei die Semah-Tänzer sich wie Planeten sowohl um sich selbst als auch um die Kreismitte drehen. Seit dem
12. Jahrhundert, eventuell auch schon früher, diente dieser heilige Tanz zur geistigen Annäherung an
Allah. Darum sollte er nach alevitischer Auffassung nicht öffentlich vorgeführt werden.
Die Verschleierung der Frau ist bei Aleviten nicht vorgeschrieben. In ihrer Lehre sind Frauen und Männer absolut gleichgestellt, in der Praxis zeigt sich dies jedoch nicht überall. Dies hat aber weniger mit der alevitischen Religion als vielmehr mit den gesellschaftlichen Wertvorstellungen von Aleviten und Türken bzw. Türkischstämmigen insgesamt zu tun, die tendenziell in einer traditionell patriachalen Gesellschaft aufwachsen.
Aleviten und Alawiten
Die Aleviten werden oft mit den "Alawiten" verwechselt, die nach ihrem Gründer auch
Nusairier genannt werden. Erstere leben hauptsächlich in der Türkei, letztere dagegen hauptsächlich in der ehemaligen Republik Hatay (heutige türk. Provinz Hatay),
Syrien oder im
Libanon. Ihre
Kultur,
Sprache,
Traditionen und Ansichten zum
Islam sind verschieden, aber vergleichbar.
Gemeinsam ist ihnen die besondere Verehrung von
Ali ibn Abi Talib, dem Schwiegersohn
Muhammedss. Dieser Gemeinsamkeit verdanken sie auch die ähnlichen Namen. Hz. Ali wird im Alevitentum mit dem Löwen assoziert. Ein Sprichwort lautet: "Ali ist der Löwe Gottes". Er ist das Symbol für Gerechtigkeit und Güte, also Eigenschaften Gottes, denen ein Alevit besonders nacheifert.
Vorschriften
Die Alevitische Glaubenslehre basiert auf der
Entscheidungs- und Glaubensfreiheit des Menschen. Niemand hat eine Verpflichtung etwas tun oder glauben zu müssen.
Die Grundpfeiler der alevitischen Vorschriften sind in diesem einen Satz
eline beline diline sahip ol vereint. Er besagt folgendes:
- eline sahip ol: Beherrsche deine Hände, das heißt: Stehle nicht, tue nichts Falsches.
- beline sahip ol: Beherrsche deine Lende, das heißt: Habe keinen Sex vor der Ehe bzw. während der Regel der Ehefrau, zügele Deinen Sexualtrieb.
- diline sahip ol: Beherrsche deine Zunge, das heißt: Lüge nicht, führe niemanden in Versuchung, auf den Irrweg etc..
Das Verbot des Tötens, des Diebstahls, der Verleumdung und des Ehebruchs gelten für Aleviten gegenüber allen Menschen. Damit wollen sie die Menschlichkeit und das Zusammenleben aller Menschen fördern. Hinzu kommen alltägliche Vorschriften der Nächstenliebe, Hilfsbereitschaft, Bescheidenheit und weitere. Jede Alevitin und jeder Alevit sollte diese Vorschriften anwenden, muss es aber nicht.