AW: Armee verliert Machtkampf mit Premier Erdogan
Hallo Turgay,
von Deinen Ausführungen zum Vehältnis der Aleviten zu den Kemalisten abgesehen, verzichtest Du auf argumentative Ausführungen, die über den deklaratorischen Charakter hinausreichen, mit dem Du meinen Standpunkt bestreitest, bzw. das Gegenteil behauptest.
Stattdessen springst Du auf den Zug von Blacky auf, der es sich seinerseits nicht verkneifen konnte, sich noch einmal dafür zu bedanken.
Dem Gesprächspartner ausreichende Geschichtskenntnisse abzusprechen und sich damit gleichsam selbst einen Wissensvorsprung anzumassen, ist schlicht deplaziert. Abweichende Standpunkte lassen sich durchaus auch ohne solche negativen persönlichen Bewertungen formulieren.
Wenn persönliche Spitzen dieser Art als ausschliessliche „Begründung“ irgendeiner Behauptung/Feststellung dienen, macht es die Sache auch nicht gerade besser.
Daran ändert auch die Unterstreichung der Behauptung durch die Verwendung des Wortes „definitiv“ nichts.
Dass Du mir zuguterletzt noch Oberlehrerhaftigkeit vorhältst, entbehrt wiederum nicht einer gewissen Komik.
Das schliesst freilich nicht aus, dass ich hier und da tatsächlich oberlehrerhaft wirke.
Der Unterschied zwischen uns drei Oberlehrern besteht hier demnach darin, dass ich noch nicht in abfälliger Weise persönlich geworden bin.
In Deinem posting gibst Du ausserdem zum Besten, meine Ausführungen seien hier wie anderswo unverständlich.
Das kann ich in dieser allgemeinen Formulierung nicht nachvollziehen. Verständnis setzt natürlich eine gewisse Bereitschaft voraus; ob diese gegeben ist, scheint mir bei Dir wiederum nicht zuletzt eine Frage des persönlichen Standpunktes zu sein.
Dass die überwiegende Mehrheit der Aleviten dem kemalistischen Lager angehört, ist jedenfalls eine Aussage, die so überall nachzulesen ist und die mir gegenüber ausser Dir auch noch niemand ernsthaft bestritten hat.
Dagegen spricht keinesfalls, dass sie vom Staat nicht als religiöse Minderheit anerkannt werden.
Die Aleviten sind nicht dumm. Die Staatsphilosophie der Kemalisten: ein Staat, ein Staatsvolk, eine Staatsreligion (Islam), Trennung von Staat und Religion, ist allseits bekannt.
Für diese Haltung gibt es Gründe, die ebenso bekannt sein dürften, auch wenn die Aleviten diese nicht teilen.
Die Kemalisten schätzen die Aleviten nicht als ernstzunehmende Gefahr/Bedrohung für den Laizismus ein, die konservativen sunitischen Muslime dagegen schon.
Umgekehrt sehen die Aleviten die laizistischen Kemalisten nicht als „Gegner“ ihrer Religion an, die Suniten dagegen schon.
Indem die an sich laizistischen Kemalisten den Islam staatlich institutionalisieren, versuchten/versuchen sie gleichsam, ihn zu kontrollieren. Die staatliche Organisation des bzw. das staatliche Mitwirken am religiösen Lebens der Sunniten aber auch deren damit zusammenhängende finanzielle Förderung dient der staatlichen Einflussnahme und Kontrolle dieser nach wie vor nur schwer zu bändigenden gesellschaftlichen Macht.
Würden die Aleviten (dann auch die Yesiden, Christen usw.?) als eigene religiöse Glaubensrichtung rechtlich mit den Sunniten gleichgestellt werden, führte das womöglich zu einer weiteren Polarisierung/Spaltung in der ohnehin nicht gerade homogenen türkischen Gesellschaft. Aus der staatlichen Anerkennung und finanziellen Förderung des Alevitentums könnten darüberhinaus ernsthafte Konflikte mit den leider nach wie vor die Umma beherrschenden konservativen Kräften des sunnitischen Islams erwachsen, in dessen Augen die Aleviten Ungläubige sind. Man denke nur an den Vorfall in Sivas Anfang der neunziger Jahre.
Ich glaube kaum, dass sich in den konservativen Köpfen seither grundlegendes geändert hat.
Selbstverständlich ist die Haltung der Kemalisten in letzter Instanz ungerecht und hat ausserdem im Laufe der Zeit zu einer gesellschaftspolitischen Verkrustung geführt, die im Zusammenhang mit Inkompetenz, Koruption usw. neben den Aleviten auch andere modern eingestellte, freiheitlich und fortschrittlich denkende Menschen in der Türkei frustriert.
Gleichwohl sollten die grundlegenden, mE nach wie vor massgeblichen religiösen und gesellschaftlichen Hintergründe nicht vergessen werden.
Insoweit sehe ich unterm Strich im Verhältnis Kemalisten/Laizisten- Aleviten ein auf der Hand liegendes Zweckbündnis, im Verhältnis Aleviten- Suniten/Islamisten dagegen eine von gegenseitigem Misstrauen geprägte Gegnerschaft. Die konfliktäre Beziehung liegt mehr oder weniger zwangsläufig in der „Natur der Sache“: dem bei näherer Betrachtung unüberbrückbaren Unterschied zwischen den beiden Glaubensrichtungen im der Auffassung bzw. dem Umgang mit der koranischen Religion.
Nun repräsentiert die AKP den konservativen sunitischen Islam, mit dessen Vertretern die Aleviten sich in dem bekannten historisch gewachsenen Religionskonflikt befinden, der meiner Meinung nach noch lange nicht überwunden ist.
Im Gegenteil stellt sich die Frage, was wäre, wenn Erdogan und Konsorten könnten, wie sie wollten!?
Zu meiner Aussage: Europäische Orientierung der Kemalisten, asiatische Orientierung der konservativen Suniten bzw. ihrer politischen Vertretung, der AKP bzw. zu Deinem Widerspruch hierzu:
Folgt man Deiner Erwiderung, könnte man glatt davon ausgehen, die Türkei läge nicht zwischen Europa im Westen und Asien im Osten.
Man könnte meinen, die Türkei wäre nicht den verschiedenen gesellschaftlichen und kulturellen Einflüssen aus den beiden Kontinenten ausgesetzt.
Vielmehr könnte man glauben, tendenziell uniforme, religiös- patriarchalisch geprägte authoritäre Gesellschaften gäbe es gleichermassen in Europa wie es demokratische, pluralistische, weltlich orientierte, von der Wirtschaft und Wissenschaft dominierte Gesellschaften in Asien gebe.
Man könnte schliesslich annehmen es gäbe überhaupt nicht so etwas wie eine kemalistische, weltlich orientierte Elite, die der westlichen Kultur „näher“ steht, als die frommen AKP- Anhänger.
Zuguterletzt könnt man gar zu dem Schluss kommen, der sog. Kulturkampf zwischen weissen und schwarzen Türken sei lediglich eine Erfindung unwissender Nichttürken.
Das dem nicht so ist, wird anschaulich und nachdrücklich unter Beweis gestellt, vergleicht man die Verhältnisse in den nicht laizistischen islamischen Staaten Asiens mit denen in der Türkei und betrachtet man anschliessend die zum Teil erheblichen Unterschiede in den gesellschaftlichen Lebensverhältnissen innerhalb der Türkei.
Je nachdem, ob man sich in Istanbul-West, auf dem Land oder in Anatolien aufhält, begegnet man zum einen einer vglw. freien Gesellschaft von einer gewissen Vielfalt und Bandbreite, in der die Menschen ihr Leben gemäss ihren individuellen Neigungen führen.
Bezeichnend hierfür sind die nach wie vor mehrheitlich unter kemalistischem Einfluss stehenden Medien. Der Unterschied zu den westlichen Vorbildern ist nach Art und Umfang nur graduell- inkl. selbstbewusster, emanzipierter Moderatorinnen, bekannter Frauen und Männer aus dem gesellschaftlichen Leben in den Studios oder leicht bekleideter, freizügiger Sängerinnen/Tänzerinnen in zahlreichen Musikvideos.
Auf der anderen Seite stossen wir auf traditionelle, relativ geschlossene und einförmige Gesellschaftsstrukturen muslimisch patriarchalischem Zuschnitts, in denen die Frauen an Haus und Herd gebunden sind, sich nur verhüllt in der Öffentlichkeit zeigen und das Interesse der Einzelpersonen dem kollektiven Interesse der Familienclans untergeordnet sind.
Wenn ich diese Unterschiede nenne- die übrigens meiner Kenntnis nach ebenfalls von niemandem ausser Dir ernsthaft bestritten werden, tue ich das zunächst einmal ohne persönliche Wertung.
Darüberhinaus ziehe ich aus den in den vorhergehenden postings genannten Gründen auch persönlich die Kemalisten der AKP vor- trotz der Rolle, die das Militär in der Gesellschaft spielt. Aus meiner Sicht ist das eine Frage des kleineren Übels.
Abschliessend möchte ich noch einmal den hier so unbeliebten Vergleich mit der deutschen Geschichte bemühen:
Hitler konnte letztlich nur an die Macht kommen, weil die Deutschen- insbesondere im Staatsdienst, bei der Polizei, in der Richterschaft usw. mehrheitlich konservativ bis authoritär eingestellt waren. In ihrer Gesinnung hatte sich noch kein tragfähiges demokratisches Selbstverständnis entwickelt, im Gegenteil, viele dachten unselbständig, waren obrigkeitshörig und standen daher der Weimarer Republik skeptisch bis ablehnend gegenüber.
Ist es nicht ebenfalls ein Problem des konservativen sunnitischen Islams, dass sich in den muslimischen Staaten/Gesellschaften/Clans devote Mehrheiten von dominanten Minderheiten authoritär führen und bestimmen lassen? –und das mit zum Teil verheerenden Folgen für sich selbst und andere, wie die Lebensverhältnisse in so manchem islamischen Land eindrücklich vor Augen führen?
Besteht dieses Problem nicht für jedermann erkennbar im Umfang des gesellschaftlichen Geltungsanspruchs der Religion in den nicht laizistischen muslimischen Ländern und zeigt es sich nicht ganz offensichtlich darin, dass in diesen Ländern wirklich alles und jedes religiös legitimiert und begründet wird, dass mithin religiöses Ideologisieren und Reglementieren auf bis in die Privat- und Intimsphäre hinein von den Menschen Besitz ergreift? Und führt nicht wiederum diese zwanghafte Gleichschaltung zur Einschnürung des Lebens, die in Selbst- und Fremdenhass, Abgestumpftheit und Verbitterung oder Heuchelei und Doppelmoral zum Ausdruck kommt.