Authentizität - was das?

Majnomon

Well-Known Member
Angeregt von @Pit 63 häufigem Wunsch nach authentischen Mitteilungen im Forum mal ein Thread zu der (philosophischen) Frage, was Authentizität sein könnte bzw. ob es so etwas überhaupt gibt oder ob es sich dabei um ein weiteres Konstrukt handelt, das als marktkonforme Forderung an Konsumenten und Gehaltsempfänger/selbstoptimierte Dienstleister gestellt wird.

Einleitend dazu aus der Einladung zu einer Ausstellung einer Künstlerkollegin und ehemaligen Kommilitonin von mir dieser Text, die heute Morgen in meinem eMail-Postfach war:

Autofiktionale Verwandlungen


Sei authentisch! und Erfinde dich selbst! - zwei scheinbar gegensätzliche Aufforderungen konfrontieren unsere instabile Selbstverortung inmitten einer unübersichtlich und gleichzeitig immer näher rückendenden Welt, in der Konkurrenz um Aufmerksamkeit, bezahlter Arbeit und privatem Glück immer weniger in Real-Präsenz, sondern auf virtuellen Bühnen ausgetragen wird. Wir sollen authentisch sein, lautet ungebrochen der idealistische Imperativ. Warum eigentlich - und geht das überhaupt noch?


Diedrich Diedrichsen spricht vom Authentizitätsterror als längst überholtem Credo der moralischen Überhöhung: "Wo es aber um Erneuerungen und Unerhörtes geht, taugt Authentizität als Kampfbegriff nicht: da setzen dann die Diskurse der Kreativität, des Artifiziellen und der Innovation ein." Musiker*, Schauspieler* oder Künstler* erfinden immer wieder das Nicht-Mit-Sich-Eins-Sein und werden gerade deswegen zu idolisierten Lebensratgebern. Im Zeitalter von flexibler Eigenverantwortlichkeit und hochmotivierter Performanz wird gerade das Nicht-Authentische zum Imperativ.


Künstlerinnen und Künstler untersuchen - an sich selbst oder an selbst gewählten Narrativen - die haltlose Fatalität des spielerischen Ernstes und ernsthaften Spiels mit Wahrhaftigkeit, Echtheit und Subjektivität - mit der Produktion von Wirklichkeit als Illusion.
 

Mirage

Member
Du hast recht Majnomon!
Ich kann nicht authentisch zu sein und mich gleichzeitig neu erfinden!
In unserer heutigen Zeit sind die wenigsten Menschen nach außen hin, wirklich sie selbst.
Das liegt vielleicht auch daran, dass es den meisten irgendwie egal, was der andere wirklich denkt, fühlt und wie dessen Leben wirklich verläuft.
Die Menschen sind im Miteinander kalt geworden, was immer mehr zum Verlust der eigenen Identität führt.
Da ist eine Flucht in eine Scheinwelt, meist einfacher, als einfach man selber zu sein.
Wenn man nämlich nur man selber ist, dann sind die anderen oftmals überfordert.

Ein kleines Beispiel:
Da wird Jemand gefragt; Wie geht es dir? Eigentlich eine banale Frage, die leicht zu beantworten ist, aber kaum Jemand antwortet dabei offen und ehrlich. Denn sie haben Angst, den Fragesteller zu verprellen.
Denn die meisten wollen ja nur immer nur eines hören: Es geht mir gut!

Authentisch zu sein macht oft einsam!
Deshalb verstecken sich die meisten ja auch in einer erfundenen Realität. Und das nur, weil man von Allen und Jedem eine Anerkennung und eine gewisse Wertschätzung erhalten will.
Aber all das geht wieder verloren, wenn man selbst, aus irgendwelchen Gründen plötzlich den Boden und jeglichem Halt im eigenen Leben verliert.
 

Sophia2

Well-Known Member
@Mirage wirklich gut erklärt. Die Frage ist dabei,ob es die Leute auch merken?
Ich finde, dass man authentisch sein kann und sich trotzdem anpassen kann an Andere.
 

Sophia2

Well-Known Member
@Mirage den letzten Satz muss ich etwas widersprechen.
In Deinem Beitrag sprichst Du m.E.vom Narzissmus,der in unserer Gesellschaft ja mehr vorhanden ist bzw.sein wird. Nur Menschen,die das haben, die lügen sich auch dann noch was in die Tasche,wenn sie eigentlich den Boden unter den Füssen verloren haben. Auch dann verdrehen sie für sich selbst die Tatsachen.
Ich erlebe es z.Zt.an meiner langjährigen Freundin. Jetzt ist sie dabei einen Keil zw.meinem Mann und mir zu treiben. Und mich runterzuputzen ohne Ende. Sie merkt aber nicht,dass sie bald ohne meine Freundschaft sein wird. Was sie ja nicht will.
 

Majnomon

Well-Known Member
Letzten Herbst hatte ich ja eine Lesung in Vertretung für eine befreundete Schriftstellerin in einer Kneipe in Schöneberg.

Zu diesem Anlass war auch ein (blinder) Bağlama-Spieler eingeladen, der ein paar Lieder auf Türkisch und ein eigens komponiertes auf Deutsch sang.

Später baten einige (deutsche) Gäste den Musiker, doch noch ein paar Lieder zu spielen. Der Herr wandte (akzentfrei) ein: "Aber auf Deutsch habe ich kein weiteres Lied, dann versteht ihr doch gar nichts."

Die Gäste erwiderten: "Sing auf Türkisch, das ist doch so authentisch!"

Der Herr machte eine leicht betretene Miene, während ich mich für die Gäste fremdschämen durfte.


Naja, und ich selbst, die singende Kartoffel, die Bağlama spielt, mit deutschen, englischen, französischen und türkischen Texten, bin ich authentisch ich selbst? Als Deutscher mit christlichem Sozialisationshintergrund und Orientsehnsucht?

Bin ich nicht immer ich selbst, im authentischen Ausdruck meiner aktuellen Befindlichkeit, ob ich mich nun gerade aus Verlegenheit oder Unsicherheit "verstelle" oder wenn ich mich im Bewusstsein meiner inneren Souveränität an die Umstände anpasse, um einen reibungslosen Ablauf der jeweiligen Situation zu gewährleisten?

Was ist überhaupt das SELBST? Wie drückt es sich konkret aus, wenn es vielleicht sogar allumfassend ist?
 

Majnomon

Well-Known Member
Vielleicht ist es auch so, dass nicht überall, wo "authentisch" draufsteht, auch Authentizität drin ist.

Meist scheint mir sogar das Gegenteil der Fall zu sein: Wo Authentizität behauptet wird, finden sich oft Klischee, hohle Phrase, Großmauligkeit oder Kitsch und altbackene Folklore.

Ist ein ähnliches Phänomen wie das viel beschworene Charisma, das meist erst durch die Zuschreibung einer Fangemeinde und eine entsprechende Inszenierung generiert wird.
 
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Majnomon

Well-Known Member
Bei der Lesung in Schöneberg war übrigens noch ein weiterer Musiker auf der Bühne, der alte Berliner Chansons zum Besten gab.

Ein älterer Herr mit Berliner Schnauze, wie man so schön sagt. Authentisch oder museal von gestern?

Zumal die Berliner Schnauze von einer eitlen Divenhaftigkeit begleitet und meiner Meinung nach eher Ausdruck seiner Arroganz war.
 

Mirage

Member
Wenn ich schreibe, dann bringe ich meist meine eigenen Gedanken und Gefühle zu Papier.
Ich kann das aber auch aus der Sichtweise meiner Freunde tun, ohne meine eigene Identität zu verleugnen. Oder?
Was anderes hat doch der blinde Musiker auch nicht getan, als er seine eigene Komposition zum Besten gab. Er wollte den Zuhörern eine Freude machen und nur wenige haben das wirklich verstanden. Leider.
Ich hasse das, wenn man einen Menschen nach seiner Herkunft beurteilt und nicht nach dem was er tut.
 
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Mirage

Member
@Sophia2 es gibt nur sehr wenige Leute, die das merken. Aber die, die es tun, die fangen dich auch wirklich auf!
So war es im letztem Jahr bei mir und heute bin ich einfach nur froh darüber.
Wenn dein Mann und du eine feste Einheit seit, dann wird es Niemanden gelingen einen Keil zwischen euch zu treiben.
 
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