Dialog des Schweigens

Kedi08

Active Member
Mit größter Sorgfalt drückte er die Türklinke nach unten. Sie quietschte schon seit Jahren ein wenig und er dachte zum unzähligsten Mal, dass er sie dringend ölen müsse. Aber dann tat er es doch wieder nicht. Seine Schuhe hatte er bereits draußen ausgezogen, um bloß keinen Lärm zu machen. Leise schlich er ins Haus und ging in die Küche. Er setzte den Wasserkessel auf, um sich seinen morgendlichen Tee zu kochen. Dann ging er langsam die Treppe hinauf zum Schlafzimmer. In der Tür blieb er stehen und blickte sie an, schaute kurz auf den hübschen Kimono, der sorgfältig über der Stuhllehne hing. Er liebte es, wenn sie ihn trug. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Sie sah so jung aus, wenn sie schlief. So wie damals, als er sie kennengelernt hatte. Ihre Züge hatten so etwas Erwartungsvolles und waren voller ungebändigter Lust. Die pure Lust am Leben, mit ihm, in diesem Haus, bis ans Ende aller Tage. Was war davon übrig geblieben? Sobald sie aufwachte, hatte sie wieder diese verbitterten Züge, ihr Blick an ihn eine einzige Anklage für ihr ruiniertes Leben. Voller Arbeit und Sorgen, ohne das Kind, das sie so sehnlichst erhofft hatten. Eintönigkeit hatte sich breit gemacht. Wohl kümmerte sie sich um alles, den Haushalt, die Wäsche, das Essen. Doch er hatte den Eindruck, sie funktionierte nur noch. Genau wie er auch. Gemeinsamkeiten oder Respekt, womöglich sogar Liebe? Das war irgendwo unterwegs auf dem langen dunklen Weg ihrer Ehe verloren gegangen. Und doch betrachtete er sie wie jeden Morgen mit einem liebevollen Blick. Solange sie schlief, ließ sie es sich ja auch gefallen. Sie, sein Mädchen, seine ganze Kraft an Tagen wie diesen. Jeden Morgen, wenn er sich ins Haus zurück schlich, hatte er ein schlechtes Gewissen. Jeden Morgen verließ er mit der aufgehenden Sonne das Haus und kam meist eine Stunde später wieder zurück. Sie wusste nichts davon, ahnte nicht, wo er diese frühe Stunde verbrachte. Er fühlte sich elend, als würde er sie betrügen. Doch das tat er ja nicht mal. Er hatte nur nicht den Mut, sein kleines Geheimnis mit ihr zu teilen. So oft schon wollte er es ihr erzählen. Vielleicht heute? Bei einer Tasse Kaffee im Garten? Ermutigt von den Sonnenstrahlen, die durch das Flurfenster blinzelten, schloss er leise die Schlafzimmertür und ging wieder zurück in die Küche. Er setzte sich auf die kleine Küchenbank, schloss die Augen und dachte wieder an sein Geheimnis. Jeden Morgen schlich er aus dem Haus, um sie zu sehen. Er wollte sie einfach nur sehen. Ihr Anblick erregte ihn auf eine unerklärliche Art. Schenkte ihm Leben, brachte sein Herz zum klopfen. Woher sie immer kam um diese Uhrzeit? Er wusste es nicht. Es ging ihn auch nichts an, ja, die Frage beschäftigte ihn nicht einmal. Er sah sie nur täglich auf ihrem Weg nachhause in der frühen Morgendämmerung. Und konnte es nicht lassen, sie zu beobachten. Ihr stolzer Gang, ihr erhobener Kopf, der eine gewisse Arroganz ausdrückte. Ihr rötliches Haar, das in der ersten Morgensonne glänzte. Sie erinnerte ihn so sehr an seine Frau, sein Mädchen. Mit ihrer Erhabenheit und ihrer warmen Ausstrahlung. Sie löste eine Sehnsucht in ihm aus, der er sich einfach nicht entziehen konnte. Und dafür schämte er sich.

Als die Schlafzimmertür sich leise schloss, schlug sie ruckartig die Augen auf. Sie war hellwach, wie jeden Morgen, wenn er ins Haus geschlichen kam. Sie spitzte die Lippen und zog sie gleich daraufhin in die Breite, um die Anspannung in ihrem Kiefer zu lockern. Es war anstrengend, sich jeden Morgen schlafend zu stellen, wenn er ins Schlafzimmer blickte, sie beobachtete. Wie sie ihn dafür hasste. Wenn er sie schon betrügen musste, warum nahm der dann nicht wenigstens Rücksicht auf sie. Schlich sich bei Nacht und Nebel aus dem Haus, um das Bett einer anderen zu wärmen und tat dann auch noch so, als würde er sich um ihren Schlaf sorgen. Wie sie ihn dafür verabscheute. War es ihre Schuld, dass Gott sie nicht mit einem Kind gesegnet hatte? Alles hatte sie getan, um ihm eine gute Ehefrau zu sein. Alles hatte sie richtig machen wollen. Für ihn, ihrer großen Liebe, dem stattlichsten Jungen auf der ganzen Schule, ihrem Held einer verlorenen Jugend. Doch gegen ihre Unvollkommenheit, ihre Unfähigkeit ihm ein Kind zu schenken, war sie machtlos. Und sie litt. Litt unter dieser unerträglichen Sprachlosigkeit, mit der sie seit Jahren nebeneinander her lebten. Mit jedem Tag starb in ihr etwas. Und es wurde täglich ein Stückchen mehr. Glaubte sie anfangs noch, er würde ihr Sterben mit seiner Liebe aufhalten, wusste sie doch inzwischen, dass er es vorzog, sie für ihr Leiden auch noch zu bestrafen. In dem er jede Nacht in ein anderes Bett schlich und sie betrog. Die Verzweiflung schwoll in ihr an, wie eine Lawine. Unaufhaltsam, alles mitreißend, tödlich. Sie hielt dieses Leben nicht mehr aus. Heute war der Tag, an dem sie es ihm sagen würde. So oft hatte sie die Worte in ihren Gedanken zurecht gelegt. Vielleicht zu oft. Sie wusste, dass jegliche Gefühlsregung in ihr abgestorben war. Ihre Worte würden kurz und kalt klingen.

Sie stand auf, warf sich den bordeauxroten Kimono über und strich verbittert über den Stoff. Ein schönes Teil aus einem teuren Laden. Er hatte nicht einmal bemerkt, dass er neu war. Und schon gar nicht, wie gut die Farbe zu ihren Haaren passte. Er hatte sie schon lange nicht mehr bemerkt. Sie verknotete sorgfältig den Gürtel, bürstete ihr Haar und ging die Treppe hinunter in die Küche. Er saß mit dem Rücken zu ihr, murmelte ein kurzes „Morgen, gut geschlafen?“ und blätterte die Zeitung um. Sie ballte die Faust in der Tasche ihres Kimonos, ging zum Kühlschrank und goss sich ein Glas Milch ein. Langsam und konzentriert trank sie das Glas leer, drehte sich zu ihm um und sagte ganz ruhig: „Ich weiß es schon lange. Du brauchst dich nicht mehr im Morgengrauen ins Haus schleichen wie ein Dieb. Ich weiß, dass du zu einer anderen gehst. Und darum werde ich dich verlassen. Noch heute.“ Sie hatte alles gesagt. Soviel auf einmal hatte sie seit langem nicht mehr zu ihm gesagt, aber es war ja auch das letzte Mal. Er hatte langsam den Kopf gehoben, brauchte einige Sekunden, bis er begriff, was sie gerade verkündet hatte. Wie in Zeitlupe drehte er sich zu ihr um. „Was sagst du da? Aber du darfst mich nicht verlassen. Ich gehe nicht zu einer anderen. Ich, ich….“ Er suchte verzweifelt nach Worten. Darauf war er nicht vorbereitet. Nicht jetzt. Dann hörte er sich sagen: „Ich sitze jeden Morgen auf der kleinen Bank hinter dem Haus. Von dort aus kann ich die ganze Straße überblicken. Und dann warte ich auf Felizitas. Ob sie auch gut heim kommt. Ihr Anblick…ich kann einfach nicht widerstehen.“ Beschämt senkte er den Kopf. Er fühlte sich nach diesen wenigen Worten wie leergepumpt. Ein Brennen machte sich hinter seinem Brustkorb breit. Er wagte es nicht, sie anzusehen. Einige Sekunden herrschte Totenstille in der Küche. Sie hörte seine Worte wie durch Watte, glaubte sich in einem schlechten Film die Hauptrolle zu spielen. Er wartete auf Felizitas. Das konnte nicht sein, nicht all die Jahre. Sie spürte, wie ein Lachanfall langsam in ihr hochstieg. Ihre Stimme fing an zu kicksen, überschlug sich, sie bekam kaum noch Luft. Dann kreischte sie mit einer seit Ewigkeiten aufgestauten Hysterie: „Du schleichst dich seit Jahren jeden Morgen aus dem Haus, um die Katze unserer Nachbarin zu beobachten? Während ich da oben liege und mich nach jedem Davonstehlen von dir in den Schlaf weine?“ Die Situation war jetzt in ihrem ganzen grotesken Ausmaß zum Greifen spürbar. Wortlos hatte sie sich so in das leere Milchglas verkrallt, dass es zersprang und ihr die Finger zerschnitt. Er wollte aufspringen, ihr helfen, doch etwas an ihrem Blick hielt ihn zurück. Während das Blut durch ihre Finger lief, ging sie nach oben und holte den Koffer vom Speicher.
 
N

netti2803

Guest
AW: Dialog des Schweigens

Ach Kedi bitte mehr....ich mag deine art wie du schreibst...cok güzel
 
Top