Herbsttag

Kedi08

Active Member
Ein Lieblingsgedicht, das wohl jeder kennt.
Geschrieben von Rainer Maria Rilke am 21.09.1902 in Paris

Herr, es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren lass die Winde los.

Befiehl den letzten Früchten, voll zu sein;
gib ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin, und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.

Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.
 
O

orlando

Guest
AW: Herbsttag

Oder das hier aus "Sonette an Orpheus":

(XIII) Sei allem Abschied voran...

Sei allem Abschied voran, als wäre er hinter
dir, wie der Winter, der eben geht.
Denn unter Wintern ist einer so endlos Winter,
daß, überwinternd, dein Herz überhaupt übersteht.

Sei immer tot in Eurydike -, singender steige,
preisender steige zurück in den reinen Bezug.
Hier, unter Schwindenden, sei, im Reiche der Neige,
sei ein klingendes Glas, das sich im Klang schon zerschlug.

Sei - und wisse zugleich des Nicht-Seins Bedingung,
den unendlichen Grund deiner innigen Schwingung,
daß du sie völlig vollziehst dieses einzige Mal.

Zu dem gebrauchten sowohl, wie zum dumpfen und stummen
Vorrat der vollen Natur, den unsäglichen Summen,
zähle dich jubelnd hinzu und vernichte die Zahl.



(ps Entschuldige, Kedi, ich will Deinen Thread nicht verwässern, aber ich mag Rilke!)
 

Kedi08

Active Member
AW: Herbsttag

Oder das hier aus "Sonette an Orpheus":

(XIII) Sei allem Abschied voran...

Sei allem Abschied voran, als wäre er hinter
dir, wie der Winter, der eben geht.
Denn unter Wintern ist einer so endlos Winter,
daß, überwinternd, dein Herz überhaupt übersteht.

Sei immer tot in Eurydike -, singender steige,
preisender steige zurück in den reinen Bezug.
Hier, unter Schwindenden, sei, im Reiche der Neige,
sei ein klingendes Glas, das sich im Klang schon zerschlug.

Sei - und wisse zugleich des Nicht-Seins Bedingung,
den unendlichen Grund deiner innigen Schwingung,
daß du sie völlig vollziehst dieses einzige Mal.

Zu dem gebrauchten sowohl, wie zum dumpfen und stummen
Vorrat der vollen Natur, den unsäglichen Summen,
zähle dich jubelnd hinzu und vernichte die Zahl.



(ps Entschuldige, Kedi, ich will Deinen Thread nicht verwässern, aber ich mag Rilke!)

Und wie Recht du hast. Das waren noch Zeiten großer Dichter, die haben noch das Herz berührt...
 
O

orlando

Guest
AW: Herbsttag

Und wie Recht du hast. Das waren noch Zeiten großer Dichter, die haben noch das Herz berührt...

Ja, aber woran liegt das? Ist es nur eine Frage rein subjektiven Sprachempfindens? Oder des jeweiligen kulturellen Umfelds, ungeschriebener Konventionen?
Von einem gewissermaßen "arroganten" oder auch elitären Standpunkt könnte man zwar behaupten: ha!, Rilke & Co.verstanden noch was von humanistischer Bildung und konnten sprachlich problemlos in der Antike und späteren Traditionen wildern -- aber das greift, glaube ich, zu kurz. Es gibt ja auch guten Rap! :wink:
 

alterali

Well-Known Member
AW: Herbsttag

Ein Lieblingsgedicht, das wohl jeder kennt.
Geschrieben von Rainer Maria Rilke am 21.09.1902 in Paris


Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.

Der Mann konnte es sich eben nicht leisten, diesem Elend auf die Kanaren zu entfliehen.

Schon Goethe zog es um diese Zeit nach Süden: "Den 3. September früh drei Uhr stahl ich mich aus dem Karlsbad weg, man hätte mich sonst nicht fortgelassen. Man merkte wohl, daß ich fort wollte. Ich ließ mich aber nicht hindern, denn es war Zeit."


http://www.goethezeitportal.de/index.php?id=805
 

Kedi08

Active Member
AW: Herbsttag

Ja, aber woran liegt das? Ist es nur eine Frage rein subjektiven Sprachempfindens? Oder des jeweiligen kulturellen Umfelds, ungeschriebener Konventionen?
Von einem gewissermaßen "arroganten" oder auch elitären Standpunkt könnte man zwar behaupten: ha!, Rilke & Co.verstanden noch was von humanistischer Bildung und konnten sprachlich problemlos in der Antike und späteren Traditionen wildern -- aber das greift, glaube ich, zu kurz. Es gibt ja auch guten Rap! :wink:

Ich glaube, die meisten haben heutzutage einfach Probleme, die Worte für sich umzusetzen. Es wurde damals halt alles etwas schwülstiger umschrieben und nicht so direkt ausgedrückt wie heute. Das mag man oder auch nicht. Viele mögen es leider nicht, weil sie nicht mehr gelernt haben auf diese Art mit Worten zu spielen.

Also, was tun wir mal, um der Jugend Rilke wieder näher zu bringen?
Genau...lass uns den "Herbsttag" vertonen. In einer neumodischen Rap-Fassung...

Digga, ey, die Blätter die fallen...voll korrekte Erntedank :mrgreen: :mrgreen:
 

Kedi08

Active Member
AW: Herbsttag

Der Mann konnte es sich eben nicht leisten, diesem Elend auf die Kanaren zu entfliehen.

Schon Goethe zog es um diese Zeit nach Süden: "Den 3. September früh drei Uhr stahl ich mich aus dem Karlsbad weg, man hätte mich sonst nicht fortgelassen. Man merkte wohl, daß ich fort wollte. Ich ließ mich aber nicht hindern, denn es war Zeit."


http://www.goethezeitportal.de/index.php?id=805

Na, das nenn' ich doch auch mal eine gelungene Interpretation :razz:

Ich bezweifle zwar, dass die Kanaren um 1900 schon ein attraktives Urlaubsziel waren, aber wer weiß, wie der Klimawandel in Paris sich damals auswirkte.

Und Goethe? Reiste der nicht grundsätzlich ab, wenn die jeweilige Dame seines Herzens zu rührselig wurde? Deswegen kam er auch so viel rum in der Welt...:wink:
 
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