A
Anouk
Guest
Jay oder: Noch mal davongekommen
Wir trafen uns in der Stadt, unvermutet. Die letzte Begegnung lag lange zurück. Damals, im Sommer, glühten Lampions; anschwellendes Stimmengewirr inmitten vereinzelter Lachsalven wies den Weg in den Garten. Es gab Sekt, darüber tanzten die Mücken. Später in der Nacht rückten wir zusammen. Nora und er schienen füreinander bestimmt, einander gewachsen. Ein Paar, dessen Gleichklang keiner Worte bedurfte, vom Zauber des ewigen Anfangs umhüllt. Man schlich auf Zehenspitzen davon, gewärmt, dankbar.
Die Zeit ging darüber, Herbst, Winter und Frühjahr. Der Sommer kam und war heiß, beinahe still. Wieder tanzten die Mücken. Über dem müden Gelb von Kornfeldern spannte der Himmel sich wolkenlos und blassblau. Spinnen segelten durch die Luft; dann begann es zu regnen. Ich fuhr in die Stadt, um ein wenig durch die milchfarbene Indifferenz eines späten Nachmittages zu treiben, gleichmütig, ziellos. Wie ein streunender Hund, mal hier und mal dort schnuppernd, betrat ich eine Reihe von Läden, nur um wieder hinauszugehen. Dann sah ich ihn, erkannte ihn an der Stimme, noch bevor er sich umwandte und ein Leuchten über sein Gesicht flog.
Du hier ?!
Wo sonst?, lächelte ich.
Wie geht’s dir, was machst du?
Nichts Besonderes, - ... Schon wollte ich zu einer vagen Erklärung von nichts ansetzen, jedenfalls nichts Besonderem, da bemerkte ich, dass er die linke Schulter hochzog. Der Ärmel seines Trenchcoats baumelte lose herab.
Was ist, Jay? Irgendwas passiert?
Motorradunfall. Er verzog das Gesicht. Das Schlüsselbein ist gebrochen.
Oh, verdammt... !
Halb so wüst, gibt Schlimmeres. Er grinste wie ein angeschossener Cowboy.
Mist... Und das Motorrad?
Hinüber, sagte er trocken. Wenigstens war ich nicht schuld. Zehn Tage her.
Puuh... Na ja, zumindest hast du gute Pflege. Wie geht’s Nora?
Weg, sagte er.
Und in mein erschrockenes Schweigen hinein: Sie ist weg.
Oh, mein Gott, Jay - ...
Ja. Vor drei Wochen.
Plötzlich sah er klein und verloren aus. Ein Mann wie ein Bär, den ich lange insgeheim gefürchtet und bewundert hatte, unbeugsam, gradlinig, streitbar. Ein Kollege, von dem man lernen konnte, nicht in die Knie zu gehen, wenn einem der Wind frontal ins Gesicht blies.
Lass uns einen Kaffee trinken, Jay, magst du? Ich lade dich ein. Wenn du magst.
Er lächelte traurig.
Gute Idee...
Wir steuerten ein kleines Bistro an, bestellten Espresso. Er nahm keinen Zucker und leerte die Tasse in einem Zug.
Bescheidener Sommer, sagte er.
Erzähl, was war?
Sie hat sich in einen anderen verguckt.
Von gleich auf jetzt? So plötzlich?
Ja. Wie der Blitz aus heiterem Himmel. Erst kriegte ich die Diagnose und dann ...
Diagnose? Entschuldige, aber...
Krebs, sagte er abrupt. Ich hab Krebs. Oder hatte ich. Sie haben’s jetzt weggemacht. Hoffe ich jedenfalls.
Ich sagte gar nichts mehr, und Jay redete so viel wie einer, der lange geschwiegen hatte. Erst die Krankheit, dann die Trennung, der Unfall. Schmerzen. Nur wenige Wochen, und das Leben gleitet davon. Die Zukunft macht sich so klein wie die Vergangenheit sich groß und übermächtig.
Ich wollte mit ihr alt werden, sagte er still. Egal, was soll’s - ...
Hhmm-hhmm, machte ich vorsichtig. Jay schwieg, lehnte sich zurück; zum ersten Mal fiel mir auf, dass seine Haare grau zu werden begannen.
Hab damals ganze Wochenenden lang Fenster geputzt, sagte ich leise. Wie besinnungslos, nur um irgendwas zu tun. Als er gegangen war... Aber soll ich dir was sagen - ?
Na..? Immerhin lächelte er jetzt ein wenig.
Auch das geht vorüber. Der-Da-Oben hat mit dir noch was vor. Das mit dem Motorrad ist nur passiert, damit du’s kapierst... Damit du nicht so schnell aus der Übung kommst...
Kann sein, lachte er auf, schon möglich.
Gewiss.
Wir zwinkerten uns zu wie zwei Veteranen. Noch mal davongekommen. Einmal mehr. Das Leben geht irgendwie weiter. Darauf ist Verlass.
Als er gegangen war, kramte ich eine Zigarette hervor, rauchte, tat noch ein Weilchen, als würde ich Zeitung lesen, legte das Geld auf den Tisch und ging. Nicht heulen, nicht hier. Und warum überhaupt?
Wir trafen uns in der Stadt, unvermutet. Die letzte Begegnung lag lange zurück. Damals, im Sommer, glühten Lampions; anschwellendes Stimmengewirr inmitten vereinzelter Lachsalven wies den Weg in den Garten. Es gab Sekt, darüber tanzten die Mücken. Später in der Nacht rückten wir zusammen. Nora und er schienen füreinander bestimmt, einander gewachsen. Ein Paar, dessen Gleichklang keiner Worte bedurfte, vom Zauber des ewigen Anfangs umhüllt. Man schlich auf Zehenspitzen davon, gewärmt, dankbar.
Die Zeit ging darüber, Herbst, Winter und Frühjahr. Der Sommer kam und war heiß, beinahe still. Wieder tanzten die Mücken. Über dem müden Gelb von Kornfeldern spannte der Himmel sich wolkenlos und blassblau. Spinnen segelten durch die Luft; dann begann es zu regnen. Ich fuhr in die Stadt, um ein wenig durch die milchfarbene Indifferenz eines späten Nachmittages zu treiben, gleichmütig, ziellos. Wie ein streunender Hund, mal hier und mal dort schnuppernd, betrat ich eine Reihe von Läden, nur um wieder hinauszugehen. Dann sah ich ihn, erkannte ihn an der Stimme, noch bevor er sich umwandte und ein Leuchten über sein Gesicht flog.
Du hier ?!
Wo sonst?, lächelte ich.
Wie geht’s dir, was machst du?
Nichts Besonderes, - ... Schon wollte ich zu einer vagen Erklärung von nichts ansetzen, jedenfalls nichts Besonderem, da bemerkte ich, dass er die linke Schulter hochzog. Der Ärmel seines Trenchcoats baumelte lose herab.
Was ist, Jay? Irgendwas passiert?
Motorradunfall. Er verzog das Gesicht. Das Schlüsselbein ist gebrochen.
Oh, verdammt... !
Halb so wüst, gibt Schlimmeres. Er grinste wie ein angeschossener Cowboy.
Mist... Und das Motorrad?
Hinüber, sagte er trocken. Wenigstens war ich nicht schuld. Zehn Tage her.
Puuh... Na ja, zumindest hast du gute Pflege. Wie geht’s Nora?
Weg, sagte er.
Und in mein erschrockenes Schweigen hinein: Sie ist weg.
Oh, mein Gott, Jay - ...
Ja. Vor drei Wochen.
Plötzlich sah er klein und verloren aus. Ein Mann wie ein Bär, den ich lange insgeheim gefürchtet und bewundert hatte, unbeugsam, gradlinig, streitbar. Ein Kollege, von dem man lernen konnte, nicht in die Knie zu gehen, wenn einem der Wind frontal ins Gesicht blies.
Lass uns einen Kaffee trinken, Jay, magst du? Ich lade dich ein. Wenn du magst.
Er lächelte traurig.
Gute Idee...
Wir steuerten ein kleines Bistro an, bestellten Espresso. Er nahm keinen Zucker und leerte die Tasse in einem Zug.
Bescheidener Sommer, sagte er.
Erzähl, was war?
Sie hat sich in einen anderen verguckt.
Von gleich auf jetzt? So plötzlich?
Ja. Wie der Blitz aus heiterem Himmel. Erst kriegte ich die Diagnose und dann ...
Diagnose? Entschuldige, aber...
Krebs, sagte er abrupt. Ich hab Krebs. Oder hatte ich. Sie haben’s jetzt weggemacht. Hoffe ich jedenfalls.
Ich sagte gar nichts mehr, und Jay redete so viel wie einer, der lange geschwiegen hatte. Erst die Krankheit, dann die Trennung, der Unfall. Schmerzen. Nur wenige Wochen, und das Leben gleitet davon. Die Zukunft macht sich so klein wie die Vergangenheit sich groß und übermächtig.
Ich wollte mit ihr alt werden, sagte er still. Egal, was soll’s - ...
Hhmm-hhmm, machte ich vorsichtig. Jay schwieg, lehnte sich zurück; zum ersten Mal fiel mir auf, dass seine Haare grau zu werden begannen.
Hab damals ganze Wochenenden lang Fenster geputzt, sagte ich leise. Wie besinnungslos, nur um irgendwas zu tun. Als er gegangen war... Aber soll ich dir was sagen - ?
Na..? Immerhin lächelte er jetzt ein wenig.
Auch das geht vorüber. Der-Da-Oben hat mit dir noch was vor. Das mit dem Motorrad ist nur passiert, damit du’s kapierst... Damit du nicht so schnell aus der Übung kommst...
Kann sein, lachte er auf, schon möglich.
Gewiss.
Wir zwinkerten uns zu wie zwei Veteranen. Noch mal davongekommen. Einmal mehr. Das Leben geht irgendwie weiter. Darauf ist Verlass.
Als er gegangen war, kramte ich eine Zigarette hervor, rauchte, tat noch ein Weilchen, als würde ich Zeitung lesen, legte das Geld auf den Tisch und ging. Nicht heulen, nicht hier. Und warum überhaupt?