lieber Zerd

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Zerd

Well-Known Member
So ganz allmählich komme ich dahinter, wieso ich nie für Religionen empfänglich gewesen bin, obwohl sie bzw die Themen, mit denen sie sich befassen, oder ihre meditativen und kontemplativen Methoden mich zeitlebens schon interessiert haben.

Ich glaube, es hat viel mit dem extrinsischen zu tun, das Religionen anhaftet: ein Verhalten oder ein Gedanke ist gut und richtig, wenn ich es ganz tief in mir und aus mir heraus so empfinde. Und eben nicht, weil es irgendwo steht oder irgendwer es einfordert. In gewisser Weise sollten Religionen also gar nicht nötig sein, wenn sie denn recht haben und richtig sind.

Ich denke, dieses intrinsische, die Eigenständigkeit und Mündigkeit im Denken und Handeln war auch ansonsten ein ganz prägendes Motiv in meinem bisherigen Leben. Sicher hat das viel mit Erziehung und Bildung zu tun, aber wenn ich mich ein wenig in meiner zahlenmässig nicht gerade kleinen Verwandtschaft umsehe, kann auch eine gewisse genetische Disposition angenommen werden, denn der Anteil an Individualisten, die ihr eigenes Ding durchziehen ohne allzusehr von gesellschaftlichen Entwicklungen und Trends beeinflusst zu sein, scheint etwas höher als sonst üblich zu sein.

Jedenfalls hat mich auch periodisch wiederkehrendes im Leben der Menschen immer wieder irritiert. Dass Menschen in Urlaubszeiten zu ganz anderen Menschen werden oder dass Geschenke nur an Geburtstagen oder Sylvester gemacht werden oder dass (nur) an Feiertagen jeder so lieb ist wie sonst nur selten, hat immer Widerstände in mir hervorgerufen. Wenn etwas richtig und wichtig ist, dann ist es doch wohl auch immer und überall richtig und wichtig, und eben nicht nur in diesen Ausnahmesituationen?

Wenn man das Ganze historisch evolutionär betrachtet, dann befinden wir uns wohl immer noch in einer Übergangszeit, in einer Phase der Menschwerdung, in der wir versuchen unsere tierischen Ursprünge zu überwinden. Na klar, so lange ist es doch noch gar nicht her, dass wir angefangen haben, unsere Häuser zu bauen und Felder zu bewirtschaften, gerade einmal ein paar hundert Generationen. Da ist es gar nicht so verwunderlich, dass viele Menschen gewissermaßen zur weiteren Disziplinierung und Kultivierung solche extrinsischen Motive benötigen als eine Art Dressur und Erziehung zum Menschsein in intakten freiheitlichen Gesellschaften.

Und das zyklische an der kulturgeschichtlichen Entwicklung, das ich hier schon einige Male angeführt habe, könnte dann gewissermaßen als eine Art von Entzugserscheinungen interpretiert werden, die von Zeit zu Zeit Rückfälle verursachen, bis wir zuletzt wieder die Kurve in die richtige Richtung kriegen. Das scheint mir ein angemessenes Modell zu sein, das vieles an unserer gegenwärtigen Irritation zu erklären vermag.

Übrigens bin ich vor kurzem durch eine Bekannte auf ein Buch aufmerksam gemacht worden, in der diese Irritiátion wieder schön nachzulesen ist. Das Buch heißt Fliegende Fische und enthält Abhandlungen über 20 der wichtigsten Intellektuellen unserer Zeit. Ich habe es bislang nur hier und da etwas quergelesen und da zeigte sich schon, wie sehr die Denker unserer Zeit mit dem Graben ihrer eigenen kleinen Gruben beschäftigt sind und vor lauter Faszination für ihren eigenen individuellen Baum dem Wald gar keine Beachtung mehr schenken. Ich denke immer noch, dass der letzte lesenswerte Denker, der noch einen ganzheitlichen Blick auf den Menschen und seine Entwicklung gewagt hat, Nietzsche gewesen ist. Deleuzes Monografie über Nietzsche scheint übrigens auch eine lesenswerte Sekundärliteratur zu sein. Als Einstieg würde ich aber immer noch Kaufmann empfehlen, natürlich nebst Nietzsches Orginalwerken.

So, jetzt geht es also auf 2016 zu. Wenn ich mich im folgenden Jahr genauso wohl fühle wie in diesem und auch genauso viel zu tun habe, dann soll es mir recht sein. Ich kann mich derzeit wirklich nicht beklagen. Aber das war auch noch nie meine Art...
 
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