Es ist ja gut, dass überhaupt darüber geredet und geschrieben wird:
Gesellschaft: Nichts ist mehr sicher, wursteln wir uns durch
Eine Kolumne von Henrik Müller
Flüchtlingskrise, Wirtschaftskrisen, Terror, technologische Revolutionen - die Welt ist in Bewegung, Vorhersagen sind schwierig geworden. Die Folge: Das Leben wird immer weniger planbar und wir müssen das Improvisieren lernen.
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Oder:
Die Polarisierung der Welt: Wir hassen einander, weil nichts bleibt, wie es ist
Eine Kolumne von
Sibylle Berg
Ein trauriges Zeitalter: Menschen gehen mit Mistgabeln aufeinander los, während das, wofür sie angeblich kämpfen, schon geraume Zeit nicht mehr existiert.
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Aber so eine richtige Vorstellung davon, womit dieser ganze Schlammassel möglicherweise zusammenhängen könnte und wohin die Reise führen könnte, scheinen die Autoren ja auch nicht zu haben. Im Gegenteil, der gute Herr Müller spricht wieder einmal von Improvisieren, als ob das ständige Improvisieren, Erneuern, Sich-selbst-neu-erfinden, Immer-weiter-optimieren nicht selbst schon Teil des Problems wäre. Und auch die gute Frau Berg beklagt sich im wesentlichen darüber, dass Menschen sich mehr Kontinuität wünschen und sich einfach nicht daran gewöhnen wollen, dass der Hype von gestern heute nur noch Gähnen hervorruft. Geflissentlich werden natürlich wieder auch alle Themen vermieden, die diesem Fortschrittswahn schon natürliche Grenzen auferlegen, etwa die ganze Problematik um das Bevölkerungswachstum, Verteilungsproblematik, ethische Visionen usw.
Wir haben in der Neuzeit ein mächtiges Werkzeug entdeckt, das wir seitdem für alles mögliche verwendet haben und so in fast allen Lebensbereichen für einen immens beschleunigten Fortschritt gesorgt haben. Und etwa seit hundert Jahren (ich persönlich würde da Nietzsche an den Anfang dieser Phase setzen) kommen wir so langsam ganz allmählich dahinter, dass dieses Werkzeug eigentlich wie jedes andere mächtige Werkzeug ist, dass es sowohl dazu verwendet werden kann, etwas zu bauen, zu schaffen, zu vereinfachen, zu lösen, als auch dazu verwendet werden kann, zu zerstören, Unheil zu stiften, zu vernichten.
Die Rede ist von unserem Gehirn und seiner Vernunft und auch der Schwarmintelligenz, die sie in einem freien demokratischen Umfeld hervorbringt. Sie hat wirklich mächtiges und großes geleistet in den vergangenen 250 Jahren, aber so richtig mit ihr umzugehen haben wir bis heute nicht gelernt, zumindest nicht im Großen und Ganzen. So ist zwar fast alles, was wir heute tun und lassen, "irgendwie" gut begründet, aber dennoch ist darunter mindestens ebenso viel destruktives wie konstruktives dabei, ebenso lebensfeindliches wie menschliches, ebenso kurzsichtiges wie beständiges.
Uns fehlen ganz offensichtlich die Kriterien und Maßstäbe dazu, man könnte sie auch Kategorien nennen, diese verschiedenen Ausprägungen unseres Denkens und Handelns auseinanderzuhalten und zu differenzieren. Lange Zeit herrschte die Illusion (und sie bestimmt auch heute noch weit gehend den Diskurs, siehe die obigen Beiträge), dass es unsere Vernunft mit der Zeit, und sei es durch Versuch und Irrtum, schon richten wird, dass unser Werkzeug also zumindest mittelfristig unfehlbar sei. Dabei ist es eben nicht so, was in den vergangenen 100 Jahren schon häufig unglaublich grausame Folgen zeitigte und das auch heute noch in geringerem Umfang tagtäglich tut.
Einem Werkzeug, und sei es auch die menschliche Intelligenz, sind keine Wertmaßstäbe wie gut und böse, lebensfeindlich oder menschlich, kurzsichtig oder nachhaltig inhärent bekannt. Dazu wäre nur der Nutzer dieses Werkzeuges, also der Mensch selbst fähig. Wir haben aber eben die vertrackte Situation, dass dieser Mensch selbst sich fast ausschließlich an diesem Werkzeug orientiert, sein Denken und Handeln von ihm also bestimmt wird, statt dass er selbst darüber bestimmt unter Zuhilfenahme eben seiner Wertmaßstäbe, die genauso unter die Knute dieses Werkzeugs gestellt wurden wie alles andere auch.
Das wäre meiner Ansicht nach ein Punkt, an dem man ansetzen müsste hin zu einer Lösung, hin zu einer etwas besseren, weil menschlicheren und nachhaltigeren Welt. Wie überwinde ich diese Eigendynamik, die durch die Rationalisierung aller Lebensbereiche entstanden ist und sich nun immer wieder selbst anfeuert. Wie schwierig und verzwickt das Thema ist, sieht man allein schon daran, dass diese Gedankengänge selbst ja auch schon eine Rationalisierung darstellen. Wie kann ich den möglichen Wert einer solchen Rationalisierung unterscheiden von bspw. dem möglichen Unwert einer Rationalisierung, die nur auf die nächsten Quartalszahlen fixiert ist?
Unser Werkzeug selbst kann darauf keine eindeutige Antwort geben, das sollte uns endlich klar werden. Es ist eine Präferenz zu treffen, eine ganz bewusste Wahl, und für diese dürfen nicht die rationalen Argumente den Ausschlag geben, sondern etwas anderes in uns, mit dem wir zukünftig dieses Werkzeug kontrollieren und anwenden wollen.