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Guest
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Glücklich und reich sein zu wollen – was soll an diesen wesentlichen Teilen des amerikanischen Traums eigentlich so schlimm sein?
Nichts. Optimismus ist ja auch per se nichts Schlechtes – aber er sollte auf Fakten beruhen und natürlich auf der realistischen Analyse der Umstände. Ich wende mich gegen den grundlosen Optimismus, der oft zwanghafte Züge annimmt. Und dagegen, dass den Leuten eingeredet wird, sie könnten alles erreichen, wenn sie nur fest genug daran glauben und sich die Welt schönreden.
Sie als Amerikanerin wurden doch auch sicher so erzogen, in allem das Gute sehen?
Meine Mutter ist bei ihrer Großmutter aufgewachsen, weil ihre Eltern so arm waren. Da gab es nicht viel zum Schönreden. Außerdem steckte meiner Großmutter der Calvinismus noch sehr in den Knochen: Arbeiten war das Wichtigste im Leben. Sich auszuruhen war suspekt. Der Lieblingsspruch meiner Mutter war: „Wenn es dir dreckig geht und du ganz unten bist, putz den Boden.“
Sie finden, dass das positive Denken eine Reaktion auf den freudlosen Calvinismus war.
Der Calvinismus mit seiner ewigen Suche nach Sünde und der Perspektive, in der Hölle zu schmoren, hat viele Leute richtig depressiv gemacht. Im 19. Jahrhundert kamen Pfarrer dann auf die revolutionäre Idee, dass Gott gar nicht der Rächer ist, sondern die Menschen liebt, dass er will, dass es ihnen gut geht.
Das muss eine Erleichterung gewesen sein.
Sicher. Aber leider haben die neuen Optimisten von den Calvinisten das Zwanghafte übernommen: Wie die Calvinisten arbeiten auch sie ständig an sich selbst. Wo die einen nach der Sünde suchten, beobachten die anderen, ob sich nicht doch irgendwo ein schlechtes Gefühl verbirgt, das es zu eliminieren gilt. Im 20. Jahrhundert wurde das positive Denken dann auch mit finanziellem Erfolg verknüpft: Wer optimistisch in die Zukunft schaut, wird reich.
quelle: tagesspiegel von sonntag, 22. August 2010