AW: "Türkisch für kurdische Kinder" arte, 16:35 Uhr
Wie immer liegt es im Auge des Betrachters.
Es mag schon sein, dass es aus westlicher Sicht (egal ob nun die westlich, modern geprägte Türkei, oder Deutschland, oder die Schweiz) ziemlich komisch daher kommen mag. In der ach so modernen Türkei solche Verhältnisse. Dörfer ohne Strom und Wasser (nicht überall), keine vernünftigen Strassen, keine ärztliche Versorgung, mehr als ärmliche Verhältnisse. Eigentlich dass, was man hier vielleicht vor 50 - 100 Jahren in den Bergdörfern auch ausgesehen hat (und - in etwas moderater Form - auch heute noch aussieht).
Da ist einerseits ein Lehrer, der ein Pflichtjahr zu absolvieren hat - eine Pflicht, nicht mehr, nicht weniger. Er wurde in eine ihm völlig unbekannte Welt und Kultur versetzt. Sieht sich nicht nur schulischen und kulturellen, sondern auch gesellschaftlichen Problemen gegenüber. Hat einen Lehrauftrag und einen Lehrplan. Kommt in eine Welt wie ein Alien (oder wie man sich dies mit einem Ausserirdischen so vorstellen mag). Kennt nur seine, eigene kleine Welt, noch nie gereist, keine Ahnung von Botanik (sagen wir). Kinder, die fast in die Hosen machen, bis sie zur Toilette können, bis sie es in türkisch richtig gesagt haben (Kinder gehen so und so immer in der letzten Sekunde auf die Toilette, darum meine ich). Aber dem jungen Leherer mache ich keinen Vorwurf. Warum denn auch.
Kinder, die eigentlich zu Hause aushelfen sollten, sei es als Babysitter für die jüngeren Geschwister, oder Arbeiten im Hause, auf dem Feld. Kinder, die ihren Eltern, Onkeln, älteren Geschwistern, Erwachsenen überhaupt bedingungslosen Respekt entgegenzubringen haben. Hier die Eltern (Aufpassen auf Geschwister, Arbeiten auf dem Feld, im Haus), dort der Herr Lehrer (türkisch lernen). Auch für die Kinder wohl ein Kulturschock sondergleichen.
Ja, türkisch ist Amtssprache und alles sind Türken. Und es ist so, dass auch hier in der Schule (Kindergarten) zuerst Deutsch gelernt werden muss, denn dies ist hier die Unterrichts- und einer der Amtssprachen. Thema erledigt. Aber: wir haben hier integrativen Deutschunterricht, spezielle Lehrer, die sich mit den Kindern die Deutsch lernen müssen, auseinandersetzt und mit ihnen lernt. Nicht so in dem gezeigten Beispiel.
Die Frage ist einfach oder wenn man dies von Aussen betrachtet, dann fragt man sich schon oder muss feststellen, dass gewisse Türken irgendwie vergessen wurden. Bildung - darüber habe ich meine Meinung schon in diversen Threads Afrika betreffend geschrieben - kann nur dann erfolgreich stattfinden, wenn auch die dafür notwendige Infrastruktur vorhanden ist. Bildung hat nur dann Platz, wenn viele andere Dinge geregelt sind. Und nicht zack eines Tages: Schule, türkisch lernen. Weil Amtssprache und wir sind alles Türken. So einfach ist das nicht.
Dass die Eltern dem nicht wirklich wohlgesonnen gegenüber stehen, ist mehr als nur verständlich. Der Lehrer hat sie vor versammelter Gesellschaft runter geputzt. Keine Schulhefte, Stifte - ja mag sein, wenn die Priorität das tägliche Brot ist. Kein Frohlocken über die Zeugnisse, ja auch dies mehr als nur verständlich. Wie denn auch? Hoher Stellenwert des Schulbesuchs? Nein, war nicht vorhanden, auch dies mehr als nur verständlich die Probleme der Leute, der tägliche Kampf berücksichtigend. Das ein Zeugnis wichtig ist und man dies nicht einfach faltet, woher soll die arme Frau dies denn wissen? Wurde es ihr je vermittelt? Nein.
Meine Schwiegereltern können nicht lesen und schreiben und sprechen auch kein türkisch. Meine Schwägerinnen können nicht lesen und schreiben, bis heute (ihren eigenen Kinder aber schon, einige haben es bis zur Uni in Istanbul geschafft - man weiss schon um den Wert von Bildung).
Für Schule gab es damals keine Zeit - nicht dass es die Eltern bzw. der Vater direkt verboten hätte. Irgendwie kümmerte sich so und so nie jemand darum von staatlicher Seite. Mein Mann war in der Schule und hat aber jeden Tag vor der Schule den Krämerladen des Vaters vor dem Öffnen bereit gemacht, Waren angeschrieben, die Kasse vorbereitet, etc. pp. Und am Nachmittag nach der Schule hiess es wieder zuerst Laden und alles bereit machen. Mein Mann ist mit 12 mit dem Lastwagen der Familie von A nach B gebrettert und hat Waren geholt, geliefert (mein Mann ist nahezu 2 Meter gross.. und wer hat schon genau hingeschaut). Eine Kindheit, so wie wir sie kennen und die Meisten von uns wohl erleben durften, kannte mein Mann nicht. Familiäre Pflichten und Verpflichtungen und Schule, keine Spielzeiten.
Auch mein Mann hat den fatalen Fehler schon gemacht und in einer Bewerbung geschrieben, dass seine Muttersprache Kurmanci (Kurdisch) und einer seiner Fremdsprachen Türkisch (neben Deutsch) sei. Er hat dies ohne weiter zu überlegen so geschrieben, ohne politischen, ohne irgendwelche Hintergedanken, ohne etwas hervorheben oder darstellen zu wollen. Die Reaktion war entsprechend.
Und dies ist auch heute noch Realität - es hat sich teilweise kaum etwas verändert. Armut, viele Menschen, die nicht lesen und schreiben können - und dabei ganz andere Problem haben, als dies in Priorität umsetzen zu können oder zu wollen. Das seit 1980 vorangetriebene GAP (Südostanatolien Projekt) soll zur Verbesserung beitragen. Verbesserung für die Leute und andererseits Verschlechterung für die Natur. Vieles wurde bereits umgesetzt, Atatürk Staudamm, GAP Airport Urfa, Strassen / Autobahn bis Urfa und danach wird es wieder schlechter und schlechter (Die Strecke von Urfa nach Mardin beurteile ich mit meinem westlichen Standard als lebensgefährlich und wir sind die mit ca. 120 km/h entlang gefahren, weil wir sonst zu spät an einen Termin gekommen wären.. im Regen, den es sonst normalerweise im Juli nicht gibt, nur dann wenn ich dort unterwegs bin - ev. ist dies aber heute anders, meine Erlebnisse sind aus 2009).
Alles in allem hat vieles seine Gründe, warum es so ist. Fakt ist für mich, dass es mit einem Leher und die türkische Sprache lernen nicht getan ist. Es muss noch viel getan werden, aber sicher nicht ein Pflichtlehrer, der ein Jahr bleibt, vielleicht zwei Jahre und dann wieder das Weite sucht.
Und warum nicht zweisprachigen Unterricht? Kinder lernen schnell. Es wäre kein Nachteil - für keinen. Wir haben auch vier Landessprachen und sind trotzdem alle Schweizer - im Notfall reden wir Englisch :mrgreen:. Wo wäre das Problem?
Wen es interessiert:
http://de.wikipedia.org/wiki/Südostanatolien-Projekt