AW: Dinge aus Eurer Kindheit...
Ein Friedhof der Erinnerungen?!
Im Urlaub besuchten wir meine Oma in der Türkei. Da denke ich auch an diesen großen, schönen, leicht verwilderten Garten, den sie hatte. Es schien, als würde er durch uns alle zum Leben erweckt werden. Obwohl er ja im Grunde nicht tot war. Alles umzäunt: Man könnte denken, dass man selbst anderswo woanders sei.
Nach einem unbeschwerten Aufwachen Tee. Dieses warme, frische typische Weißbrot. Die Butter schmeckte für mich anders. Darauf selbstgemachte Marmelade von Oma. Kirschmarmelade, tropfend, schmeckte einzigartig gut.
Sommer. Der Morgen. Die städtischen Hintergrundgeräusche waren für mich nicht heimisch und doch fühlte man sich geborgen. Andere Gerüche. Beim Frühstück sprachen alle, und es waren viele, kreuz und quer. Schöne Atmosphäre. Wie im Schwimmbad. Erste Lagebesprechungen unter Kindern! Was sollten wir gleich spielen?!
Egal was gespielt wurde: Der Bakkal war unser Dreh- und Angelpunkt. Ein käufliches Paradies (und ein manchmal wegen uns genervter Bakkal-Amca, welcher unsere Allüren stoisch über sich ergehen liess
Der Gummiball vom Bakkal:
Er ging natürlich öfters kaputt. Sorgte bei den Erwachsenen für Ärger. Mit ihm konnte man in der großen Einfahrt spielen. Bis man vertrieben wurde. Spielverlegung nach draußen. Enge Gassen und erschwerte Ballkontrolle durch Kopfsteinpflaster. Nicht selten Streit, Beschimpfungen und laute Rufe. Das gehörte auch zur Härte des Spiels. Die Erwachsenen waren (und sind) im Fußball auch nicht vorbildlicher. Alles bis zur Erschöpfung und häufig bis das fehlende Tageslicht uns schleichend den Spielspaß nahm.
Die Getränke vom Bakkal:
Diese kleinen Glasflaschen. Nicht nur Cola! Yedigün. Uludağ Gazoz. Eiskalter Kirschsaft im Sommer. Mal mit, mal ohne diese dünnen Strohhalme
. Ich kann mich nicht erinnern, ob wir dabei gerülpst haben?! In dieser "Welt" hatte man nichts anderes als nur Zeit, die Sonnenstrahlen, die Wärme, die hupenden Autos aus der Entfernung, die Gerüche wahrzunehmen. Nur dieses mehrmalige Ansetzen am Strohhalm lenkte einen ab. Wieder ein kalter Schluck. Wieder nichts zueinander sagen. Musste man aucht nicht. Es war alles ruhig und intensiv zugleich. Man war "dort" angelangt, wo anderen später trotz Bücher und Meditation, Autosuggestion... der Zugang verwehrt bleiben wird.
Kurz vor dem Mittagessen kann ich mich an Omas Fernseher erinnern. Kleiner, separater Raum. Mit Blick in den Garten und wahnsinnig interessante Häuserkonstellationen. So einen ähnlichen Blick habe ich mir später, geprägt durch diese Erlebnisse, als einrahmbares Poster gekauft. Beim Mittagessen war für jeden etwas dabei. Nach dem Mittagessen war quasi vor dem Mittagessen: Wieder Fernseher eingeschaltet. Danach ein mitgebrachtes Buch gelesen.
Die Kaugummis, Plätzchen und Bonbons vom Bakkal:
Plätzchen waren ok. Ab und zu Bonbons – auch ok. Unser Hauptaugenmerk war auf diese süßen Kaugummis gerichtet. Sie bestanden aus Sammelkarten: Unterschiedliche Modelle von Flugzeugen und ihre Geschwindigkeit in km/h. Oder interessante Autos. PS. Wagenlänge usw.
Zurück konnte man dann untereinander spielen. Je mehr Bakkalbesuche hinter uns lagen, desto mehr Spielspaß hatte man durch die wachsende Anzahl an "Spielkarten".
Danach RISIKO. Nicht das Brettspiel. Sondern eine Eigenkreation aus Lego, Playmobil, Plastiksoldaten und komischen Nicht-Playmobilfiguren. Wieder Streit und Gebrüll untereinander. Grund: Bruch der Friedensverhandlungen. Angriff ohne Kriegserklärung (
Wikipedia: Bei der Kriegserklärung handelte es sich nach klassischem Völkerrecht um eine einseitige, formlose Willenserklärung an die gegnerische Partei, die den Eintritt des Kriegszustandes ankündigt). Irgendein Erwachsener musste einschreiten. Sie waren in ihrer Funktion eine Mischung aus UNO und EuGH. Alles nicht anders als bei den erwachsenen Menschen weltweit. "Wir hatten Frieden geschlossen und er hat trotzdem meine Playmobilmännchen mit Legosteinen beworfen
!!!"
Frieden. Immer wieder Frieden:
In die Innenstadt gehen. Alles bekannt (Menschen, Häuser, Autos) und doch irgendwie anders. Es riecht alles anders. Nicht schlechter. Geräuschkulisse und Betriebsamkeit.
Wer bin ich? Ich bin der, der sich jetzt, bei alldem, in diesem Moment nicht unwohl fühlt, wie ein Fisch im Wasser und sich ein Eis kaufen will. Lecker Eis! Spazieren gehen, oder besser gesagt: Erkunden bis man müde war. Überall mal hineinschauen. Nichts zielgerichtet. Ausser das Erkunden selber.
Das Taxi. Tofas:
An einem Erkundungstag waren wir wieder hundemüde. Keine Lust zurückzulaufen. Was passiert, wenn sich mehrere "Verrückte" zusammentun?
Es kommt eine relativ (Die Ausgangsenergie ist da u.a. abhängig von der Masse der Verrückten) bescheuerte Idee heraus! Die Kinder liefen natürlich einen Teil des Weges zurück. Als es beschwerlich wurde – und man diesen langen Wegabschnitt mit den beschiss... Kopfsteinpflastern nicht mehr gehen wollte, beschloss man Kind für Kind, sich das kostengünstige Taxi zu teilen. Der Taxifahrer war irgendwann sauer. "Wie jetzt? Hier rechts oder links. Wisst ihr nicht wohin. Bis wohin denn noch!!!" Die Strasse wollte uns (
vorsätzlich) nicht einfallen. Nicht nur (mein früheres) ich fand die Situation urkomisch. Unsere selbst erschaffene, römische Dekadenz in der Türkei. Die gesunden Kinder, die bis in die Nacht Fußball spielen könnten, haben keine Lust zu latschen, und quälen Taxifahrer und Autofederung bis aufs Äusserste. Wir lachten uns irgendwann an und wurden vom Taxifahrer "herausgeschmissen"
. Die paar Lira, die wir abdrücken mussten, waren es seinerzeit wert.
Zurück im Haus. Gleich Abendessen. Uhrzeit jedoch nicht genau definiert. Es fehlen noch Wassermelonen. Kein Problem! Können wir doch holen!! Also kurz nochmals zurück in Richtung Innenstadt. Nicht so viele Minuten Fußweg davon entfernt war unser Taxi-Einstiegspunkt. Gegenseitiges Anschauen. Das Gelächter platzt aus uns heraus. Jeder lacht auf seine Weise. Die Menschen um uns herum & die Zeit spielen in diesem Moment keine Rolle. Das Lachen ist jetzt unsere gemeinsame Sprache: Wir sind. Jetzt. Jetzt sind wir. Auch wenn wir früher auch "waren" und danach.
Einem morgigen Tag folgt der nächste (Murmeltier-)Tag. Interessante Geschäfte. Eis. Gazoz. Kino. Deliye (ve çocuğa?) hergün bayram:lol:
Nochmals im Bakkal. Ein letztes Mal:
Man wußte gar nicht mehr, was man da überhaupt wollte. OK, dann bis zum nächsten mal. Tschüüühüüüüs. Selam...Aladin...leikum
Peinlich! Andererseits. In jenem Moment. Lachen auf einer Welle. Könnte man sie physikalisch messen: Selbe Länge!
Dieser Sommer ging irgendwann zu Ende. Irgendwann endet ohnehin alles. Ausserdem ist doch nach dem Ende gewissermaßen vor dem Ende. Es gab natürlich mehrere Sommerurlaube in der Kindheit. Aus ihnen hätte man eine Einheit bilden können. Unterbrochen wurden diese Sommerurlaube von allem Anderen (könnte man sagen). So wie der Film durch Werbepausen unterbrochen wird. Oder werden die Werbepausen im übertragenen Sinn durch den Film unterbrochen.
Wer sind wir - wann?
Auch eine Serie endet einmal. Viele Jahre später einmal Rückkehr dorthin. Alles erscheint einem irgendwie kleiner. Man wird durch die Erinnerungen und neuer Erwartungshaltung fast erdrückt. Es ist keine Angst, aber eine Furcht: Begegne ich mir selber? Oder ist "er" schon gestorben? Einen auch eigenartigen Respekt vor dem Gebäude. Nicht ohne Grund! Selbst vor der Anordnung: Was wo ist. Ja. Das ist hier. Das da ist (ja noch) dort. Hier wurde Fußball gespielt. Hier war die Verletzung! Und hier wurde sie von einer Katze aufgeschreckt. Gegenseitig haben sie sich dann erschrocken. Urkomisch (Ist diese Gemütslage nun die erste "eigene" Begegnung?)
Auf einmal sind dort wieder alle bekannten Menschen versammelt. Die Neuen können und müssen dies jetzt nicht wissen! Um sie geht es jetzt nicht.
Das Haus (und damit der Garten) füllten sich wieder. Mit dem bekannten Leben?!
Nein. Es war wie eine Grabstätte. Ein Friedhof der Erinnerungen. Ich konnte von einigen die Knochen sehen und wie sie im Sarg lagen. Obwohl sie noch lebten und der eine oder andere erst Jahre später wirklich starb. Tot war. Ich spreche jetzt nur für mich:
Sie "meinten" sich voller Leben – und waren tot. Stolze Untote. Oder besser ausgedrückt: Zombies. Das sind sie (gewesen). Da besitzt sogar das Haus mehr Anmut. Bis er von ebensolchen abgerissen wird. Lächerlich. Lächerliche Marionetten (wie weit bin ich es auch
)
Ich möchte aber nicht stolz verkünden, dass ICH am Leben bin. Nur der oben beschriebenen Ergebenheit willen. Oder nur allein wegen der mutwilligen Bereitschaft, ihm (aus der Vergangenheit) entgegenzutreten und Rechenschaft abzulegen.
Allein das geschrumpfte Haus und der Garten, die Furcht und Demut, sprechen eher gegen einen. Diese bewußte Wahrnehmung jedoch, lässt einen vielleicht "nur" langsam(er) sterben. Weil ES so ist.
Und wenn man gerade im Moment einer belanglosen Gemeinsamkeit, losgelöst von Ort, Uhrzeit und Gedanken die durchdacht werden müssen, wie die "bösen" Kinder im Taxi,
IST, dann unterscheidet sich ein glücklicher Moment nicht von einem Schulterschluss von (etwa) Katzen. Vom Wesen könnte man sich dadurch unterscheiden, solche Momente bewußt herbeizuführen. Was nicht unbedingt ein Vorteil sein muss. Sondern beschwerlich.