Gauck spricht wie ein Präsident

Bintje

Well-Known Member
Wenn ich Gaucks auszugsweise zusammengefassten Aussagen in der "Welt" lese, beschleicht mich der Verdacht, dass ich wohl nicht allzu viel verpasst habe. Im Grunde arbeitet er sich immer noch an den 68'ern ab, die er, glaube ich, in ihrer Relevanz für die evolutionäre Entwicklung unserer Gesellschaft nie verstanden geschweige denn zu schätzen gewusst hat. (Was dieser Aufbruch tatsächlich bedeutete, konnte er als damaliger DDR-Bürger vermutlich kaum nachvollziehen, scheint es aber bis heute auch noch nicht intensiver reflektiert zu haben.)

Schade, denn eigentlich achte ich Gauck, auch wenn er mir öfters zu knarzig und kulturrestaurativ auftritt. Und er begeht m.E. echte Denkfehler bis hin zur Geschichtsklitterung, wenn er zum Beispiel unter Verweis auf die angeblich gefährdete Meinungsfreiheit vor einem imaginären Linksruck warnt. Wörtliches Zitat:
"Wir dürfen nicht sagen: Links darf alles, ganz links fast alles, in der Mitte, die Liberalen und netten Konservativen, die dürfen das Allermeiste und die Edel-Grünen sowieso – und dann haben wir aber eine ganz begrenzte Zuweisung von Meinungsfreiheit bei dem, was wir rechts nennen. Rechtsextrem ist dann schon faschistisch, das trenne ich ab, das wollen wir nicht.“

https://www.welt.de/politik/deutsch...Lanz-Toleranz-ist-manchmal-eine-Zumutung.html

Wenn er tatsächlich meint, es bestünde die Gefahr, dass "Links alles" und "ganz links fast alles" darf, soll er einfach mal Leute wie Bodo Ramelow, Andrej Holm oder Kerem Schamberger fragen.
Er könnte auch mit Seenotrettern, Atomkraftgegnern oder G20-Demonstranten reden und überdies gern mit allen, die mit regelmäßiger Penetranz als "linksgrünversifft" nicht nur durch die Blogosphäre getrieben werden.
Das wäre für ihn selbst wahrscheinlich auch sehr bewusstseins- und toleranzerweiternd.

Und trotzdem glaube ich zu wissen, was Gauck meint und gebe ihm teilweise recht.
Nicht weiter erstaunlich, zumal er die Gabe hat, sowieso mehrheitsfähige Binsen mit Getöse zu umkränzen. ^^
Das Tragische daran: den Kampf um die Wörter haben ihm längst andere abgenommen.
Rechtspopulisten und Rechtsextreme, die sich selbst in der Regel nur als "Konservative" darstellen wie Gauland, maximal als Rechte, wissen genau, was sie tun. Sie saugen Honig aus begrifflichen Verschiebungen, zumal ihnen das gestattet, sich ein bürgerliches Mäntelchen umzuwerfen und wie brave Biedermänner aufzutreten.
Keine Gefahr für die Demokratie, so lautet das von ihnen erwünschte Framing.

Ich fürchte, Gauck transportiert das mit seiner Lanze für "Rechts" und eine "erweiterte Toleranz" ungewollt ebenfalls, obwohl ich ihm keine Sympathien für Extremisten egal welcher Couleur unterstelle. Wie gesagt: schade.

Ich hätte es interessanter gefunden, hilfreicher, wenn er trennschärfer argumentiert und Konservative, die ja ohnehin rechts sind, die Bundesrepublik von Anfang an geprägt haben und nun im Licht rechtspopulistischen Neusprechs als mittig bis links erscheinen (sollen), dezidiert aufgefordert hätte, sich von Reaktionären und Völkisch-Nationalen abzugrenzen. Das wäre mal was gewesen. Einfach mal die wehrhafte Demokratie in den Mittelpunkt stellen und insbesondere einigen Unionsfürsten als Hausaufgabe diktieren, statt "das Problem" wieder mal nach links zu verschieben. Als ginge es darum, dass Rechte nicht dürften, was sie ohnehin dauernd tun: laut und deutlich ihre Meinung hinausposaunen. Aber was erwarte ich ....
 

sommersonne

Well-Known Member
Ich glaube ja ihr interpretiert in seine Worte zu viel hinein. Ich beziehe mich nur auf seine "Toleranzrede". Er meint nicht, übt Toleranz mit Nazis, sondern übt Toleranz mit Unzufriedenen die die AfD aus Protest wählen.
Sollen die alle tatsächlich und tatkräftig ins braune Lager rutschen oder soll man nicht besser mit ihnen reden und versuchen sie davon ab zu bringen? Sie lieber verachten und die Schar der Rechten vergrößern? Dann viel Spaß in ein paar Jahren.
 
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