In der Zeit gibt es wieder einmal einen
Artikel über den Ausgang der Wahlen in der Türkei, der sich ausschließlich mit RTE beschäftigt. Ich will gar nicht beurteilen, ob das so alles stimmt oder vollständig ist. Für mich ist es allein deshalb schon im journalistischen Sinne schlechter Artikel, weil er nur die Vorkommnisse und Entwicklungen beschreibt, ohne auch nur in einem Nebensatz darauf einzugehen, wie das überhaupt möglich sein konnte.
Das ist genau die Haltung, die ich auch der Opposition in der Türkei vorwerfe: es geht nicht um Erdogan, das Problem sitzt viel tiefer und Erdogan gelingt es allenfalls, dieses Problem zu seinen Gunsten zu verwenden. Jedes Volk verdient genau die Führer, die es auch hat, das ist in Demokratien mit freien Wahlen so. Und wenn in der Türkei eben das demokratische Verständnis so schwach ausgeprägt ist, dass all diese in diesem Artikel angeführten Maßnahmen hingenommen werden und möglich sind, ganz gleich für welche Person, dann verdient es eben auch diesen RTE.
Aber das grundlegende Problem ist eben dieses fehlende demokratische Verständnis und das fehlt eben auch in der Opposition weitgehend, nicht nur bei den AKP-Anhängern. Das ist ein strukturelles Problem, das viele verschiedene Ursache hat, auch heute noch und auch von der Opposition ausgeübt. Beispielsweise dieser unsägliche Atatürk-Kult seit der Republikgründung über Jahrzehnte hinweg, der allgegenwärtige Nationalismus oder die Allmacht des Militärs in der alten Republik, der ungehobelte rohe Umgang mit anders denkenden in der Politik wie in den Medien, das uniforme Schulsystem usw. All das ist nicht dazu angetan, ein demokratisches pluralistisches Verständnis in der Bevölkerung zu verwurzeln, die die Vielfalt an Lebensweisen und Meinungen und Völkern zu schätzen weiß. Stattdessen wird jedesmal, wenn es wieder etwas schwieriger wird, der Ruf nach einem starken Mann laut, der es bitte schön richten soll.
Das müsste jetzt eigentlich in der Türkei thematisiert und diskutiert werden: es war gut, dass Atatürk der Heiligenschein abgenommen wurde, damit endlich neben seinen Errungenschaften auch seine Fehler diskutiert werden können. Es war richtig, dass das Militär endlich entmachtet wurde, weil es einer Demokratie eben auch gestattet sein muss, Fehler zu machen und aus diesen zu lernen. Es war richtig, die religiöse und traditionsbewusste ländliche Bevölkerung ebenso wie auch die kurdische Bevölkerung aufzuwerten und ihnen offenen Zugang zur gesellschaftlichen Teilhabe zu gewähren. Das sind die positiven Entwicklungen des letzten Jahrzehnts. Aber genauso verkehrt ist es, dass diese demokratische Entwicklung nun wieder ausgehöhlt und in sein Gegenteil verkehrt wird. Es geht nicht um RTE (den einen oder anderen eloquenten Spinner wird es immer geben), sondern es muss um die Bevölkerung gehen, um ein modernes demokratisches Verständnis (das dann jederzeit in der Lage sein könnte, die vereinzelten Spinner in ihre Schranken zu verweisen)