AW: Pflichten/Regeln/Verbote im Christentum
Da ich (evangelischer) Christ und Religionslehrer bin, möchte ich ein bisschen dazu sagen.
Das Christentum beruft sich, genau wie das Judentum, auf die Bibel. Im Unterschied zum Judentum hat das Christentum neben dem Alten Testament auch das Neue Testament, das die Evangelien, also die Geschichten von Jesus, und ein paar Briefe der frühen Christen, z. B. von Paulus, enthalten. Das Neue Testament ist im Zeitraum von ca. 50 bis 120 n. Chr. entstanden.
Das Alte Testament enthält die Geschichten Israels und die jüdischen Gebote, wie z. B. die Opfervorschriften, die Sabbatgesetze usw.
Das Grundprinzip für Christen ist, dass sie nicht durch ihre guten Werke sondern durch ihren Glauben an Jesus Christus, den sie als den Sohn Gottes ansehen, vor Gott gerecht werden, also durch die Gnade Gottes.
Dennoch sind die Christen aufgerufen, sich an die Zehn Gebote zu halten, die ihrer Meinung nach die Gebote Gottes des Alten Testaments zusammenfassen ("Du sollst keine anderen Götter haben!, Du sollst nicht stehlen!, Du sollst nicht töten!" usw.). Die sonstigen Gesetze des Alten Testaments, wie z. B. die Opfervorschriften, Sabbatgebot, Speisegebote usw. sind für Christen nicht mehr vorgeschrieben.
Die Einhaltung der Zehn Gebote macht den Christen jedoch nicht gerecht, bzw. ein Übertreten macht ihn nicht ungerecht, sondern wird vergeben. Dadurch sind die Gebote im Christentum weniger absolut als z. B. im Islam oder Judentum. Ein Freibrief zur Sünde soll die Gnade Gottes jedoch nicht sein.
Das Prinzip der "Gerechtigkeit aus Glauben und Gnade" wurde durch Martin Luther im Spätmittelalter wieder zu Tage gefördert und führte zur Abspaltung der evangelischen (auch 'protestantisch' genannt) von der katholischen Kirche. Im Katholizismus wird das Prinzip der "Gerechtigkeit aus Glauben und Gnade" bis heute weniger deutlich gelehrt. Die Zugehörigkeit zur katholischen Kirche und das Einhalten von kirchlichen Pflichten scheint mir im Katholizismus mit eine Bedingung der Gnade Gottes zu sein.
Man muss sich klar machen, dass nur ein sehr geringer Teil der Bevölkerung in Deutschland tatsächlich gläubige Christen sind, auch wenn viele Deutsche sich aus welchen Gründen auch immer sich als "Christen" bezeichnen. Meiner Schätzung nach sind nur so ca. 10% wirklich gläubige Christen und die Mehrheit davon meiner Meinung nach katholisch. Gerade bei Muslimen entsteht dadurch oft der Eindruck, der Lebensstil der deutschen Gesellschaft sei 'christlich', was nicht der Fall ist.
Die evangelische Kirche in Deutschland zeichnet sich durch eine sehr starke Liberalität aus, die auch von vielen evangelischen Christen als mangelnde Konsequenz kritisiert wird.
Seit ca. den 70er Jahren gibt es unter anderem auch deshalb auch in Deutschland protestantische fundamentalistische Strömungen, die vor allem aus Amerika stammen. Sie sind meistens außerhalb der evangelischen Kirche in sogenannten "Freikirchen", z. B. den Baptisten, organisiert und zeichnen sich dadurch aus, dass sie fordern, die Bibel in allen Aussagen, also auch Schöpfungsgeschichte, Wundergeschichten, Dämonenaustreibungen, Altes Testament usw. wörtlich zu nehmen, d. h. dass ihrer Meinung nach alles genau so geschehen ist, wie es in der Bibel steht. Sie predigen keine Gewalt, üben jedoch meiner Meinung nach faktisch Druck auf ihre Gläubigen durch das Erwecken von Angst vor Gott, der Hölle, Dämonen usw. aus. Diese Haltung ist natürlich hoch problematisch und spiegelt meiner Meinung nach die Krise der Religionen in der modernen Zeit.
Soweit mein neunmalschlauer Lehrervortrag. :wink: