Ich bin absolut kein Fan von so geschmackloser "Satire" wie Charlie Hebdo, aber man muss es auch nicht sperren.
Die Sperrung der Charlie-Seite finde ich gut
Es geht nicht darum, wie man bestimmte Satire je individuell finden mag. Mir persönlich gefallen aber viele Sachen von Charlie Hebdo recht gut ...
"Was darf die Satire?", fragte Kurt Tucholsky vor knapp 100 Jahren. Tucholskys bekannte Antwort: "Alles."
Niemand sollte wegen seiner religiösen Überzeugungen (in der Menschheitsgeschichte hat es bislang mehr als 450.000 Göttinnen und Götter gegeben) diskriminiert werden, solange die entsprechenden religiösen Imaginationen (der aus Istanbul stammende bekannte US-Radio- und Fernsehmoderator Cenk Uygur spricht diesbezüglich von "wild fantasies") im Rahmen bestehender Gesetze ausgelebt werden (Witwenverbrennung z. B. geht gar nicht). Anders sieht es dagegen bei Religionen aus: Diese sind keineswegs gegen Kritik zu schützen. Im Gegenteil. Erst durch immerwiederkehrende Religionskritik, Religionssatire usw. ist historisch erreicht worden, dass überhaupt eine (nach wie vor prekäre, aber weitgehend friedliche) Koexistenz zwischen nicht-religiösen und (nur zu oft von Missionsdrang beseelten) religiösen Menschen in bestimmten Weltregionen errungen werden konnte.
Gefährlich wird es, wenn in Zusammenhang mit "Charlie Hebdo" vom "provokativen Charakter, der den gesellschaftlichen Frieden stört", die Rede ist. Bezüglich des dschihadistischen Anschlags auf die Satirezeitschrift hat Deniz Yücel (übrigens Träger des Kurt-Tucholsky-Preises für literarische Publizistik) in einem bemerkenswerten taz-Kommentar, in dem Yücel auch gegen Pegida, AfD & Co austeilt, festgestellt: "Wer die Tat mit 'Aber' verurteilt, rechtfertigt sie"
http://www.taz.de/!152463/
Richtig: Wer mit einem "aber" die Pariser Verbrechen relativiert, wer Charlie Hebdo Provokation und Friedensstörung vorwirft, der begibt sich in die Grauzone einer Ehrenrettung der Mordtaten. Wenn ein Ehemann seine Frau (oder auch eine Ehefrau ihren Mann) schlägt und jemand das kommentiert mit, "dieser Übergriff ist damit nicht entschuldigt, aber die Frau (der Mann) hätte ihren Mann (seine Frau) ja auch nicht dauernd provozieren müssen“, entschuldigt er diesen Übergriff. Wenn Menschen für das Anfertigen von Zeichnungen, mit denen sie dem religiösen Furor widersprechen, ermordet werden, ist endgültig eine rote Linie erreicht, an der eine simple Entscheidung gefällt werden muss: Lehnt man es ab, dass auf Meinungsäußerungen mit tödlicher Gewalt reagiert wird oder nicht? Wer es ablehnt, kann auf den Mord an Menschen, die Zeichnungen angefertigt haben, nicht mit "aber“ reagieren. Wer in so einer Situation "aber“ sagt, der will die Dschihadisten mit der Kalaschnikow entscheiden lassen, wo die Grenzen der Meinungs- und Kunstfreiheit verlaufen.
Punktgenau auch eine (englischsprachige) Stellungnahme des indo-britischen Schriftstellers Salman Rushdie, der 1989 anlässlich seines Buches "Die satanischen Verse" mit einer (nach wie vor islamisch gültigen) Todes-Fatwa seitens des damaligen iranischen Chef-Ayatollahs Khomeini belegt worden ist.
http://blogs.wsj.com/speakeasy/2015/01/07/salman-rushdie-i-stand-with-charlie-hebdo-as-we-all-must/
Hier meine (freie) Übersetzung:
"Ich stehe zu Charlie Hebdo - so wie wir das alle tun müssen!
Religion, eine mittelalterliche Variante der Unvernunft, wird dann zu einer realen Bedrohung unserer Freiheiten, wenn sie mit moderner Waffenausrüstung und -technik kombiniert wird. Dieser religiöse Totalitarismus hat eine tödliche Mutation im Herzen des Islams erzeugt und in Paris erleben wir heute die tragischen Konsequenzen. Ich stehe zu Charlie Hebdo - so wie wir das alle tun müssen, um die Kunst der Satire zu verteidigen, die immer ein Quell der Freiheit gewesen ist. Eine Kraft gegen Tyrannei, Unehrlichkeit und Dummheit. 'Respekt vor Religion' ist eine Tarn-Formulierung für 'Furcht vor Religion' geworden. Religion benötigt genauso wie alle anderen Ideen und Auffassungen Kritik, Satire und - ja doch - unsere furchtlose Respektlosigkeit."
Salman Rushdie
PS: Die (als eine von inzwischen knapp 69.000 in der Türkei gesperrten Seiten) geblockte Atheisten-Website scheint (durch einen Trick? = nicht mehr in der Türkei gehostet?) wieder eine Online-Präsenz zu haben:
http://ateizmdernegi.org/