Deutschland schafft sich ab

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Pit63

Guest
AW: Deutschland schafft sich ab

Mit solchen Relativierungen wäre ich sehr vorsichtig. Es stimmt zwar, dass in jeder Gesellschaft faschistische und rassistische Tendenzen vorkommen. Anerkannte Soziologen haben ermittelt, dass in jeder Gesellschaft, ganz gleich wie sie organisiert und strukturiert ist oder welches System praktiziert wird, ein Anteil von etwa 20% der Bevölkerung sich regelmässig dem gesellschaftlichen Konsens und den anerkannten Normen entzieht. In diesem Bevölkerungsanteil tummeln sich dann neben den politischen, religiösen oder weltanschaulichen Extremisten auch die Asozialen und Aussteiger, aber eben auch die Visionäre. Dem ist tatsächlich so.

Aber: niemals und nirgendwo sonst in jüngerer Vergangenheit wurde der Rassismus derart umfassend und konsequent und von solch einem großen Bevölkerungsanteil getragen ausgelebt wie vor noch nicht einmal siebzig Jahren in diesem Land. Wer das verdrängt, verharmlost oder relativiert, der handelt fahrlässig. Und es ist bei weitem nicht so, dass es ein Selbstläufer gewesen ist, dass seitdem bis auf ein paar brennende Häuser und Asylantenheime, einige geschändete Friedhöfe und einigen Stammtischrednern weit gehend Ruhe im Karton herrschte. Es waren permanent gesellschaftliche Anstrengungen und Hallo-Wach-Rufe nötig, um immer wieder aufkeimende reaktionäre Tendenzen zu unterdrücken und zu entschärfen, angefangen von den Entnazifizierungskampagnen der Besatzer, dann die 68-er Bewegung, in deren Anschluss dann die Friedensbewegung, nach Hoyerswerda, Solingen und Mölln dann die beeindruckenden Lichterketten usw.

Aber im Zuge des Niedergangs des Ostblocks, dem Wunsch der konservativen Amerikaner, mit Hilfe der Kampf-der-Kulturen Ideologie einen neuen Gegenpol zur westlichen Welt aufzubauen, im Zuge von 9/11 und den seitdem andauernden Kriegen im Irak und Afghanistan und natürlich vor dem Hintergrund der zwangsläufigen Sättigung und Stagnation des Wirtschaftsimperialismus, sind die gesellschaftlichen Regulations- und Kontrollmechanismen gegen die genannten und in diesem Land tatsächlich in besonderem Masse ausgeprägten Tendenzen immer mehr gebröckelt und verschwunden. Nur in diesem Szenario war es möglich, dass im Deutschland des Jahres 2010 ein kleiner Technokrat und verkappter Rassist wie Sarrazin mit ein paar provokativen pseudowissenschaftlichen Thesen derart hohe Wellen schlagen konnte.

Wehret den Anfängen, kann ich da nur sagen

(...statt bei diesem Thema mit dem Finger auf andere politische Lager und Länder zu verweisen, um damit vom eigenen Zustand und Problem abzulenken)


Deinen Ausführungen zum nationalsozialistischen Rassismus und die Zeit danach kann ich nicht zustimmen und zwar in keinem Punkt.
Das wäre aber Thema für einen Extrathread.

Heute gibt es kaum Deutsche, die echte, verinnerlichte, argumentativ begründete rassistische Ansichten vertreten.
Ich weiss nicht, wen Du persönlich kennst, meiner Erfahrung nach fühlt sich den bekennenden Nazis oder Rassisten kaum jemand verbunden, in der Regel ist das Gegenteil der Fall, man findet sie abstossend.

Wenn bisweilen ein anderer Eindruck entsteht, dann allenfalls aufgrund von falscher Solidarität mit den falschen Leuten. Diese Solidarität entsteht aufgrund von antideutschen Antifa bzw. Anitrassismus Ansichten in der Art, wie Du sie hier äusserst.
Das sagt nun noch nichts über Deine Ansicht aus, es besagt vielmehr, dass Menschen, die sich zu Unrecht (kollektiv) kritisiert fühlen, zu reaktivem (kollektiven) Verhalten neigen.

Dieser Effekt wird duch die herrschende politische Korrektheit permanent hervorgebracht und aufrechterhalten. Ein falsches Wort, dann bricht ein politisch- medialer Sturm los, der idR in keinem Verhältnis zum Anlass steht.

Damit kommen wir zu Sarrazin.
Ihn halte ich ebenfalls nicht für einen Rassisten im klassischen Sinn- je nachdem natürlich wie man den Begriff definiert. Technokrat, mag sein, weltanschaulich eher ein Sozialdarwinist. Darauf deuten seine Leistungsideologie, seine Arroganz, seine Umgangsformen aber auch die aktuelle genetisch ausgerichtete Argumentation in seinem Buch hin.

Für gefährlicher als seine Überzeugungen halte ich den Glauben, man könne Meinungen sozusagen vorab mit der moralischen Keule unterdrücken.

Die Diskussionen müssen geführt werden, da muss man durch.
Andernfalls ruft man unterschwelligen Widerstand hervor, der wiederum zunehmend Oppsosition um der Opposition willen erzeugt. (Reaktives, statt proaktives Verhalten)
Ohne echte Meinungsfreiheit entsteht ein Klima, dass Extremismus begünstigt, statt ihn zu verhindern. Leider bemerkt man den dann erst, wenn er sich bereits in einem fortgeschrittenen Stadium befindet.


P.S.: Persönlich belastet es mich übrigens nicht, wenn den Deutschen ihre Geschichte vorgehalten wird oder sie aufgrunddessen als besonders rassistisch eingestuft werden. In solchen kollektiven Mustern denken nun mal die meisten- und jeder hat dafür seine individuellen Gründe/Motive.
Für mich haben Nationalität oder andere personenübergreifende Identitätszuweisungen dagegen nur insoweit Bedeutung, als man sie diesen tatsächlich einräumt.

Das einzige kollektive Identitäsmerkmal, das ich gelten lassen würde, wäre die Feststellung, dass wir alle Angehörige der Gattung Mensch sind.
Lieber wäre mir allerdings die Definition individuelle Lebensform.

MaW, ich halte kollektive Kritik persönlich für abwegig und bedeutungslos.

 

Zerd

Well-Known Member
AW: Deutschland schafft sich ab

Pit,

zunächst einmal: ich hatte an die Einzigartigkeit des Dritten Reiches erinnert und vor diesem Hintergrund gerade hierzulande zu einer besonderen Vorsicht gemahnt. Vielleicht sollte ich auch noch daran erinnern, dass Hitler 33 auch von vielen Nicht-Rassisten und Demokraten gewählt und geschätzt wurde, gerade mit dem Argument, dass da nun endlich einer die Konventionen der politischen Korrektheit überwindet und Tacheles redet.

Den Schuh, dass ich mit dieser lapidaren Feststellung kollektive Kritik üben würde, den ziehe ich mir nicht an. Mir ist durchaus bewusst, dass die vergasten Juden auch mehrheitlich Deutsche waren, dort auch viele deutsche Kommunisten und Nazigegner umgekommen sind. Ebenso waren die erwähnten 68er in diesem Land mehrheitlich Deutsche, die Friedensbewegten ebenso und auch die kilometerlangen Lichterketten waren mehrheitlich von Deutschen zusammengesetzt. Man muss die rassistische Abgrenzung schon sehr verinnerlicht haben, um in meinen Bemerkungen und Erinnerungen eine kollektive Kritik am Deutschen zu erkennen. Geh mal in einer stillen Stunde in Dich hinein...

Was hast Du gegen moralische Argumente? Da schwingt einer ungeniert die genetische Keule und wenn man ihm dann mit moralischen Argumenten begegnet, wird daraus plötzlich eine moralische Keule. Da werden künstlich Kausalitäten umgekehrt. He, niemand unterdrückt hier irgendetwas: da sagt irgendjemand seine Meinung und ein anderer, weshalb er sie dumm und gefährlich findet. So funktioniert offener Meinungsaustausch nun einmal. Und nicht so, dass Meinungsfreiheit zwar für die schwachsinnigsten Thesen beansprucht wird, aber der begründete Widerspruch darauf zu einem Akt gegen die Meinungsfreiheit umdegeutet wird. Das gerade wäre (und ist!) Unterdrückung der Meinungsfreiheit.

Ob Sarrazin nun Rassist, Sozialdarwinist oder "nur" Neoliberaler genannt wird, ist für mich nicht von großer Bedeutung. Er versucht Menschen auf ihre Herkunft und genetische Voraussetzungen festzunageln und sie danach zu beurteilen. Das ist verwerflich, undemokratisch, unzeitgemäss, nach Konsens auf Basis der Aufklärung und der Menschenrechte zutiefst unmenschlich. Ist das Rassismus? Wie Du schon selbst andeutest: wer einen Rassisten für alle Zeiten in braunem Hemd und Hakenkreuzarmband militärisch zackig dahermarschieren erwartet (so wirken auf mich Deine Gegenargumente), der wird darin sicher keinen Rassismus sehen. Für mich ist die Grenze dort überschritten, wo einer bestimmten Gruppe von Menschen aufgrund von Voraussetzungen, die sie nicht selbst herbeigeführt haben, bestimmte Eigenschaften, Rechte und Fähigkeiten zu- oder abgesprochen werden.

Alles in allem wirkt Deine Antwort sehr widersprüchlich und unzusammenhängend auf mich. Einiges scheinst Du für Dich selbst noch nicht abschließend geklärt zu haben. Wenn Du etwas konkreter wirst, kann ich Dir vielleicht dabei helfen. Oder Du mir...
 
J

Junimond

Guest
AW: Deutschland schafft sich ab

darf ich euch an die woche der harmonie erinnern?!:biggrin:
 
P

Pit63

Guest
AW: Deutschland schafft sich ab

Pit,

zunächst einmal: ich hatte an die Einzigartigkeit des Dritten Reiches erinnert und vor diesem Hintergrund gerade hierzulande zu einer besonderen Vorsicht gemahnt. Vielleicht sollte ich auch noch daran erinnern, dass Hitler 33 auch von vielen Nicht-Rassisten und Demokraten gewählt und geschätzt wurde, gerade mit dem Argument, dass da nun endlich einer die Konventionen der politischen Korrektheit überwindet und Tacheles redet.

Den Schuh, dass ich mit dieser lapidaren Feststellung kollektive Kritik üben würde, den ziehe ich mir nicht an. Mir ist durchaus bewusst, dass die vergasten Juden auch mehrheitlich Deutsche waren, dort auch viele deutsche Kommunisten und Nazigegner umgekommen sind. Ebenso waren die erwähnten 68er in diesem Land mehrheitlich Deutsche, die Friedensbewegten ebenso und auch die kilometerlangen Lichterketten waren mehrheitlich von Deutschen zusammengesetzt. Man muss die rassistische Abgrenzung schon sehr verinnerlicht haben, um in meinen Bemerkungen und Erinnerungen eine kollektive Kritik am Deutschen zu erkennen. Geh mal in einer stillen Stunde in Dich hinein...

Was hast Du gegen moralische Argumente? Da schwingt einer ungeniert die genetische Keule und wenn man ihm dann mit moralischen Argumenten begegnet, wird daraus plötzlich eine moralische Keule. Da werden künstlich Kausalitäten umgekehrt. He, niemand unterdrückt hier irgendetwas: da sagt irgendjemand seine Meinung und ein anderer, weshalb er sie dumm und gefährlich findet. So funktioniert offener Meinungsaustausch nun einmal. Und nicht so, dass Meinungsfreiheit zwar für die schwachsinnigsten Thesen beansprucht wird, aber der begründete Widerspruch darauf zu einem Akt gegen die Meinungsfreiheit umdegeutet wird. Das gerade wäre (und ist!) Unterdrückung der Meinungsfreiheit.

Ob Sarrazin nun Rassist, Sozialdarwinist oder "nur" Neoliberaler genannt wird, ist für mich nicht von großer Bedeutung. Er versucht Menschen auf ihre Herkunft und genetische Voraussetzungen festzunageln und sie danach zu beurteilen. Das ist verwerflich, undemokratisch, unzeitgemäss, nach Konsens auf Basis der Aufklärung und der Menschenrechte zutiefst unmenschlich. Ist das Rassismus? Wie Du schon selbst andeutest: wer einen Rassisten für alle Zeiten in braunem Hemd und Hakenkreuzarmband militärisch zackig dahermarschieren erwartet (so wirken auf mich Deine Gegenargumente), der wird darin sicher keinen Rassismus sehen. Für mich ist die Grenze dort überschritten, wo einer bestimmten Gruppe von Menschen aufgrund von Voraussetzungen, die sie nicht selbst herbeigeführt haben, bestimmte Eigenschaften, Rechte und Fähigkeiten zu- oder abgesprochen werden.

Alles in allem wirkt Deine Antwort sehr widersprüchlich und unzusammenhängend auf mich. Einiges scheinst Du für Dich selbst noch nicht abschließend geklärt zu haben. Wenn Du etwas konkreter wirst, kann ich Dir vielleicht dabei helfen. Oder Du mir...

Hallo Zerd,
so, wie markiert, stimme ich zu.
Dazu bedarf es keiner Ermahung der Deutschen (oder meiner Wenigkeit) vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte. Das kann man sogar völlig unabhängig von der Frage diskutieren, welchem Kollektiv man gerade angehört.

Rassismus ist ein allgemeinmenschliches Phänomen, es entspricht der (ursprünglichen) Natur des Menschen.

Diskussionswürdig wären allerlei Biologismen, mit denen Erklärungen und Rechtfertigungen für soziale Wertungen geliefert werden.
Der älteste, hartnäckigste und grundlegendste von allen ist wohl die Unterscheidung nach dem Geschlecht. Diejenigen, die hier am krassesten unterscheiden, tun dies dann im Namen der Religion.
Auch der Zusammenhang zwischen Intelligenz und Vererbung ist ein alter Hut.

Die Reaktion auf Sarrazin ist mE nach ein politisch korrekter Reflex, nicht mehr. (So wie Broder dürfte bspw. ein nichtjüdischer Deutscher auch nicht schreiben.)

Im Hinblick auf Vorurteile, Aus- und Abgrenzungen, die ursprünglich natürlicher/biologischer Art sind und heute sonstwie begründet werden, sehe ich grundsätzlich zwei Möglichkeiten:
Entweder man ideologisiert/vergeistigt sie weiterhin, (das geschieht überwiegend) oder man macht sich davon frei. Letzteres versuche ich- in aller Unvollkommenheit, versteht sich.


P.S.: Man muss als Deutscher, der sich mit seiner nationalen Zugehörigkeit identifiziert, übrigens weder entnazifiziert worden noch Sympathiesant der Apo gewesen sein, ja man muss nicht einmal bei den Lichterketten gegen Ausländerfeindlichkeit mitgemacht haben, um nicht rassistisch zu sein.
 
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