Ist die Republik Türkei mittelbar bedroht?

Mendelssohn

Well-Known Member
Und genau darum ist euer Erdogan-Bashing zu großen Teilen auch Türken-Bashing, weil sein Regierungsstil größtenteils von Elementen und Merkmalen geprägt ist, die so ziemlich jede Regierung in der 100-jährigen Türkischen Republik prägten. mal mehr mal weniger.
Ich hoffe sehr, dass du mich nicht in die Ecke des Türkei-Bashing stellst. Immer wieder spreche ich von berechtigten türkischen Interessen - Erdogan hin oder her.
Wäre die Türkei in der EU, wofür sich Merkel nicht ausreichend stark gemacht hat - m. E. ihr größter Fehler während ihrer Amtszeit (aber zu Beginn, als die Chance vor der Haustür lag, war sie auch noch ziemlich eng gestrickt) - ließen sich ganz andere Kompromisse zwischen Griechenland, Türkei und Zypern auf der Grundlage des gemeinsamen Kulturraums finden. Ich denke gerade an meinen türkischen Friseur aus dem Großraum Izmir mit griechischer Mutter, der das griechische Olivenöl für wesentlich besser hält als das türkische. Und an die Omi vom türkischsprachigen Teil Griechenlands, die die griechischen Strände und den griechischen Raki für zwei Klassen besser hält als türkische Strände und türkischen Raki.
 

sommersonne

Well-Known Member
Unsinn. Hier ist niemandem entgangen, dass die Regierung Mitsotakis ständig Öl ins Feuer gießt. Unter Tsipras wäre das nicht passiert, aber dem hat die Beilegung des Namensstreits mit (jetzt Nord-) Mazedonien, das bei den Rechten in Griechenland immer noch Territorium Skopje heißt, den Hals gebrochen.
So wie auch Erdogan. Wer hat die Probebohrungen vorgenommen? Die Türkei.
Bei den schlechten Beziehungen beider Länder und tiefsitzenden gegenseitigem Mißtrauen hätte man darauf verzichten müssen, wenn man friedlich nebeneinander leben wollte. Hat die Türkei aber nicht. Sie verläßt sich darauf das die Griechen schon nachgeben werden damit ein Krieg vermieden wird. Das ist dreist.
 

Zerd

Well-Known Member
Ich hoffe sehr, dass du mich nicht in die Ecke des Türkei-Bashing stellst. Immer wieder spreche ich von berechtigten türkischen Interessen - Erdogan hin oder her.
Ich sehe durchaus, dass Du an vielen Stellen um Ausgleich bemüht bist und versuchst, die Dinge etwas differentierter zu betrachten.

Aber Türken-Bashing ist derzeit ein verbreiteter gesellschaftlicher Trend und bei gesellschaftlichen Trends sehe ich es ähnlich wie bei Wahlergebnissen, dass sie nie ein Ergebnis einzelner Haltungen und Gruppierungen sind, sondern eher als kollektives Ergebnis begriffen werden sollten: die einen bewerben es und arbeiten darauf hin, die anderen lassen sich dadurch beeinflussen und dem Rest kann zumindest vorgehalten werden, dass sie nicht willens oder fähig waren, dieses Ergebnis zu verhindern. Mich selbst enthebe ich auch nicht aus dieser Verantwortung.

Worum es mir bei meinem Beitrag aber vor allem ging, war darauf hinzuweisen, dass die griechisch-türkische Feindschaft eine historisch gewachsene ist, die zudem noch durch jeden Einigungs- und Verständigungsversuch noch weiter geschürt und festgezurrt wurde, weil es dabei immer um Separierung und Polarisierung ging. Und dass darum unter diesen Umständen auf absehbare Zeit keine Entspannung und Verständigung zu erwarten ist, wie Du es propagiert hast in dem einen oder anderen Beitrag.

Wie sollte das funktionieren? Selbst wenn Du auf beiden Seiten politische Führer hättest, die bereit wären zur Versöhnung und Kooperation und darauf verzichten würden, sich auf diese einfachste Weise zu profilieren oder von anderen Themen abzulenken (was schon schwierig genug und erfahrungsgemäß fast eine Sache der Unmöglichkeit ist), wie wollte man den Zypern-Knoten auflösen oder das Problem mit den hunderten griechischen Inseln direkt vor dem türkischen Festland beheben? Die Fehler, die hier international gemacht wurden, sind zumindest mittelfristig irreversibel, es gibt hier einfach keine einvernehmliche und beide Seiten zufrieden stellende Lösung. Die Vereinigung unter einem übergeordneten Dach wie der EU und die internationale Anerkennung der Republik Nordzypern wäre die letzte Chance gewesen und die wurde jüngst erst wieder und diesmal vermutlich auf Jahrzehnte hinaus vertan. Es wird an dieser Grenze mittelfristig immer wieder Konflikte geben und wir können nur hoffen, dass es nicht zu einem großen Krieg ausartet.

Ich bin inzwischen fest davon überzeugt, dass dieser Konflikt von Europa so gewollt und das Türken-/Erdogan-Bashing Teil dieser Strategie ist. Das hat auch viel mit der türkischen Politik der letzten Jahrzehnte zu tun, die vor dem reichen Europa immer den Kotau gemacht hat, sich mit leeren Versprechungen hinhalten ließ, bis Europa zuletzt von der Türkei profitieren konnte, wie wenn sie bereits EU-Mitglied wäre, ohne jedoch die Vorteile einer Mitgliedschaft zu genießen.

Wäre die Türkei in der EU, wofür sich Merkel nicht ausreichend stark gemacht hat - m. E. ihr größter Fehler während ihrer Amtszeit (aber zu Beginn, als die Chance vor der Haustür lag, war sie auch noch ziemlich eng gestrickt) - ließen sich ganz andere Kompromisse zwischen Griechenland, Türkei und Zypern auf der Grundlage des gemeinsamen Kulturraums finden. Ich denke gerade an meinen türkischen Friseur aus dem Großraum Izmir mit griechischer Mutter, der das griechische Olivenöl für wesentlich besser hält als das türkische. Und an die Omi vom türkischsprachigen Teil Griechenlands, die die griechischen Strände und den griechischen Raki für zwei Klassen besser hält als türkische Strände und türkischen Raki.

Um diese Menschen geht es aber bedauerlicherweise nicht und ging es nie in diesem Konflikt. An der Vorgeschichte zum Zypernkonflikt kannst Du nachlesen, wie es das letzte Mal bei der Berücksichtigung der Interessen dieser Menschen beinahe in einem Völkermord geendet hätte. Kein verantwortungsvoller Politiker könnte in absehbarer Zeit in Kauf nehmen, diese Menschen noch einmal einem solchem Experiment auszusetzen. Und wenn er es täte, wäre er ganz schnell weg von der Bildfläche.
 

sommersonne

Well-Known Member
So wie auch Erdogan. Wer hat die Probebohrungen vorgenommen? Die Türkei.
Bei den schlechten Beziehungen beider Länder und tiefsitzenden gegenseitigem Mißtrauen hätte man darauf verzichten müssen, wenn man friedlich nebeneinander leben wollte. Hat die Türkei aber nicht. Sie verläßt sich darauf das die Griechen schon nachgeben werden damit ein Krieg vermieden wird. Das ist dreist.
Kann schon sein das es sich wie Türkei-Bashing liest, ist es aber nicht. In letzter Zeit legt die Türkei leider einige militärische Aktionen an den Tag. Syrien, Unterstützung des Konflikts in Libyen, nun Provokation vor Griechenlands Küste. Ich kann garnicht sagen wie schlimm ich das finde. Leider kann ich mir auch nicht vorstellen das das alles Fake-News sind und auch nicht das es von Europa so gewollt ist.
Ich finde es sehr schade wie es seit ein paar Jahren in der Türkei läuft. Sie hätten so ein großes Potential.
Die Wahrheit muß man schon noch sagen dürfen ohne das einem Bashing unterstellt wird.
 

Mendelssohn

Well-Known Member
Worum es mir bei meinem Beitrag aber vor allem ging, war darauf hinzuweisen, dass die griechisch-türkische Feindschaft eine historisch gewachsene ist, die zudem noch durch jeden Einigungs- und Verständigungsversuch noch weiter geschürt und festgezurrt wurde, weil es dabei immer um Separierung und Polarisierung ging. Und dass darum unter diesen Umständen auf absehbare Zeit keine Entspannung und Verständigung zu erwarten ist, wie Du es propagiert hast in dem einen oder anderen Beitrag.
Mit sogenannten "Erbfeindschaften" verhält es sich so, dass sie historisch aus andauernden Grenzkonflikten entstanden sind. Das Konstrukt der EU setzt die Binnengrenzen an die zweite Stelle (nach den Außengrenzen), worin eben die besondere Chance besteht, Erbfeindschaften innerhalb des EU-Raums allmählich zu überwinden. Mir von heute aus vorzustellen, dass Frankreich der deutsche Erbfeind, im Grunde genommen seit der Nachfolge Charlemagnes bishin zu De Gaulle und Adenauer, war, fällt mir sehr schwer und würde, dies ist meine Behauptung (nicht meine Propaganda), nach zwei gemeinsamen EU-Generationen der dritten Generation von Türken und Griechen vermutlich auch schwerfallen. Nun haben wir die Situation, dass zwei Natopartner sich Grenzscharmützel liefern - zunehmend mit schwerem Geschütz - wodurch das gesamte militärische Bündnis ins Wanken gerät und den amerikanischen Seperatisten scharfe Munition liefert. Auch aus diesem Grunde unterstützte damals die amerikanische Regierung unter Bush jr., der im Unterschied zu Trump zu keinem Zeitpunkt die Nato in Frage stellte, die türkischen Beitrittsverhandlungen und später unter Obama auch die Bemühungen der (West-) Ukraine, um über die EU die Ukraine als Natopartner zu gewinnen, woraus sich Russlands "Nein" erklärt.
Die moderaten Amerikaner im Pentagon werden mit Sorge den griechisch türkischen Grenzkonflikt betrachten, Trump ist es egal und Putin reibt sich die Hände. Eines ist sicher: weder die Griechen noch die Türken profitieren von ihrer anachronistischen Erbfeindschaft. Das müsste der Ausgangspunkt für eine politische Annäherung sein, wenn die militärische Partnerschaft nicht zerbrechen soll.
 

Burebista

Well-Known Member
Was man in den griechischen Sozialmedien lesen kann:
https://greekcitytimes.com/2020/09/...on-demolishes-greek-orthodox-church-in-bursa/

Das wird wirklich jetzt, diese Woche, als Provokation angesehen. Auch wenn es keine orthodoxe Kirche mehr war, musste man sie auslöschen, weil sie einst eine orthodoxe Kirche war.

@Zerd schrieb über Türkei-Bashing. Ich respektiere seine Sicht. Frage mich aber wirklich, ob seine Annahme, dass Erdo nun, in der Evolution der Geschichte, am nahestehenden Vertreter des türkischen Nationalismus sei, richtig ist. Das hört sich wie ein Fatalismus an. Und dann frage ich mich, ob es wirklich ein Bashing ist. Oder darf man sich nicht mehr äußern?

Obwohl ich christlich-orthodox bin, muss ich sagen, dass ich, als einer aus Rumänien, der sich mit der Geschichte beschäftigt, nicht pro-griechisch, sondern eher pro-türkisch bin. In der mittelalterlichen Geschichte hatten die Rumänen mit den Griechen zu tun, nicht mit den Türken. Na ja, es gab türkische (oder besser gesagt osmanische) Feldzüge, aber die rum. Fürstentümer wurden nie erobert, blieben selbstständige Staaten, so wie auch Korea unter dem Einfluss von China. Nördlich der Donau gab es nie ein "türkisches Joch", nördlich der Donau durfte keine Moschee gebaut werden. Es blieb alles christlich, orthodox. Es kamen dabei aber die Griechen, sicher als osmanische Untertanen, und die wollten alles haben. So waren sie als die echten Feinden, nicht die türkischen Muslimen angesehen. Die wurden so sehr verfeindet, dass die Rumänen aus Trotz die Rum. Sprache im Gottesdienst, in ihren Kirchen, einführten. Und das war schon für damals eine echte Kultur-Revolution.

Was jetzt passiert ist nicht gut und es kann sehr schief weitergehen. Erdogan ist ein Diktator und will an der Macht bleiben, auch wenn immer mehr Leute aus dem eigenen Land ihn nicht mehr wollen. Und nun braucht er eine neue Front, um die Menschen um sich zu sammeln und um sich als Retter der patriotischen Türken angeben kann. Bei jeder Krise hat Erdo was unternommen: gegen Kurden, gegen Syrer, nun gegen die Griechen; und das in der Hoffnung, dass er was gewinnen wird. Bis jetzt hat er gewonnen.

Vielleicht ist es wahr, dass er von Putin freundlich unterstützt wird, weil die Feindschaft gegenüber den Griechen (im innenorthodoxen Streit) groß ist. Aber Erdo solle nie sicher auf die Russen sein, denn diese waren die größten Feinde der Türken während der letzten 300 Jahren.

Zurück zu den Griechen. Es gibt ein Seerecht. Ich kenne mich überhaupt nicht aus. Aber es hat doch bis jetzt (angeblich oder nicht?) funktioniert. Nun entsteht der Streit. Wieso nur jetzt?

Andererseits verstehe ich die allarmierten Türken, die bereit sind, vor den Griechen Angst zu haben. Es gab erst die Megali Idea und dann die Gegenreaktion der Türken. Wie @Zerd auch schrieb. In Zypern passierte das ganze Ungeheuer auch von den Griechen provoziert (Enosis). Und 2004 wollten sie das nicht mehr anerkennen oder wollten keine Verantwortung mehr übernehmen, dass sie eigentlich Grund des Problems waren.

Eigentlich gibt es 3 Völker, die ihre Staaten selbst zerstört haben, ohne darum von den Anderen (später als Feinde angesehen) gebeten zu werden .
1. Die Griechen. Als Roman Diogenes gefangen genommen wurde und trotzdem frei gelassen wurde, haben die Griechen gegenseitig gekämpft und die Grenze zu den Seldjuken vernachlässigt.
Haben trotzdem nichts gelernt. Es kamen die Megali Idea und die Enosis...
2. Die Ungarn. Diese hatten einmal ein Großungarn, in welchem sie Minderheit waren. Die anderen Völker verstanden dieses Ungarn als etwas Realistisches und hätten kaum die Idee, diesen Staat zu verlassen. Aber die Ungarn haben immer wieder provoziert. Sie dachten dass, weil sie Minderheit waren, einen Panikgefühl haben zu müssen.
3. Die Serben. Die hatten schon schwer Jugoslawien geschaffen, aber konnten das wunderbare und vielfältige Land nicht zusammenhalten.

Nun die Frage: was passiert mit den Griechen und mit den Türken? Trotzige Köpfe scheinen dort zu führen. Und auch trotzige Mentalitäten.
Man könnte meinen, sie sollen sich selber die Köpfe zerbrechen. Aber es gibt auch Andere. Es gibt Staaten, z, B, Frankreich oder Deutschland, mit Interessen. Deutschland wird leider als ein Mitleidender Staat angesehen. und zwar als Geisel von Diyanet und einer 5. Kollonne aus Ankara .
 

Zerd

Well-Known Member
@Zerd schrieb über Türkei-Bashing. Ich respektiere seine Sicht. Frage mich aber wirklich, ob seine Annahme, dass Erdo nun, in der Evolution der Geschichte, am nahestehenden Vertreter des türkischen Nationalismus sei, richtig ist. Das hört sich wie ein Fatalismus an. Und dann frage ich mich, ob es wirklich ein Bashing ist. Oder darf man sich nicht mehr äußern?

Den Satz mit dem "nahestehenden Vertreter des türkischen Nationalismus" verstehe ich nicht und habe ich so sicher auch nie verwendet. Was das Bashing angeht: jeder darf alles mögliche über jedes Thema sagen und ob es sich dabei dann um eine vernünftige, mit sinnvollen Argumenten unterlegte Meinung handelt oder um eine Äußerung, die irgendeinem anderen Zweck wie zBsp Bashing dient, hängt nicht vom Inhalt der Aussage ab, sondern von vielen anderen Merkmalen und Faktoren. ZBsp ob jemand irgendetwas nur nachplappert oder auch ein bestimmtes Wissen oder eine gewisse Vorstellung davon hat, worüber er gerade redet.

Und ich habe eben einfach den Eindruck, dass es in diesem Umfeld ebenso wie zur Zeit im öffentlichen Diskurs hier in Deutschland so etwas wie eine Modeerscheinung ist, über die Türkei, ihre Politik und vor allem den Präsidenten Erdogan herzuziehen, ohne die türkischen Verhältnisse zu kennen und zu berücksichtigen. Und das ist dann einfach, ganz unabhängig vom Inhalt der Aussage und allein schon, weil es so unkritisch und undifferenziert hinausposaunt wird, eher Bashin als Meinungsäußerung.

Obwohl ich christlich-orthodox bin, muss ich sagen, dass ich, als einer aus Rumänien, der sich mit der Geschichte beschäftigt, nicht pro-griechisch, sondern eher pro-türkisch bin. In der mittelalterlichen Geschichte hatten die Rumänen mit den Griechen zu tun, nicht mit den Türken. Na ja, es gab türkische (oder besser gesagt osmanische) Feldzüge, aber die rum. Fürstentümer wurden nie erobert, blieben selbstständige Staaten, so wie auch Korea unter dem Einfluss von China. Nördlich der Donau gab es nie ein "türkisches Joch", nördlich der Donau durfte keine Moschee gebaut werden. Es blieb alles christlich, orthodox. Es kamen dabei aber die Griechen, sicher als osmanische Untertanen, und die wollten alles haben. So waren sie als die echten Feinden, nicht die türkischen Muslimen angesehen. Die wurden so sehr verfeindet, dass die Rumänen aus Trotz die Rum. Sprache im Gottesdienst, in ihren Kirchen, einführten. Und das war schon für damals eine echte Kultur-Revolution.

Diese Besonderheit des Osmanischen Reiches kannst Du auch in allen (älteren) Geschichtsbüchern nachlesen, dass es nämlich eines der ganz wenigen Großreiche gewesen ist, das keinen Kulturimperialismus betrieb und stattdessen mehr Kultur von den eroberten Gebieten übernahm als ihnen irgendetwas aufzudrücken, wie das bei fast allen anderen Großreichen der Fall war. Dass sich das nach Gründung der türkischen Republik geändert hat, war im grunde ein Import aus dem Westen, nämlich der Nationalismus. In gewissem Sinne war die türkische Republik genauso wie vorher das Osmanische Reich offen für äußere Einflüsse, nur dass diesmal der EInfluss aus dem Westen kam, wo das Verständnis und Wohlwollen für fremde Kulturen, abgesehen von naiv-wissenschaftlichen Interesse, nicht wirklich ausgeprägt war. Und auch das haben die Türken dann brav übernommen.

Was jetzt passiert ist nicht gut und es kann sehr schief weitergehen. Erdogan ist ein Diktator und will an der Macht bleiben, auch wenn immer mehr Leute aus dem eigenen Land ihn nicht mehr wollen. Und nun braucht er eine neue Front, um die Menschen um sich zu sammeln und um sich als Retter der patriotischen Türken angeben kann. Bei jeder Krise hat Erdo was unternommen: gegen Kurden, gegen Syrer, nun gegen die Griechen; und das in der Hoffnung, dass er was gewinnen wird. Bis jetzt hat er gewonnen.

Erdogan ist kein Diktator und er hat bis zuletzt, bis auf die Bpürgermeisterwahl in Istanbul, alle wichtigen Wahlen gewonnen, also seine Anhängerschaft ist einigermaßen stabil (ebenso wie auch seine politischen Feinde mehr oder minder seit 10 Jahren dieselben und in Unterzahl sind). Ist er machthungrig, hält er an dieser Macht fest, nutzt er diese Macht aus? Eindeutig ja zu allem! Weist sein Regierungsstil autokratische Elemente auf? Ja! Ist er ein Musterdemokrat? Eindeutig nein! Aber er ist eben kein Diktator, der Verfassung und Verfassungsorgane missachten und übergehen und seine Vorstellungen und Ideologie mit Militär- oder Polizeigewalt durchsetzen würde. Er befolgt im wesentlichen die gesetzlichen Rahmenbedingungen, wenn er diese in seinem Interesse ändern möchte, braucht und sucht er Mehrheiten dafür und es wird ihm einfach von all denen, die da ein wenig Widerstand leisten könnten, viel zu leicht gemacht, seine Vorstellungen auf legalem Weg durchzusetzen.

Und damit ist er auch keine Ausnahmeerscheinung, wie es von den Bashern immer suggeriert wird; er liegt voll im Trend, sowohl mit vorhergehenden politischen Führern der Türkei, als auch mit dem weltweiten Trend zu eigenwillig und autokratisch agierenden Führern, von denen wir ja auch in Europa so einige kennen, ganz zu schweigen vom Herrn Trump in den USA. Und dass sich Politiker, um von innenpolitischen Themen abzulenken, vermehrt mit außenpolitischen Themen und Konflikten beschäftigen, ist in jedem Land so. Genauso auch der Umstand, dass die Politiker jedes Landes vor allem die Interessen ihres Landes verfolgen.

Verstehst Du, ich halte auch nicht viel von Erdogan und könnte mit seinen Anhängern tagelang kontrovers darüber diskutieren, was falsch läuft und was man anders machen könnte. Aber seinen Bashern rufe ich zu: schaut euch doch bitte mal um, sowohl in der Welt als auch in der Türkei, durch wen oder was soll er den ersetzt werden? Wo läuft es denn grundlegend anders oder in die andere Richtung? Gibt es zur Zeit irgendein Land in der Welt, von dem man behaupten könnten: ja, hier geht es eindeutig in Richtung mehr Demokratie, mehr Teilhabe und Solidarität, mehr Nachhaltigkeit usw. Nein: überall auf der Welt geht es in dieselbe Richtung, der Horizont der Menschen reicht nur noch bis zur eigenen Nasenspitze, neoliberaler Sozialdarwinismus regiert die Politik und nirgendwo ist auch nur der Hauch eines Konzepts zu erkennen, wie dem Einhalt gebieten werden soll. Und in diesem Bild sitzt mittendrin der Herr Erdogan und tut genau dasselbe in seinem eigenen Interesse und im Interesse der Türken, die meinen, sie könnten leer ausgehen bei diesem Verteilungskampf.

Es ist einfach Bashing, wenn man das so nicht erkennt und stattdessen Erdogan ausschließlich als eine Ausnahme hinstellt, die sich in eine ganz andere Richtung bewegt als die übrige Welt. So ist es einfach nicht. Allein gegen Jemand oder Etwas zu sein ist nicht genug; damit kommt man vielleicht auf 10 oder 20%, wie die AfD in Deutschland oder die CHP in der Türkei, aber wenn man denjenigen oder dasjenige auch überwinden will, dann muss man auch etwas konstruktives tragfähiges anbieten können als Alternative. Aber diese ganzen Basher genauso wie die Opposition in der Türkei schaffen das einfach nicht, weil es eine solche Alternative zur Zeit einfach nicht gibt. Würde heute Erdogan abgesägt werden und von der Bildfläche verschwinden, wäre zu befürchten, dass wir vom Regen in Traufe kommen. Denn in genau diese Richtung entwickelt sich die ganze Welt derzeit.

Zurück zu den Griechen. Es gibt ein Seerecht. Ich kenne mich überhaupt nicht aus. Aber es hat doch bis jetzt (angeblich oder nicht?) funktioniert. Nun entsteht der Streit. Wieso nur jetzt?

Das mit dem Seerecht ist nicht so einfach, da gibt es keine eindeutigen Vereinbarungen und Abkommen, denen sich beide Länder verpflichtet haben und die eine solche Angelegenheit eindeutig klären würden, siehe auch hier. In solchen Grenzfällen wie zwischen Türkei und Griechenland gehen die Abkommen meist davon aus, dass sich die beteiligten Länder einigen. Aber auch so etwas wird von den Bashern gerne einfach nur ignoriert, weil Erdogan ja der große Feind ist und von vornherein immer im Unrecht sein muss...
 

EnRetard

Well-Known Member
Diese Besonderheit des Osmanischen Reiches kannst Du auch in allen (älteren) Geschichtsbüchern nachlesen, dass es nämlich eines der ganz wenigen Großreiche gewesen ist, das keinen Kulturimperialismus betrieb und stattdessen mehr Kultur von den eroberten Gebieten übernahm als ihnen irgendetwas aufzudrücken, wie das bei fast allen anderen Großreichen der Fall war.
Frag mal in Albanien nach. Die verehren immer noch Gjergj Kastrioti Skënderbeu als Nationalheld, weil der die Türken eine Weile aufhalten konnte.
 

Alubehütet

Well-Known Member
Erdogan war lange Jahre mit wohlwollendem Interesse beobachtet worden. Er hat die TR vorsichtig aus den Klauen des Militärs geführt, hat sie wirtschaftlich wie politisch liberalisiert, was zu bis zu zweistelligen Wachstumsraten führte, hat eine gesetzliche Krankenkasse eingeführt, hat Kurdisch in Schulen und Medien zugelassen ... Der Springer-Verlag hat viel in Medien auch in der Türkei gekauft, die BILD war befreundet mit einer türkischen Tageszeitung, ihr damaliger Chefredakteur Kai Diekmann verbrachte jedes Jahr seinen Sommerurlaub in der Türkei. Daß die Freilassung von Deniz Yücel letztlich auch von Gerhard Schröder vermittelt wurde zeigt, wie herzlich die Beziehungen einst gewesen waren. Gut, Erdogan galt als konservativ, als religiös. Aber genau das fand man spannend, vielleicht vorbildlich: Läßt sich, wie läßt sich konservativer Islam, moderne Großstadt und westlicher Industriekapitalismus miteinander verbinden?

Erdogan hat hart daran gearbeitet, von diesem Level aus in den Zustand zu kommen, wo sich die Türkei wieder wohlfühlen kann: Umgeben von mißgünstigen Neidern, gar Feinden. Ey Merkel! Du wendest Nazimethoden an! Deniz Yücel über ein Jahr in teilweise unsäglicher Haft. Aufruf in Tageszeitungen, Kai Diekmann im Urlaub zu stalken.
 
Top