lieber Zerd

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mar

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AW: lieber Zerd

Lieber Zerd,

die Sache mit dem Notizbuch
ich las gerade kürzlich im Vorübergehen, beim Durchblättern quasi, das Notizbücher der Anfang des Vergessens wären.
lässt mir einfach keine Ruhe. Dabei fiel mir heute ein Buch in die Hände, welches sich mit der Untersuchung des Gedächtnisses befasst.
Daraus die Sätze: „ Seit Sokrates erstmals vermutete, Menschen besäßen ein Vorwissen, ihnen sei also ein gewisses Wissen um die Welt angeboren, hat sich die westliche Philosophie mit mehreren verwandten Fragen auseinander gesetzt…die Frage, wo Gedächtnisinhalte gespeichert werden, hat eine lange Tradition…Und so weiter. * Larry R. Squire/ Eric R. Kandel: Gedächtnis- Die Natur des Erinnerns. Spektrum-Verlag 2009

Die Sache mit dem Gedächtnis formulierte C.G.Jung ähnlich. Das archaische Gedächtnis scheint nicht einem Mythos entsprungen zu sein, ist kein museales oder
verewigtes Gestern, sondern hat, wenn man den Bogen noch weiter spannt, ihren Ursprung im weitesten Sinne in der Evolution und im zunehmenden Maße einen Platz in der Gehirnforschung.

Wie belastbar ist ein Mensch durch Erinnerungen? Wie wichtig oder unwichtig bestimmend für die Zukunftsforschung, für empirische Studien oder auch für einfache Familienforschung ist das Erinnern?
Ist es tatsächlich so, dass wir unser Gedächtnis viel zu oft entlasten, indem wir alles aufschreiben? Wie sollte man Gedächtnisinhalte abspeichern? Geben wir das „Monopol“ des Abspeicherns unserer Menschheitserinnerungen leichtfertig aus den Händen, indem Erinnerungen , Gedächtnisinhalte und über Jahrtausend gewachsene Strukturen von einer Computerwelt gespeichert, umgeordnet und umstrukturiert wird? Wie nachhaltig bestimmen Erinnerungen die Entwicklung neuer Richtungen in der Philosophie?

Fragen über Fragen.
 
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mar

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AW: lieber Zerd

lieber Zerd,
die vergangenen Dinge sind vergangen...so scheint mir der Tag heute sagen zu wollen. Unter dem Schnee ruht eine ganze Welt versteckt, wird zum Rätsel und lässt meine Blicke im weichen Schnee versinken. Das sind Tage, wo man sich hinter warmen Mauern und Fensterscheiben fast göttlich fühlt. Eins mit der Natur, die trotzdem gemahnt: bleib mir fern, sonst erfrierst du!.
Wie das Ticken einer Uhr, das Tropfen von Wasser auf Stein, das Schweben von Eiskristallen uns zeigen kann, wie nahe man dem Göttlichen sein kann und wie fern. Unter dem Eis keimen schon die ersten Blumen...

Die Stille ringsum, das Verschlucken sämtlicher Geräusche bereitet die Unruhe vor, die uns im Frühling erwartet; so wie die ersten wärmeren Stürme.
Es ist wirklich merkwürdig; man erwartet den Schnee und ist er da, wird man seiner schnell überdrüssig. Mir scheint, als ist die Balance zwischen lauter und leiser Zeit im Strudel des Lebens verloren gegangen.
 
M

mar

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AW: lieber Zerd

lieber Zerd, wie Du inzwischen weißt, ist ein schwerwiegendes und trauriges Ereignis in mein Leben getreten. In so vielen unserer Gespräche haben wir über die Tiefen des Lebens gesprochen und haben dabei den Tod zwar schattig und irgendwo präsent nie aus den Augen verloren, aber nun, da er so unmittelbar wurde und meine Seele und mein Herz in eine unaussprechliche Trauer versetzt, so das er mir die Worte sprichwörtlich aus der Sprache heraus riss.

Auch wenn mich so traurige Momente ergreifen, das ich manchmal den Atem anhalte, so muss ich mich doch mit dem Gedanken versöhnen, das dies Endgültige wie der Tod zum Leben gehört, auch wenn er so unvorbereitet an die Türe junger Menschen klopft und die, die zurückbleiben müssen, in einen Zustand versetzen, der alles bisher Erlebte in Frage stellen wird.

Jede Seinserfahrung hat ihre unauslotbaren Tiefen und der Tod ist so tief, das man in den ersten Tagen, Wochen, Monaten glauben wird, das das Schiff des Lebens auf einem Felsen zerschellte, das die Meere austrocknen, das sich der Himmel verdunkelt und das der letztendliche Schluss mir vielleicht noch den Verstand rauben würde.

Die Zeit bleibt stehen für den, der geht. Ich kann nicht schreiben, gegangen ist, weil ich noch immer spüre, das seine Seele anwesend ist und eine Sprache sucht, die ich vorher nicht nicht wahrgenommen hatte.

Wenn man die letzten Dinge für einen Menschen verrichtet, der verstorben ist, dann drängen sich unweigerlich immer Erinnerungen an ihn in das Gedächtnis. Das Berühren der Gegenstände, das Auffinden von kleinen Notizen, der Geruch, der dem Wäscheschrank entströmt...
Man schreckt auf, wenn plötzlich eine Uhr zu ticken beginnt, die seit Jahren nicht aufgezogen wurde. Ein Gongschlag lässt mich wissen, das es drei Uhr sei, doch ich weiß, das diese Stunde, die da schlägt, nicht die ist, die meine Gegenwart im Haus meines verstorbenen Freundes bestimmt.

In meinen Wahrnehmungen habe ich ich all den Jahren sehr oft Rückschlüsse auf Wahrheiten des Lebens schließen können. Sie waren Zeichen, die mein Innerstes aufforderten, genauer hinzusehen, hinter das Gesehene zu schauen...

Einige Tage vor seinem Tod sah ich immer und überall Männer, die wie er liefen, wie er gestikulierten und manchmal auch wie er dufteten. Wenn ein ähnliches Auto meinen Weg kreuzte, dachte ich, er sei es.
Dann war es plötzlich für einige Tage still, bis man mir mitteilte, das er gegangen sei.
Meine Ahnungen, das er mir etwas sagen wollte, mein Gespür, das irgendetwas meinen Alltag durchschwebt, durchdringt und anrühren wollte, all diese Zeichen erfüllten sich nun in diesem so plötzlichen Tod.

Wieso? Wieso denken wir immer, das der Tod plötzlich sei? Er ist doch immer da, er schaut hinter jedem Menschen manchmal hervor und mahnt. Wie kann man ein Leben lang nur glauben, das alles, was im Später sein wird, uns in diesem Rausch von Lebendigkeit nichts angehen würde?

Was geschieht mit uns, die hier bleiben und sich mit diesem Ereignis auseinandersetzen müssen?
Ich kenne ihn, diesen letzten Moment, bevor man in das Sein nach dem Leben eintritt. Ich weiß, das dieser letzte Moment nicht voller Angst ist oder Zorn. Er ist die letzte Konsequenz, der sich der Mensch stellen muss und in uns ist eine tiefe Weisheit, die erst dann, wenn alles zu Ende geht, ans Tageslicht tritt. Die Lieben, die einen Sterbenden begleiten, sollten anwesend sein, sollten diese Weisheit des letzten Momentes ganz bewusst als ein letztes Wort , an sie gerichtet, wahrnehmen.

Ich konnte nicht da sein. Doch trotzdem „sehe“ ich die letzten Worte in den Dingen, die mich streifen. Alles, was ich in seiner Wohnung berühre, ist noch beseelt und belebt von der glücklichen Zeit.
Auf dem Boden finde ich eine Eintrittskarte. Auf ihrer Rückseite vermerkt: Gründerzeit-Museum Mahrzahn, mit Mar dort gewesen...
Die weiße Rose, die ich vor 3 Wochen in sein Zimmer stellte, ist bis heute nicht verwelkt. Sie ist wie am ersten Tag in voller Blüte. Es scheint, als stünde wirklich die Zeit still in diesen Räumen, als will mir seine Seele sagen: sieh, ich bin noch da!

Lieber Zerd, wir reden so viel über das Sein und Vergehen. Über das Danach kann man nicht reden, denn es entzieht sich unserem Bewusstsein. Nur die Wahrnehmung, nur die Momente der Erinnerung bringen uns für Sekunden in die Welt unserer Lieben, die außerhalb unseres Hierseins sind.

Der Tod ist wirklich nicht endgültig. Irgendetwas geschieht in den Tagen unserer Trauer. Mir scheint, als würde alle Türen in meinem inneren Haus aufgerissen und alle Gedanken, alle Wahrnehmungen und alle gegenständlichen Dinge strudeln und strömen durch mich hindurch. Alles wird hinweg gespült und kann doch trotzdem nicht mein Sein verlassen. Mir ist, als würde alles durchgewirbelt und neu geordnet und es ergreift mich die Gewissheit, das diese neue Ordnung anders sein wird, als meine bisherige. Jemand fehlt in dieser Ordnung. Jemand, der mich eine Zeit begleitet hat.
Zeit gewinnt an Gewichtigkeit in dem Moment, wenn sie vorüber ist, wenn sie das Bewusstsein durchschlägt wie ein Meteor und ein großes schwarzes Loch hinterlässt.

Ich frage mich bis heute, was es zu bedeuten hatte, das ein altes Telefon, welches über 2 Jahre auf einem Hängeboden lag, mir für einige Minuten ein Datum anzeigte. Das Datum seines Todes.
Immer haben wir über Zufälle gesprochen und wie oft haben wir philosophische Rückschlüsse gezogen, wenn wir den Zenit des Bewusstseins überschritten und uns dem Anderssein zuwandten.

Ich begreife jeden Tag, den ich den Räumen meines Freundes zubringe, das alles, was ich dort verrichte, ein Dienst am Leben ist. Am Ende bleibt nicht viel übrig von dem, was man sehen kann . Kleine Gegenstände, winzige Spuren. Damit diese wenigen Dinge nicht ihren Sinn verlieren, dafür bin ich da.
Ich nehme sie in die Hände und verabschiede sie. Manches wird in die Hände anderer Menschen gelangen, es wird sie erfreuen, es wird sie zum Nachdenken bringen. Manches wird irgendwann als Staub im Wind enden, wenn die Zeit gekommen ist, das sie zu Staub zerfallen sollen.

Der endlose Kreislauf des Lebens hat sich hier im Tod meines Freundes für mich geöffnet. Ich muss da hineintreten und in diesem Kreis aufschließen. Ich muss jeden Punkt in diesem Kreis durchlaufen, um am Ende wieder am Anfang sein zu können.
 
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mar

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Gleichnisse. Weisheiten. Erfahrungen. Wozu sind sie gut, wenn es Ereignisse gibt, die alles für Momente ausser Kraft setzen?
 

Zerd

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AW: lieber Zerd

YAŞAMAK

Biliyorum, kolay değil yaşamak,
Gönül verip türkü söylemek yar üstüne;
Yıldız ışığında dolaşıp geceleri,
Gündüzleri gün ışığında ısınmak;
Şöyle bir fırsat bulup yarım gün,
Yan gelebilmek Çamlıca tepesine...
-Bin türlü mavi akar Boğaz'dan-
Her şeyi unutabilmek maviler içinde.


Biliyorum, kolay değil yaşamak;
Ama işte
Bir ölünün hala yatağı sıcak,
Birinin saati işliyor kolunda.
Yaşamak kolay değil ya kardeşler,
Ölmek de değil;

Kolay değil bu dünyadan ayrılmak.
=Orhan VELİ=​

Pazarkayas Übersetzung:

Leben

I
İch weiß, das Leben ist nicht leicht,
Verliebte Lieder über die Liebste zu singen;
Nachts unter den Sternen zu spazieren,
Und sich am Tag in der Sonne zu wärmen;
So sich einen halben Tag zu genehmigen
und sich auf Çamlıca(*) auf die faule Haut zu legen.
- Tausenderlei Blau fließt den Bosporus hinab -
In Blau getaucht alles zu vergessen.

II
Ich weiß, das Leben ist nicht leicht;
Aber sieh,
Das Bett des einen Toten ist noch warm,
Die Uhr am Arm des anderen tickt noch.
Das Leben ist zwar nicht leicht, Freunde,
Aber das Sterben auch nicht;

Es ist nicht leicht, von dieser Welt zu gehen.

...............................................................................................

(*)Çamlıca ist ein bekannter Ausflugsort in İstanbul, ein grüner Hügel
mir Tannen und Pinien. (mit wunderbarer Aussicht auch auf den Bosporus, Anm. Zerd)

Quelle
 
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mar

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AW: lieber Zerd

Lieber Zerd, manchmal fliegen einem die Ideen nur so zu, manchmal werden sie als Fertiggericht auf den Tisch gebracht, aber manchmal kauft man irgendwo auf einem Markt ganz einfache Zutaten ein. Man kann aus den gleichen Zutaten so viel verschiedene Rezepte erfinden. Doch wer sagt, dass eine Consommé besser sei als die Brühen der Garküchen ?
Kochen ist Philosophie. Spätestens seit in Frankreich der Sturm der Bastille die Köche der Aristokratie ins gemeine Volk „entlassen“ hatte. Kochen ist eine Philosophie des Gaumen und bietet Inspiration, auch für den Geist. Während sich Wikipedia mit schwergeschützigen Wörtern abringt, schafft es ein kleines Fragment aus einem Buch, mitunter auch übers Kochen, meine Hoffnung nicht ganz sterben zu lassen. Es gibt sie, meine Gedanken und ich finde sie wieder in einem schmackhaften Gericht von Monique Truong . Dieses Gericht hat den wundervollen Nachgeschmack, der nach MEHR verlangt. Denn es erklärt in wenigen Sätzen das Gesetz vom Werden und Vergehen. Und es lässt mich an die einfachen Garküchen in Kyoto erinnern, wo jeder sein eigenes Geheimrept für Udon hat. Weitet man die Gedankengänge , landet man bei einem schmackhaften Gericht, was LEBEN heisst.

Die besten[ Messer] werden in ihren eigenen Lederfutteralen aufbewahrt und weggeschlossen . Den Schlüssel hat einzig und allein der chef de cuisine . Für jeden Zweck gibt es ein eigenes Messer.
[…] Meine Mutter hatte mir das in-Scheiben-Schneiden … beigebracht.[…].
Ihr Messer gehörte zu der Sorte, die rostete, nur daß das ihre ständig in Benutzung war. Es war aus einem nicht besonders gutem Material und wurde mit jedem Schnitt stumpfer.
Meine Mutter hatte immer ihren Schleifstein zur Hand .
Eine Wiedergeburt für die Klinge, erklärte sie.


aus: M. Truong- Das Buch vom Salz
 

Zerd

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AW: lieber Zerd

Die Wissenschaft ist doch immer wieder eine Quelle der Inspiration, auch wenn es häufig von ihren Arbeitern gar nicht so gedacht ist. Letztens las ich beispielsweise, dass Netzwerkforscher herausgefunden haben sollen, dass sich jede Gemeinschaft oder Gesellschaft von Menschen tendenziell auf zwei Endzustände zubewegen würde: entweder alle hätten sich lieb oder es würden genau zwei verfeindete Lager entstehen. Die Argumentation ist mit Abstrichen einleuchtend, es wurden nämlich Dreierbeziehungen analysiert und festgestellt, dass solche Dreierbeziehungen nur stabil sind, wenn sie aus drei Freundschaften oder zwei Feindschaften und einer Freundschaft bestehen. Bei drei Freundschaften ist alles klar, alle haben sich lieb, kein Grund für irgendeine Instabilität. Ansonsten greift das Argument, dass der Feind meines Feindes tendenziell mein Freund ist, man sich also gegen den vermeintlich "größeren" Feind verbrüdert. Und wenn man dann hergeht und sich die ganze Gesellschaft aus stabilen Dreierbeziehungen zusammengesetzt vorstellt, gibt es letztlich dann eben nur die zwei Möglichkeiten, dass sich entweder alle lieb haben oder genau zwei verfeindete Lager entstehen. Soweit so gut.

Nur: wenn ich mal aus dem Fenster sehe, im Internet durch ein paar Foren wandere, an meinen Arbeitsplatz denke, vielleicht auch Nachrichten sehe und zu guter Letzt sogar einige Geschichtsbücher wälze, was bleibt dann von dieser wunderbaren Logik übrig, frage ich mich. Und das finde ich dann auch schon wieder beruhigend, denn wenn man sich beim Menschen prinzipiell auf etwas verlassen kann, dann darauf, dass man sich bei ihm auf wirklich nichts verlassen kann. Er schafft es immer wieder, noch jeden Rahmen zu sprengen, in den ihn irgendwelche Neunmalkluge, Herrscher oder nun eben auch Wissenschaftler im Laufe der Geschichte immer wieder hineinzuzwängen versucht haben. Ein Hoch auf den Menschen, die Vielfalt seiner Möglichketen und das Potential seiner Kreativität.

Mit unverbesserlichen Statistikern werden wir aber wohl noch eine gute Weile leben müssen. Erst gestern war wieder von einer Professorin die Rede, die herausgefunden hat, dass es einen Zusammenhang zwischen der "natürlichen" Gehgeschwindigkeit eines Menschen und seiner Lebensdauer gibt. Aber allen, die sich jetzt natürlich sofort einen schnelleren Schritt angewöhnen wollen, um länger zu leben, erteilt sie sofort ene Absage, so funktioniert das natürlich nicht. Wer weiss wer weiss, in einer Welt, in der so interessante Fragen hoch wissenschaftlich untersucht und geklärt werden, müsste es doch auch möglich sein, durch schnelleres Gehen sein Leben zu verlängern. Könnte man jedenfalls meinen.
 

Zerd

Well-Known Member
Vermutlich habe ich mich in letzter Zeit wieder zu sehr mit Paradoxien, Komplexitäten und Widersprüchen beschäftigt, aber ich werde immer mehr ein Fan unseres prinzipiellen Dachschadens, bei dem das Abdichten der einen undichten Stelle nahezu unweigerlich zu mindestens einer weiteren undichten Stelle führt, aus der das Wasser beim nächsten Regen wieder munter tropft, sodass zuletzt nur noch die Fantasie helfen kann, indem wir uns vorstellen, Oben wäre Unten und wir auf der sicheren Seite, weil dann ja der Regen nicht mehr eindringen kann, sondern aus dem Dach hinausfließen müsste. Der Glaube versetzt dann Berge, zumindest vorübergehend, und im günstigsten Fall, bis wir uns gar keine Gedanken mehr darum machen brauchen und können.

Kürzlicher Anlass dieser erneuten Wanderungen auf gedanklichen Sackgassen und Einbahnstraßen war die Lektüre der Königsberger Klopse, eine kleine Streitschrift, gedacht als Metaphysik- und Kantkritik und erschienen in der MSZ. Dort wird die Metaphysik quasi als unnötiger Irrtum dargestellt, der erst dadurch entsteht, dass man eine einmal erkannte und nachgewiesene Kausalität zwischen Ursache und Wirkung nicht auf sich beruhen lässt, sondern im gleichen Gedanken die Ursache wieder als Wirkung einer anderen Ursache und die Wirkung wieder als Ursache anderen Wirkung zu betrachten geneigt ist, was dann schurstracks in die (unmöglichen wie unnötigen) Unendlichkeiten der Metaphysik führt.

Diese Argumentation ruft natürlich sofort Zenons berühmten Pfeil ins Gedächtnis, der, einmal abgeschossen, sein Ziel eigentlich nie erreichen dürfte, da er ja selbst zum Zurücklegen einer sehr kleinen Strecke unendlich oft eine unendlich kleine Wegstrecke zurücklegen müsste und da man unendlich bekanntlich nie erreicht, kein bißchen vorankommen dürfte. Auf ganz ähnliche Weise wird in den Königsberger Klopsen versucht, Metaphysik zu vermeiden: Kausalitäten gründen zwar immer auf anderen Kausalitäten, aber weil es derer unendlich viele sind und wir immer nur eine nach der anderen betrachten (können), kommen wir also ohnehin nie ans Ende dieser Kausalitäten, weshalb es nicht den geringsten Sinn macht, sich mit Metaphysik und Urgründen zu beschäftigen.

Nur wissen wir alle eben aus Erfahrung: der Pfeil kommt trotzdem voran und schlägt irgendwo auf, obwohl er es rein (analytisch-)gedanklich gar nicht dürfte! Und genauso existieren wir auch, ganz profan und endlich und ausgedehnt, und werden mit Sicherheit irgendwann irgendwo aufschlagen.

In diesem Zusammenhang macht es auch immer wieder Sinn, sich mit den Grundlagen unseres Denkens zu beschäftigen. Mit Begriffen wie Gedanke oder Wissen gehen wir im Alltag üblicherweise mit einer Sicherheit und Selbstverständlichkeit um, als ob wir damit auf die Welt gekommen wären. Aber schon ein oberflächlicher Blick auf die Wiki-Seiten zu diesen Begriffen macht deutlich, wie viel Unbestimmtheit und Komplexität schon in diesen einfachen Einheiten unseres Denkens verborgen ist. Orientieren wir uns bei einem Gedanken stärker an seiner Entstehung oder seiner Geltung? Gibt es neben den tatsächlich existierenden Dingen und den reinen Vorstellungen noch eine dritte Welt der objektiven Gedanken? Handelt es sich bei der Grenzziehung zwischen Meinung und Wissen um eine reine Konvention? usw. usf.

Anfänglich irritieren diese Fragen den Menschen sehr, da wir doch alle mehr oder weniger von Kindesbeinen an mit einem relativen stabilen und einheitlichen Bild der Welt aufgewachsen sind. Aber wenn man diese Unzulänglichkeiten erst einmal akzeptiert hat, kann man sich mit diesem Dachschaden sogar anfreunden, weil er letztlich ja Quell einer jeglichen Inspiration ist, die mit einem Schuss Motivation alsdann in Kreativität mündet. Das macht das Leben nicht sicherer und berechenbarer, aber in jedem Fall bunter und spannender - eben: lebenswerter.
 
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Sma02

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Lieber Zerd,


Nur wissen wir alle eben aus Erfahrung: der Pfeil kommt trotzdem voran und schlägt irgendwo auf, obwohl er es rein (analytisch-)gedanklich gar nicht dürfte! Und genauso existieren wir auch, ganz profan und endlich und ausgedehnt, und werden mit Sicherheit irgendwann irgendwo aufschlagen.

Das werden wir in der Tat. Ob nun mit der Spitze oder dem hintern, sei mal daneben gestellt, wir werden aufschlagen auf das Holz das über unserer 5m weißen Decke liegt.

In diesem Zusammenhang macht es auch immer wieder Sinn, sich mit den Grundlagen unseres Denkens zu beschäftigen. Mit Begriffen wie Gedanke oder Wissen gehen wir im Alltag üblicherweise mit einer Sicherheit und Selbstverständlichkeit um, als ob wir damit auf die Welt gekommen wären.

Tefekkür lieber Zerd, ist kostbarer als wissen.

Orientieren wir uns bei einem Gedanken stärker an seiner Entstehung oder seiner Geltung?

Endlosschleife.

Anfänglich irritieren diese Fragen den Menschen sehr, da wir doch alle mehr oder weniger von Kindesbeinen an mit einem relativen stabilen und einheitlichen Bild der Welt aufgewachsen sind. Aber wenn man diese Unzulänglichkeiten erst einmal akzeptiert hat, kann man sich mit diesem Dachschaden sogar anfreunden, weil er letztlich ja Quell einer jeglichen Inspiration ist, die mit einem Schuss Motivation alsdann in Kreativität mündet. Das macht das Leben nicht sicherer und berechenbarer, aber in jedem Fall bunter und spannender - eben: lebenswerter.

Dachschaden wir lieben dich!

Viele Grüße
 
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