lieber Zerd

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Zerd

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AW: lieber Zerd

Erlösung erfordert eine Lösung. Und Lösung weist auf ein Problem, zumindest aber auf eine Frage hin. Sicher bin ich mir nicht, aber ich ahne, dass es einen Weg gibt, diese Zwangsläufigkeit zu umdenken.

Die Physik bietet ein Modell, eine Option, das der Weitläufigkeit und Mannigfaltigkeit des Seins nur schwerlich gerecht zu werden vermag. Im Wechselspiel von Materie und Energie in der Raumzeit erkennt sie die Grundlage allen Seins. Aber nicht nur, dass sie im Kleinsten wie im Weitesten, im Anfang wie in der Ewigkeit ihre strukturellen selbst auferlegten Grenzen hat, auch in dem uns direkt zugänglichen Mesokosmos überwindet schon die einfachste Lebensform die physikalischen Grundlagen und ist damit noch nicht einmal in die Nähe der Grenzen des Seins vorgerückt. Bewusstsein, gar Selbstbewusstsein zeugen vor diesem Hintergrund von einer ganz anderen Welt.

Möglicherweise markiert die Entropie dabei noch am deutlichsten die Grenzen der Physik. Sie manifestiert das Werden, indem sie eine Richtung vorgibt und den Weg zurück versperrt. Wir landen so zumindest begrifflich in einer Endlosschleife, in der das Sein vom Werden überwunden wird, dieses Werden dann als signifikantes Merkmal zum Sein erhoben wird, dass dann seinerseits wieder dem Werden unterworfen wäre usw.

Ich behaupte aber, Sein hat keine Richtung, es ist weder reversibel noch irreversibel; es mag Fülle haben, eine Art von Essenz, vielleicht "ist" es einfach nur. Aber Werden scheint mir ganz eindeutig ein auf unser beschränktes Denkorgan zugeschnittenes Hilfskonstrukt zu sein. Jeder, der schon einmal einen hochemotionalen Moment erlebt hat, in der jegliche Vorstellung von Raum und Zeit verschmelzen und in die Gewissheit münden, im Sein aufzugehen, vermag das vielleicht nachzuvollziehen.

Liebe Mar, müssen wir denn zu uns selbst eine Reise unternehmen? Ist es nicht vielmehr so, wie es Pit in seiner Signatur so schön auf den Punkt gebracht hat: wo immer wir auch hingehen, dort sind wir dann und dort sind wir schon. Es wird wohl nie anders sein.
 
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mar

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AW: lieber Zerd

Liebe Mar, müssen wir denn zu uns selbst eine Reise unternehmen? Ist es nicht vielmehr so, wie es Pit in seiner Signatur so schön auf den Punkt gebracht hat: wo immer wir auch hingehen, dort sind wir dann und dort sind wir schon. Es wird wohl nie anders sein.

...ich denke, das unser selbst in diesem kontext nicht gleichzusetzen ist mit dem sein. das wir uns, egal, wo hingehen, immer mitnehmen, habe ich schon in irgendeinem meiner texte als bemerkung beigebracht. aber ob wir dann , bei dem hingehen zu etwas auch immer wir selbst sind, ist fraglich. vielleicht fragmente unseres selbst, die der physikalischen materie entsprechen, aber das selbst, das unser bewusstsein ernährt, wird zu allererst orientierungslos sein. es wird sich in neuer situation, neuer umgegebung, auf einen neuen menschen einpendeln müssen. diesen moment nenne ich die reise zu sich selbst- wenn man die inneren landkarten abfährt und dabei diese geschilderte entdeckung macht , sich quasi selbst offenbart, das man sich selbst mitgenommen hat .
der alltag und die begegnungen mit menschen, ja besonders wenn man menschen z.b. nach langer zeit wiedertrifft und diese sich unter veränderter situation ihr selbst nicht wieder-entdeckt haben , zeigen mir auf, das man sich zwar "mitnehmen " wird, weil es physikalisch unumgänglich ist, aber das eigene selbst , das bewusstsein oder gar das selbstbewusstsein, oftmal noch "unruhig die wege ihrer inneren landkarte erlaufen". aber das ist genau das, was die zeit oder die ahnung von zeit sichtbar , spürbar macht.dieses befahren der inneren landkarten, auch das ist ,wie martin buber schon einmal anführte, ERFAHRUNG. erfahren wir ( im doppelten sinn) uns selbst, dann erkennen wir , wo das selbst behaust ist. das es im SEIN sein muss , wir es aber mit uns mittragen und es unter neu entstandener situation am anderen ort wieder fixieren müssen. das selbst ist ja, so denke ich , keine starre größe, sondern ein in sich beweglicher fakt in unserer mitte ist.

vielleicht nennen wir , wenn das SELBST zur ruhe kommt, erlösung. mag sein, das man in vielerlei hinsicht erlöst zu sein scheint....aber lösung, erlösung, herausgelöst aus dem selbst- das wäre dann möglicherweise der physische tod. man selbst ist nicht mehr. sondern man IST ( infinitiv SEIN ) .
 

Zerd

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AW: lieber Zerd

Liebe Mar, ich muss Dich gewiss nicht daran erinnern, dass wir schon vor sehr langer Zeit festgestellt hatten, dass es hier nicht nur um entweder-oder gehen kann, sondern vor allem auch um sowohl-als-auch. Insofern bleibt es Dir selbstverständlich belassen, die Zeit und somit die Bewegung und Veränderung ins Zentrum Deiner schönsten Bilder von der Welt zu setzen; womöglich fehlt mir ja nur Deine jugendliche Frische, es Dir gleich zu tun. Aber ich gewinne immer mehr den Eindruck, dass Zeit ein sehr physikalisch dominiertes Hilfsmittel ist und damit ein wenig den Blick verstellt auf andere weitere Ausrichtungen des Seins.

Nehmen wir einmal an, das Sein hätte ganz unterschiedliche Ausprägungen, nebeneinander, ineinander, immanent, etwa eine physikalische Ausprägung, eine biogene, eine geistige, eine kreative usw. Die Zeit geht dann vornehmlich auf die physikalische Welt mit ihrem Determinismus und ihren Kausalitäten zurück. Schon die einfachste Lebensform sprengt aber schon diese Schranken; selbst das Pantoffeltierchen ist schon mehr als die Summe seiner materiellen physikalischen Einzelteile, es ist lebendig, es hat ein Sein, es "ist". Und von der Warte dieses Lebens aus betrachtet, haben wir hier auch keine Zeitabhängigkeit mehr. Die materiellen Bestandteile des Pantoffeltierchens unterliegen zwar sehr wohl den physikalischen Kausalitäten und Gesetzmässigkeiten, sie treiben Stoffwechsel, zeugen von Bewegung und damit der Abhängigkeit von der Zeit. Aber aus der Warte des Lebens tut sich da gar nichts: vom ersten Moment seiner Existenz bis zu seinem Ende "ist" das Pantoffeltierchen, es hat in diesem ganzen Leben nur einen einzigen Berührungspunkt zur übrigen Welt und schenkt ihr dadurch eine einzigartige Perspektive, die es ohne das Pantoffeltierchen einfach nicht gibt. Hier wirkt keine Zeit, die das Physische fest in ihrem Griff hat, unser Pantoffeltierchen "ist" entweder oder es "ist" nicht; "wie lange" sich dieses Sein ausdehnt, mag aus der Perspektive der äußeren physikalischen Welt von Bedeutung sein, aber von der Warte des lebendigen Pantoffeltierchens gibt es nur einen Zustand: ich "bin"!

Welche guten Gründe haben wir denn, die Wahl der Auswahl vorzuziehen, das Explizite dem Impliziten, die ausgeübten und durchgeführten Fähigkeiten dem Potential? Genau zu dieser Einschränkung treibt uns aber der zeitverhaftete physikalische Blick: echt und wahrhaftig erscheint uns so doch nur, welche Murmel wir zuletzt tatsächlich in die Hand genommen haben, obwohl sich im Säckchen noch zahllose andere, zweifellos viel schönere tummeln. Wert erscheint uns damit doch nur, was wir tatsächlich gelebt und erlebt haben, obwohl wir in jedem einzelnen Augenblick die Wahl und meist mehrere Optionen hatten und somit über zahllose Leben verfügen. Wieso sollten wir diesen Reichtum wegwerfen, wegdenken, übergehen, übersehen?

Weiter oben hatten wir schon darüber gesprochen, dass es an jedem Menschen selbst liegt, ob er seinen Blick für das Gleiche-Vergleichbare in der Welt schärft oder für die Unterschiede und Abweichungen. Wir hatten festgestellt, dass die Perspektive auf das Gleiche, ihre Zusammenfassung in Schubladen, der Vereinfachung dient, eine nützliche zielorientierte funktionelle Denkstütze ist, die gerade dem Leben und dem Menschen in den seltensten Fällen gerecht wird. Ist in diesem Zusammenhang die Physik mit ihren Schranken, ihren Gesetzmässigkeiten und Kausalitäten, und vor allem auch mit ihrer Zeit, nicht der größte Gleichmacher unter allen sich uns bietenden Perspektiven?
 
M

mar

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AW: lieber Zerd

...................der Vereinfachung dient, eine nützliche zielorientierte funktionelle Denkstütze ist, die gerade dem Leben und dem Menschen in den seltensten Fällen gerecht wird. Ist in diesem Zusammenhang die Physik mit ihren Schranken, ihren Gesetzmässigkeiten und Kausalitäten, und vor allem auch mit ihrer Zeit, nicht der größte Gleichmacher unter allen sich uns bietenden Perspektiven?


lieber Zerd, genau deshalb stehe ich dem kartesischen Theaterboden , den Konstrukten, die sich mir ohne meinen eigenen Erfahrungswert aufzudrängen suchen , mit Obacht gegenüber. Es ist nicht so, das ich den Gesetzmässigkeiten, die ihre Jahrhundertsberechtigungen haben, feindlich gegenüber stünde, es ist vielmehr der noch nicht ausgeschöpfte Erfahrungsschatz einer Immanenz, die nach dem Transzendenten drängt.
Schon allein deshalb ist Leben immer eine Balance , die in ihrem Tänzeln stets dem Gleichgewicht auszuweichen sucht. Der innere Blick, komme ich auf die kartesische Dimensionalität zurück, ist entgegengesetzt seiner angenommenen "Innerlichkeit" für mich der Schlüssel zur Dimensionserweiterung gedacht. Für physikalische Gesetzmässigkeiten, mathematisch- strukturelle Erfassung von Wahrscheinlichkeiten uns sichtbarer Räumlichkeiten ist die Physik sicher unabdinglich, doch da der menschliche Geist die nicht erfassbare Zeit nicht begrenzen kann, verhaftet sich der innere Blick vorerst im Heute und Jetzt, es sei denn, eine raumdimensionale Erfahrung sprengt diese Struktur , und der Drang ,Gott oder Göttliches mit Hilfe der Naturwissenschaft erklären zu wollen, verblasst angesichts der Transzendez. Ich denke, das es nicht von ungefähr zu diesen Hinterfragungen nach der Raumzeit gekommen ist. Mit zunehmender wissenschaftlicher Erkenntnis war die Erforschung der Weltraumes möglich- und doch hat diese Erforschung für das Innere des Menschen, für die Erkenntnis seiner eigenen 4. Dimension , seines SEINS, nichts beigetragen. Je mehr Versuche, die eher verkomplizieren als das sie erklären, umso strukturloser erscheinen mir im ersten Augenblick die Erklärungsversuche der Welt .

Wert erscheint uns damit doch nur, was wir tatsächlich gelebt und erlebt haben, obwohl wir in jedem einzelnen Augenblick die Wahl und meist mehrere Optionen hatten und somit über zahllose Leben verfügen. Wieso sollten wir diesen Reichtum wegwerfen, wegdenken, übergehen, übersehen?

Ich bin mir nicht sicher, ob wir die Wahl über zahllose Leben hätten. Eine zahllose Wahl, DAS Leben als Feld vieler Optionen zu sehen schon eher. Den Wert zu bestimmen, was man gelebt und erlebt hat, wie diesen Wert sichtbar zu machen für sich selbst , erklärt sich im Passus der Vergangenheit. Was "war " bestimmt den Blick auf das Kommende. Erst in der Reflektion erkennen wir das Ich und können es in das Verhältnis setzen zu den Optionen die wir hatten , und die wir (scheinbar) nicht wahrgenommen haben. Du weisst ja aus unseren Gesprächen , die wir über die Jahre führen, das egal, für welche Option man sich entscheidet, Fragmente der (scheinbar) nicht wahrgenommen Optionen wertbestimmend sein können. Die einfachste Erklärung, die mir dazu einfällt ist, das - wenn man sich für die Option des Verzichts entscheidet, trotzdem hinzugewinnen kann. Das mag recht klösterlich klingen, ist aber im Prinzip simpel.
Und gerade dieses Simple auf der Waagschale des Lebens entscheidet über den Wert, den jeder für sich selbst bestimmen muss.

Ich gebe Dir recht, wenn Du sagst, das Schubladen sicher sehr vereinfachte Denkstützen sind, wenn es gilt, Ziele oder Wünsche zu fixieren, sie festzuhalten , das ist insofern legitim, wenn man sich dessen bewusst wird, dass es bewegliche Behältnisse sind, deren Inhalte als überabeitenswert erkennbar sind. Denkstützen als geistigen Altar zu kultivieren, käme allerdings eher einer Erstarrung gleich.
Ich gehe etwas einfacher dem Schubladendenken auf den Grund. Dosen, Schachteln und Boxen , die ich im Laufe meines Lebens gesammelt und weiter sammle , sehe ich metaphergleich als Möglichkeiten , ihre Inhalte zu verändern. Inhalte, die verborgen vor den Blicken anderer , aber auch vor meinen eigenen Blicken sind, werden durch das Öffnen sichtbar . In diesem Moment stürzen diese geistigen Denkstützen in sich zusammen und verlangen nach neuer Defination.
Damals, als Cristo den Reichstag verhüllte , so könnte man es am besten erklären , fragten sich und fragen sich heute noch Menschen nach dem Sinn des Projektes. Es ist , wie ich es für mich interpretieren kann , nichts anderes als das sichtbar gemachte Aufbrechen alter Strukturen.
 

Zerd

Well-Known Member
AW: lieber Zerd

Mir ist heute eine Filmkritik über den Weg gelaufen, in der das Geschichten-erzählen auf eine ähnliche oder verwandte Art und Weise thematisiert wird, wie ich es in den letzten Beiträgen zu den Geschichten des Lebens und des Seins versucht habe. Vor allem diesen Absatz fand ich in diesem Zusammenhang interessant:

...
Stellen wir uns für einen Augenblick vor, nicht nur das Kino, sondern auch die Welt könnte so funktionieren: nicht als zwangsläufige Linie der "history", sondern als Geflecht mehr oder weniger autonomer Szenen. Und es müssten sich nicht die Szenen der Linie unterwerfen, sondern die Linie würde sich den Szenen unterwerfen (und plötzlich ihre scheinbare Klarheit verlieren).
...
Quelle

Ungefähr so stelle ich mir das vor, wenn die Zeit nicht mehr ein zentrales Element unseres Denkens darstellt, sondern wirklich nur auf die Ausprägung und Ausrichtung des Seins beschränkt wird, der sie entspringt.

Und tatsächlich würde uns dadurch auch die Klarheit und Eindeutigkeit und Allgemeingültigkeit der Geschichten verloren gehen, was wir in unserem subjektiven Empfinden ja im Grunde jederzeit spüren und wissen.

Natürlich ist diese Sichtweise auch nur eine Variante, eine Option, eine Präferenz, ein Versuch, aber sie scheint es mir durchaus wert, sich etwas eingehender mit ihr zu beschäftigen.
 
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mar

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AW: lieber Zerd

Mir ist heute eine Filmkritik über den Weg gelaufen, in der das Geschichten-erzählen auf eine ähnliche oder verwandte Art und Weise thematisiert wird, wie ich es in den letzten Beiträgen zu den Geschichten des Lebens und des Seins versucht habe. Vor allem diesen Absatz fand ich in diesem Zusammenhang interessant:



Ungefähr so stelle ich mir das vor, wenn die Zeit nicht mehr ein zentrales Element unseres Denkens darstellt, sondern wirklich nur auf die Ausprägung und Ausrichtung des Seins beschränkt wird, der sie entspringt.

Und tatsächlich würde uns dadurch auch die Klarheit und Eindeutigkeit und Allgemeingültigkeit der Geschichten verloren gehen, was wir in unserem subjektiven Empfinden ja im Grunde jederzeit spüren und wissen.

Natürlich ist diese Sichtweise auch nur eine Variante, eine Option, eine Präferenz, ein Versuch, aber sie scheint es mir durchaus wert, sich etwas eingehender mit ihr zu beschäftigen.


Das erinnert ich mich an ein Gespinst auf abstrakten Gemälden, aber auch an die Linien, wenn wir versuchen, das Nervensystem darzustellen.
Da Kino den Bruchteil der Welt widerspiegelt, da ein Künstler den inneren Anspruch mit der äußeren Realität zu verbinden mag, da die Entwicklung der Welt evolutionäre Bruchstücke der Entwicklung der Galaxien widerspiegelt, die Ungleichförmigkeit auch in der Anpassung heraushebt , ist Klarheit eine sehr individualistische Definition. Für die Spinne, die ein Netz von geometrischer Klarheit bis hin zur kokonähnlichen, undurchschaubaren Wand, so ist für unser Gehirn das Gespinst aus optischen Täuschungen und Konglomeraten klar und durchschaubar, die Welt, so wie wir sie sehen.

Aber wie Vereinfachungen, klare Linien und gefestigte Strukturen eben auch eine nicht ganz unerhebliche Erstarrung nach sich ziehen, so neigt doch der menschliche Geist interessanter Weise dem Unangepassten, dem Dunklen und der Opposition zu. Das interessante am Kino ist ( ohne sich jetzt an diesem Artikel festzubeißen) , das es zwar dem künstlerischen Genre unterworfen zu sein scheint, aber sich eben nicht der starren Komposition wie dem eines Bildes unterwerfen muss , sondern in der Veränderlichkeit, im bewegten Bild die Klarheit schon zu Beginn verwischt. Egal welche scheinbare Oberflächlichkeit oder wie abstrus Darstellungen und Handlungen erscheinen- sie „erscheinen“ nur so- tatsächlich sind sie aber in den Cuts abgeschlossen . Szenerien wie Filmcuts sind irgendwie vorsprachliche Angebote an das Gehirn, selbst die Grenzen oder die Erweiterungen festzulegen.

Ich denke mir, das man aufgrund der schnelleren Bildfolge einer Wahrnehmungsverschiebung unterworfen wird, und man Bilder, die im Inneren auftreffen, aufgrund der Bewegung und der Veränderlichkeit auf dem Weg zum Verstand ohnehin im gewissen Maße absurd erscheinen müssen. Sehen ( Erkennen, Wahrnehmen ) Reflektieren- die Abfolge eines peripherischen Berichtens des Erfahrungszustandes im Moment - vorgegebene Zeitabläufe, die scheinbar eingepasst (angepasst) sind, verselbständigen sich und projizieren im jeweiligen Zuschauer eine völlig andere und bewegliche Grenzsituation.
Wir können faktisch von den gleichen Dingen sprechen, aber der Erfahrungswert verschiebt die „Linien“ und macht sie beweglich.
Immer , wenn etwas in Bewegung ist, verliert es an Eindeutigkeit, die Perspektive machts, die dem Linearen eine Dimension gibt. Etwas hinterlässt im Moment der Betrachtung einen Abdruck Und da kommt es nicht darauf an, ob es in der Fiktion geschieht oder in der Willkürlichkeit von Raum und Zeit, sondern ob man einen Blick darauf riskiert und dabei Dimensionsverschiebungen und Grenzveränderungen in Kauf nimmt.
 
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mar

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AW: lieber Zerd

Zeit haben! Wer kann das von sich behaupten ? Im Eilschritt durchquert man einen Tag, um am Ende ganz erschöpft zu sagen: wieder mal ist sie mir durch die Finger geronnen….

Im Herbst habe ich merkwürdigerweise immer das Gefühl, unendlich viel von ihr zu haben, dieser nicht messbaren Einheit dieses Phänomens, welches alle Gegenwart -und Zukunftsgeschichten im Jetzt vereint. Ich schaue mir die Bilder des Sommers an, die mir von unendlichen Tagen zu sprechen scheinen- kein Wunder, denn sie sind festgehalten in diesen Momentaufnahmen. Damals, das scheint lange her zu sein und doch sind erst 2 Monate vergangen, als die Sonne ganz oben das schwarze Universum ausleuchtete. Die Zeit verwischte zu gelben, flirrenden Punkten und sang blütenreiche Lieder von der Unendlichkeit.

Heute, wenn ich den wassergrauen Himmel sehe, ist von dieser Fülle an Farben in den Wolken nichts mehr zu erkennen. Alles, was der Sommer so trunken und überbordend verschenkte an Licht und Wärme, schaukelt jetzt als rotes Weinlaub an der alten Mauer. In metamorphosischer Weisheit lagert sich die Sommerzeit dort ab, wo schon längst Herbst ist.
Und es wird keine 2 Wochen mehr dauern und das Laub wird unter meinen Füßen rascheln. Es wird sich dem Sterben, dem Tod ausliefern, noch einmal im ersten Herbstregen nass und schwer schimmern und glitzern und dann doch von einem Gärtner zusammengekehrt und weggeworfen werden. All die Kraft des Sommers, das Geheimnis der Verwandlung, die gespeicherte Zeit- sie wird dann irgendwo meinen Blicken entzogen wieder zu Erde werden. Vielleicht nicht nächstes Jahr, aber das Jahr darauf wird dieser dicke, braune Kompost, der von Tagen und Wochen eines Sommers durchdrungen ist, der die Farben in ihrer gesamten Palette trägt, die ersten Frühlingsblumen ernähren.

Es ist ein Wunder und ein Geheimnis, wie sich die Zeit als Künstler präsentiert, dessen Bilder tagein und tagaus in der unsichtbaren Galerie hängen, die wir die Zeitspanne eines Menschen nennen, und im gleichen Atemzug wissen, das selbst, wenn wir nicht mehr da sein werden, diese Galerie geöffnet sein wird. Diese sichtbaren Zeitabschnitte, diese farbigen Mimikry derer sich die ZEIT bedient, täuschen uns durch unser ganzes Leben hindurch. Wenn man von Gestern spricht, ist es heute schon Vergangenheit. Wie ich eingangs schon bemerkte, ich fühle ich mich im Herbst von all der Zeit durchdrungen, die ich messen konnte an den Bildern , fühle ich mich so, als würde ich alle Fenster in meinem Lebenshaus öffnen und bäte die Zeit herein, mein ewiger Gast zu sein .
Zeit haben! Wir haben sie immer. Das Jetzt heftet sich an unsere Schritte und wir bemerken es nicht einmal, wie wir die Transporteure der Unermesslichkeit werden.
 
M

mar

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AW: lieber Zerd

Schlüsselloch...


hör den Geschichten zu,
die Dich zu den Verstecken Deiner Erinnerungen führen.
Sie blühen auf , wenn im Herbst die Blätter verwehen,
Im Sommer beschirmt der grüne Schatten Dein Leben,
im Herbst zerpflückst du den Strauch wilder Beeren
die eine fremde Süße verströmen.
Hör zu, wenn die Einsamkeit beginnt, Dich zu berauschen.
Erinnere Dich, denn dies ist der Schlüssel zu Deiner Kindheit,
ist das Zeugnis, unter dem Du mit deiner Unterschrift
Dein SEIN besiegelst.

Gestern hatte ich den ganzen Tag Zeit. Ich saß in einer Freundes Wohnung fest und wartete geduldig auf den Monteur.
Es war sehr still und nur das Ticken der Uhr durchbrach die Stille. Aus Sorge, ich könnte das Läuten an der Tür überhören, stellte ich auch nicht einmal das Radio an. Mein Blick verlor sich im Grün des Balkons, im Rot der Früchte, die bald geerntet werden müssen, im wässrigen Himmel. Draußen wurde es gestern wirklich Herbst. Die Baumspitzen endeten kurz vor der 4. Etage. Eine Pappel, die auf dem Gelände gegenüber all die Jahre stand, war geborsten und hing traurig in der Form einer Eins nach unten . Genau in der Mitte, so schien es, war der Bruch, der Riss, der durch das Holz ging. Früher ging ich öfters dort spazieren. Da war es noch eine wilde Wiese und kein Bauamt wäre auf den Gedanken gekommen, dort eine Strandbar zu eröffnen...

In all der Stille und Ergriffenheit über die noch immer erhabene Schönheit dieses sterbenden Baumes dachte ich , das im Frühjahr sicher eine gärtnerische Hand den Baum fällen wird. Bis dahin wird auf diesem Platz ebenso eine Stille einkehren wie hier in diesem Zimmer.
Der Winter ist ein Genesungschlaf der Natur. Wenn sich im Sommer die Marienkäfer über den wilden Beifuß hermachen, der sich überall in Städten und auf Mittelstreifen der Straßen breitmacht, so verliere ich diese Pflanze als Fixpunkt; denn der Regen wird ihn fortschwemmen, zum Verwelken bringen...
Er wird sich im Schlamm seinem Tod ergeben und dann im Winter werde ich ihn sogar zeitweilig vergessen .
Das unsichtbare Seil zwischen meinem Blick und dem Erblickten wird scheinbar durch die erste Kälte zerrissen- fast wie eine schwebende Spinnwebe, den meine Hand mit einem Streich wegwischen kann.
Ich bemerkte, das ich schon wieder dabei war, in der mir auferlegten Stille mich diesen Dingen wie kaum sichtbaren Spinnfäden oder unsichtbaren imaginären Bändern zwischen mir und der Natur zu nähern, dabei war es doch nur ein flüchtiger Blick, der am Baum gegenüber haften blieb.

Tausende solcher Momente streifen mich, wenn ich auf der Straße gehe oder bei einem Spaziergang im Park.
Mir fiel ein, das ich ähnlich empfunden hatte, als ich am Sonntag auf dem alten böhmischen Friedhof war, der sonst für Fremde geschlossen ist, wir aber einen kurzen Spaziergang durch diese Reihen der Gräber aus dem 17. Jahrhundert machen konnten...Seit Jahren stahl ich mit einem Blick durch das Schlüsselloch des großen gusseisernen Tores Ausschnitte dieses kleinen Friedhofes; immer wollte ich die alten verwitterten Grabsteine lesen, und als ich dann davor stand, war mir so, als kannte ich sie alle, diese böhmischen Einwanderer. Die Fremdheit wich und mit der archaischen Erinnerung an das, was mit uns allen geschehen wird, kam die Vertrautheit. Der Zauber, die fast kindliche Neugier, mit der ich immer durch das Schlüsselloch lugte, verwandelte sich in ein Bild , das ich schon lange zu kennen geglaubt und nun , beim annähern fand es wieder an den Platz in meiner verlorengeglaubten Erinnerung .

Nähert man sich den Dingen zu sehr, wird der Zauber leicht zerstört, wird der flüchtige Augenblick wie zu einem festen Bestandteil einer Gemäldegalerie, zu schweren dicktropfig-festen Ölgemälden, die das leichtfüßige Leben manchmal unnötig beschweren.
Ist der unbeschwerte Augenblick im Sommer nur schmückendes Beiwerk zu den von Sonnenglut durchtränkten Beeten, so wird er im Winter der einzige Halt, an dem man sich durch die kalten Jahreszeiten hangelt..
Wertigkeiten verschieben sich durch die Dinge von Außen, werden von ihnen durchdrungen und einer Metamorphose ausgesetzt. Schöne Dinge werden weniger schön und die weniger schönen Dinge erhalten durch ihr einmaliges , kurzes Erscheinen wie mit Diamanten bekränzt. Denkt man an die frostgemalten Blätter in Rinnstein, die wie Gold in der Wintersonne funkeln und sobald sie im Schatten eintauchen, sind sie doch nur moderndes Laub.
Das Haus gegenüber, der gütige Schattenspender im Sommer wird nun im Herbst der bedrohliche Riese, der das Licht verschluckt.

Auf der Straße , die unter mir lag, war schon dieses Ersterben der Natur zu erahnen. Ich dachte, das es nicht von ungefähr käme, das man im Herbst soviel an Abschied denkt und an das Nimmerwiedersehen, oder gar an den Tod. Natürlich weiß ich, das der Frühling wieder völlig andere Bilder zaubert; könnte einfach nur sagen: das doch alles Gute im Inneren läge, im Verborgenen und das die kalte, schmutzige Welt drumherum diesen guten Kern des Wissens um die Wiederkehr nie anzutasten vermag, trotzdem.
Denn wenn ich das Ruhen, das Nichtstun und das Ausharren der Natur betrachte, weiß ich, das zwar wie zum Beispiel der Frost als Allegorie zum Draußen vieles ersterben lässt, aber das auch der gleiche Frost nötig ist, um chemische Prozesse in einem Pflanzensamen in Gang zu setzen, die gewährleisten, das das verborgene unter der Erdkruste im Frühling sogar Pflastersteine aufbrechen kann, nur um die Schönheit seiner Blüte ans Licht zu bringen.
Es ist merkwürdig, wie dieser schattige Tag in meinen Gedanken Assoziationen freisetzt...
So wie ein Schatten das Licht nur kurz verbergen kann, so wie Glasscheiben oder glattpolierter Asphalt die restliche Sonne reflektieren, so reflektieren Menschen auch in dunklen Momenten ihres Lebens diese Kraft, die im Übergang der Jahreszeiten liegt . Man kann plötzlich in diesem Riss der Zeit, der sich zwischen dem abrupten Übergang von Sommer zum Herbst schiebt, sich selbst klar und deutlich erkennen. Man kann verstehen, das das Ungeordnete, das Dunkle oder Verborgene nach einem Gesicht verlangt.

Aber da nur der Tod die Rätsel für all das Verborgene auflösen kann und Ordnung ins SEIN bringt, erklärt man sich selbst das Unerklärbare am Kommen und Gehen, am Wechsel der Jahreszeiten, die uns Menschen an den Zeitabschnitten festzurren, als gälte nur dieses eine Gesetz. Uns wird in diesen kleinen aufhellenden Zeitrissen klar (oder ist es eine Art Blick durch ein anderes Schlüsselloch...) das wir das Gesicht, nachdem man ein Leben lang sucht , nie selbst sehen werden, sondern nur die Menschen, die schlussendlich da sind, wenn der letzte Herbst kommt.

http://img143.imageshack.us/img143/8316/bild091b.jpg

http://img193.imageshack.us/img193/56/bild090y.jpg

http://img36.imageshack.us/img36/125/bild089w.jpg

ps. die Fotos sind alte Grabsteine ca. 1702 -1716 vom Böhmischen Gottesacker in Berlin Neukölln/ Rixdorf

MAR
 
M

mar

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AW: lieber Zerd

"...Flugzeuge sind eine wunderbare Erfingung. Du bist noch gar nicht fort und kommst schon an.
Das Flugzeug ist schneller als das Herz. Du hörst auf, der Vergangenheit nachzutrauern. Du begreifst, das die Vergangenheit nur in deinem Kopf existiert, dass es sie in Wirklichkeit nicht gibt. "
aus : An der Biegung des großen Flusses. von V.S.Naipaul
 
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mar

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AW: lieber Zerd

Lieber Zerd............Wenn ich heute, nach all den Monaten zurückblättere, dann stelle ich fest, das wir uns nicht auf die Suche nach der Mitte begeben müssen, denn die Mitte ist immer in uns. Eher würde ich denken, das man sie immer wieder neu lokalisieren sollte...
Die Unendlichkeit, oder wenigstens die Ahnung ihrer ist , so habe ich es erfahren, wie die Triebfeder zu den Reisen zu uns selbst.


Lieber Zerd,
ich las gerade kürzlich im Vorübergehen, beim Durchblättern quasi, das Notizbücher der Anfang des Vergessens wären.
Ich erinnerte mich an eine Begebenheit aus diesem Sommer, die ich tatsächlich entgegen meiner Gewohnheiten nicht einmal schriftlich festgehalten hatte. Jetzt, als ich die Sommerimpression noch einmal durchlas, fiel mir dieser Nachmittag wieder ein. Wenn ich dem entdeckten, kurzen Zitat nur Recht geben könnte! Ich muss Dir diese Geschichte , diese Erinnerung aufschreiben. Sie passt hierher und deshalb habe ich sie vom Wortdurchgangszimmer hierher verschoben.

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Die brüchige Welt ( Fragment)
Vollkommener Weg, gesäumt von ausgeputzen Gehsteigplatten, sauber gefegten Bordsteinkanten und leise vor sich hinwippenden Sommerblumen, an deren Stengeln kein welkes Blatt geduldet wurde...Hinter dem Spitzdach geht malerisch die Sonne unter und vor dem Haus reckt sich eine gestromte Katze. Leise summt der elektrische Draht in den Überlandleitungen. Ein scheinbar alter Mann quält sich behäbig die kleine Anhöhe hoch und zündet sich eine Zigarette an. Diese Stille in diesem großen Raum , der sich Himmel nennt, diese weite Unbeflecktheit ist wie ein gedeckter Tisch , der irgendwo in einem Landhaus steht und von dem ein Duft ausgeht, der an Sonntagnachmittage erinnert; kurz bevor man den frischgebackenen Streuselkuchen auf die weiße Tischdecke stellen wird und diese Beschaulichkeit einer herbeigesehnten Eleganz mit dem Duft bäuerlicher Backkunst durchbricht. So, als würde sich das letzte Licht eines heißen Nachmittags durch die blankgeputzten Fenster hindurch in den Wassergläsern spiegeln wollen, so schimmern die mit Abendtau benetzten Tannennadeln und halten die kleinen Tropfen an ihren fragilen, hellgrünen Spitzen fest. Man würde es fast glauben, wenn man sagte, das sie einen leise gläsernen Ton von sich gäben, wenn sie auf die vom Wind und von Frauenhand gefegten Strasse fallen. Sie zittern fast unbemerkbar, als der alte Mann vorüberging. Das Auftreten seiner Füße verursachten kleine Schwingungen, die sich auf die Tannen am Wegesrand übertrugen. Seine Augen blickten ins Leere, so , als würde er all diese Schönheit und diese berührende Stille nicht wahrnehmen und sich ganz anderswo aufhalten. Sein Blick öffnete irgendwie eine dunkle Tür zu einem noch dunkleren Korridor zu einer offenbar alten, verbrauchten Seele. Dort hinter den Jahren seines Lebens waren viele Türen auf-und zugeschlagen worden, die Ritzen und sogar die Schlüssellöcher verstopft- so das selbst kein einziger Schimmer nach draußen drang. Verschlossen war verschlossen, war vergessen und vorbei- warum die Türen wieder anrühren?

Selbst Nachmittage, wie sie der Abendhimmel in die Erinnerungen zaubern kann, und nun auch verborgen hinter verschlossenen Türen ruhten, möchte er nicht mehr als Begleiter in seinen Gedanken haben, wenn er diesen für ihn beschwerlichen Berg heraufsteigt.
Die sanfte, fast lautlose Stille taucht ihn in einen unsichtbaren , ja durchsichtigen Zeit- Brunnen, tief und unergründlich. Man könnte meinen, Betrachter eines alten, sepiafarbenen Bildes zu sein, einer Postkarte vielleicht, die sich in einem Stapel neuer, farbiger Abbilder einer Dorfidylle verirrt hat und erstaunt stellt man fest, während man das Foto zurückstellen möchte, das es einem vertraut vorkommt. Und so, wie man sich vielleicht das alte Foto noch einmal anschaut, bevor es wieder im Stapel der Abbildungen von konservierter Zeit verschwindet, so wirft man noch einmal den Blick auf diesen alten Mann, dessen Zigarette nur noch zart aufglimmt und nun verglüht.
Inzwischen ist es Nacht geworden. Ganz und gar in die dörfliche Dunkelheit gehüllt, lässt sich der Mann auf einer Bank nieder und nur wenn man ganz angespannt lauscht, kann man ihn atmen hören. Erstaunt stellt man fest, das dieser Atem nicht der eines Mannes sein kann, der sich nur mit großer Kraft vorwärts bewegt hat, sondern der Atem geht leise und regelmäßig und so, als hätte er nicht die Anhöhe mit Mühe erklommen . Wahrscheinlich ist der langsame, schleppende Gang nicht Zeichen seines Alters, sondern das Mühsal scheint darin zu liegen, die Türen seiner Erinnerungen mit größter Kraft zuzuhalten.
Durch die dunkelblaue Nacht zuckte ein Blitz und erhellt den Dachvorsprung, unter dem die Bank steht und sekundenhell erleuchtet der Feuerschein das Gesicht des Mannes und ich stelle erstaunt fest, das er tatsächlich nicht alt sein kann, denn sein Gesicht zeigt zwar Spuren der Zeit, aber ich schätze ihn auf die Mitte des Lebens ...Ein in sich ruhender Mensch sitzt dort , mit den Händen auf den Beinen abgestützt, so als wolle er seinen Oberkörper davor bewahren, das man seine Ermüdung nicht ansähe.

Regen prasselt nieder und ich stelle mich unter das Vordach. Ein kurzes Nicken, ein Schweigen in die Stille hinein. Der Geruch von feuchter Erde, von nassem Gras und nächtlicher Frische steigt auf. Kleine Bäche verwandeln sich in flussähnliche Landschaften und reißen den Staub der Straßen mit sich. Die Beine angezogen und die Arme fest um die Knie gewunden , wechselt der Mann sein Ausharren und schaut mit fast befriedigendem Lächeln zu, wie die Erde sintflutartig hinweggeschwemmt wird. Noch einmal atmet er tief durch und beginnt zu sprechen; leise und mit einer ruhigen Stimme . Was mich an diesen unwirtlichen Ort verschlüge und wieso ich nicht wie andere Fremde den Berg hinaufhaste, um ganz und gar im Trockenen zu sein. Noch ehe ich antworten konnte, lachte er kurz auf; ganz und gar im Trockenen! Was für eine Wortspielerei in einem solchen Sommer, wo Berge vom Wasser unterspült werden und mit großen Geröllbrocken ins Tal und leider auch auf die Viadukte der Schienen aufschlagen , es sei wie im Leben, meinte er. Alles stünde felsenfest und dann genügt ein Tropfen, der alles ins Rollen brächte.
Ich höre ihm zu und weiß genau ,wovon er spricht . Es scheint, als spüle der nun fast fadenförmig rinnende Regen etwas von der Fassade des nach außen hin schweigsam wirkenden Mannes herunter und gäbe einen Spalt zu den Zimmern frei, die in seinem Leben bisher verschlossen waren.
Ja, so sagte er dann, er stünde selbst im Regen. Obwohl eine Art Vergeblichkeit in seinen Worten mitzuschwingen schien, klang es so, als wolle er in der die Nähe zu einem Menschen, unter dem Vordach des Hauses, unter dem Regendach, mitten in der Musik der Regentropfen, mehr von sich erzählen.

Ich sage immer noch nichts. Die Menschen hier in diesem Ort sind spröde und sogar oft ziemlich ungehalten. Ich bin mit meiner offenen und ungezwungenen Art nachzufragen oft auf recht kleinbürgerliche Abwehr gestoßen. Im Grunde sind die Dörfler hier sehr schwatzhaft, aber eben ungefragt. Man erzählt hier gern vom neuen Haus oder dem guten Wein, aber auch von Unwesentlichkeiten, wie das Bellen des Nachbars Hund oder das erhöhte Verkehrsaufkommen hinter der Schlucht. Nun bin ich überrascht, das ein Mensch aus diesem Bergdorf aus dieser Verhältnismässigkeit ausbricht und sich mit seinen wenigen Worten ein Brunnen auftut, dessen Tiefe an den fallenden Steinen, oder hier besser am Widerhall seiner Worte zu messen war.

Von welchem Tropfen auf welchen Felsen will er sprechen, dieser Mann, der mit mir in regennasser Einsamkeit sitzt. Ich setze mich auf und will ihm zuhören , denn ich spüre , daß etwas zu bröckeln begann.
 
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