lieber Zerd

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Pit 63

Guest
Den Übergangsbereich zwischen dem einsamen Individuum und der anonymen Masse bildet eben die Kleingruppe, in der sich zwei oder höchstens wenige Individuen zusammentun, ihre Lebenspläne gemeinsam zu verwirklichen, sich auf sich einzulassen, füreinander da zu sein, sich nicht gleichgültig zu sein. Bei diesen polyamourösen oder Kommunenkonzepten sehe ich eben das Problem der Gleichgültigkeit, die allzugerne blumig mit Freiheit und Toleranz bezeichnet wird. In meinen Augen ist das die Kultivierung einer für unsere Zeit leider allzu typischen LMAA-Haltung. Und wenn ihr dann auch noch darauf besteht, das "Liebe" zu nennen, dann kann ich wirklich nur bedauern, dass ihr offensichtlich noch nie von diesem Gefühl heimgesucht worden seid.
Falls Du es noch liest: Ich halte das für eine unnötig polarisierende Betrachtungsweise.
Zunächst einmal glaube ich, dass im realen Alltag die Fähigkeit zur Einsamkeit tendenziell ebenso abgenommen hat, wie die Fähigkeit zur liebevollen Anteilnahme an anderen Menschen in der Gesellschaft. Aktive freie Menschen müssen sich nicht ständig umeinander kümmern. Sie tun es dann, wenn es erforderlich ist. Insofern können die von Dir genannten Kleingruppen auch etwas grösser sein, bevor die gegenseitige Inspiration ins Beliebige abdriftet. Anhaftende egoische Bedürftigkeit und Angst sind jedenfalls keine guten Beziehungsratgeber.

Liebe hat für mich ganz grundsätzlich etwas mit Offenheit und Selbstvergessenheit zu tun. Die Projektion der Liebe auf eine Person ist ankonditionierte Gewohnheit des Ego, das mit einer entsprechenden Selbstbewertung einhergeht, weswegen diese Projektion der Liebe bei Ablehnung oder Abnutzung auch schnell in ihr Gegenteil umschlagen kann.
Die ankonditionierte Beschränkung auf eine Person ist nicht zwangsläufig. Auch die gewohnheitsmässige Bewertung der Sexualität ist nicht zwangsläufig. Auch hier können natürlich die Übergangsphasen von einer in eine andere Betrachtungsweise Probleme verursachen.
Solange Sexualität aber gewohnheitsmässig nur im Rahmen einer Zweierbeziehung positiv bewertet wird, verursacht sie bei den Menschen entsprechend falsche Selbst- und Fremdeinschätzungen. Ich sage dagegen, die Befriedigung von Bedürfnissen, auch wenn sie ausgefeilt und kultiviert ist, ist an sich nie etwas schlechtes- sofern sie nicht zur Sucht wird. Das gilt so auch fürs Essen und Trinken etc.
 

Majnomon

Well-Known Member
Solange Sexualität aber gewohnheitsmässig nur im Rahmen einer Zweierbeziehung positiv bewertet wird, verursacht sie bei den Menschen entsprechend falsche Selbst- und Fremdeinschätzungen. Ich sage dagegen, die Befriedigung von Bedürfnissen, auch wenn sie ausgefeilt und kultiviert ist, ist an sich nie etwas schlechtes- sofern sie nicht zur Sucht wird. Das gilt so auch fürs Essen und Trinken etc.

Schön ausgedrückt... In sexueller Hinsicht bewegen sich die meisten Menschen wahrscheinlich auf dem Niveau des LustMOLCHS, evolutionsbiologisch entsprechend zuzuordnen. Und zwar unabhängig von Monogamie oder Promiskuität.

Wer sich eingehender mit der Geisteshaltung hinter der Polyamorie beschäftigt (und vielleicht auch mal ganz unerwartet in eine konkrete polyamoröse Beziehungskonstellation gerät), könnte bemerken, dass sie ein großes Maß an Achtsamkeit erfordert und einer Kultivierung sowohl der Triebnatur wie auch des emotionalen Seelenhaushalts (Stichwort Eifersucht) bedarf, wenn sie zum Wohle aller Beteiligten "funktionieren" soll. Ich behaupte ja, das sie auf Dauer ohne eine spirituelle Grundausrichtung kaum praktikabel sein dürfte...

Davon sind die meisten klassischen Ehen sicherlich genauso weit entfernt wie der notorische Schürzenjäger.
 

Zerd

Well-Known Member
Zum Weiterlesen für Interessierte zur Unterscheidung von Ethik und Lifestyle:

Schon im Stil, im Auftreten unterscheiden sie sich: die Moral befiehlt, oft herrisch und unnachgiebig; die Lebenskunst rät, zumeist freundlich und zurückhaltend. Die Moral richtet sich an den Allgemeinheitsmenschen, will von dem einzelnen Individuum, dass es sich so verhält, wie sich jeder in vergleichbarer Situation verhalten sollte, paktiert mit seiner Vernunft und seiner Rationalität. Ihre Sache ist die Sache von jedermann, ist die Sache aller, ihr Pathos gründet in der Banalität des Guten. Die Lebenskunst hingegen kümmert sich um den Besonderheitsmenschen, empfiehlt dem einzelnen Individuum, sich seines besonderen Lebens, seiner existentiellen Einmaligkeit bewusst zu sein und aus diesem Wissen heraus sein Leben in Besitz zu nehmen und zu gestalten. In diesem anthropologischen Existentialismus, der trivialen Realität, dass jeder sein eigenes Leben leben muss, ist ihr Pathos begründet.

Aus Kersting, Langbehn: Kritik der Lebenskunst, stw 1815, Frankfurt a.M. 2007, S. 10

Auch sehr interessant ist das Video hinter diesem Link:

http://www.peakprosperity.com/crashcourse/deutsch/kapitel-3-exponentielles-wachstum

Das Video gibt sehr schöne Hinweise darauf, in welcher Zeit wir leben, in welcher Phase die Welt sich gerade befindet, die wir hin und wieder zu retten und zu ernähren versuchen. Und: vor welchen auch ethischen Herausforderungen wir darum stehen.

Wer das immer noch für Schwarzmalerei hält, der braucht sich eigentlich nur umzusehen, wie der Verteilungskampf immer mehr Fahrt aufnimmt, sich die Vermögensverhältnisse selbst innerhalb der reichsten Länder dieser Erde verändern, die Konfliktherde zunehmen, eine Krise die andere jagt, oder wie gerade ein Land am Rand des Wohlstandsgürtels erpresst wird, oder wie Hunderte täglich im Mittelmeer ersaufen, weil sie an den immer höheren Mauern einer Region rütteln, die sich immer stärker abriegeln muss, um ihre heile Welt zu erhalten.

Die ethische Herausforderung sehe ich vor allem darin, dass sich die Menschen vor diesem Hintergrund nicht weiterhin selbst zerfleischen, sondern diese unausweichliche Wende in unserer Geschichte gemeinsam in Angriff nehmen und zu nutzen verstehen. Darum ist mir jede weitere Polarisierung innerhalb der Menschen (etwa zugunsten der Tiere!) oder arrogante Rechthaberei im Sinne von "nur ich weiss, was Menschen (oder Tiere!) wollen und brauchen" zuwider.

Die individuelle Lebensführung ist jedem selbst überlassen, aber eine begründete und der Allgemeinheit richtungsweisende Ethik kommt nicht umhin, die globale Realität sowohl der Menschen als auch ihrer Möglichkeiten und Grenzen zu berücksichtigen.
 

Zerd

Well-Known Member
Du setzt Moral mit Ethik und Lifestyle mit Lebenskunst gleich? Einspruch, Euer Ehren! ;)

Einspruch abgewiesen (Begründung wäre übrigens schön gewesen)

Eine bestimmte einzelne Moral lässt sich mit Ethik nicht gleichsetzen, obwohl auch diese Gegenstand der Ethik wäre. Aber wenn von einer allgemeinen Moral die Rede ist, die paktierend mit Vernunft und Rationalität sich an gebieterisch an die Allgemeinheit wendet und das Gute erörtert (wie hier der Fall ist), dann haben wir es hier durchaus mit Ethik zu tun.

Und auch Lifestyle scheint mir einfach nur das Trendwort für genau die Themenbereiche zu sein, die unter dem Überbegriff Lebenskunst behandelt werden, eben die Gesundheit und den Geschmack betreffende Bereiche der (individuellen) Lebensweise.

Im übrigen geht es mir nicht um Begrifflichkeiten (für Dich ist Liebe schließlich auch etwas ganz anderes als für mich). Solange wir uns über die Inhalte verständigen, kannst Du die Chose nennen wie Du willst.
 

Majnomon

Well-Known Member
Einspruch abgewiesen (Begründung wäre übrigens schön gewesen)

Für mich hängen Lebenskunst und Ethik eng miteinander zusammen, definitiv nicht einfach so aus der Luft gegriffen, sondern vor dem Hintergrund meiner jahrenlangen Auseinandersetzung mit einerseits existentiellen Lebenskrisen und deren Überwindung, andererseits mit Philosophie und Mystik als einem wesentlichen Hilfsmittel dafür. Das in einen Topf mit dem Unwort Lifestyle zu werfen käme mir nie in den Sinn, allenfalls ironisierend.

Moral hingegen, die sich in der Regel eher dogmatisch gibt und nah an der Heuchelei angesiedelt ist, empfinde ich tendentiell als unbotmäßige Einschränkung einer möglichst freien Entfaltung der individuellen und gemeinschaftlichen Lebensführung auf Grundlage von Ethik und Lebenskunst, die natürlich auch Pflichtbewusstsein und Verantwortung beinhaltet.

...

Mit dieser Begriffsannäherung würde ich z.B. die Kennzeichnung der Polyamorie als einen "Lifestyle" scharf zurück- und deren Urheber darauf hinweisen, dass eine solche Einschätzung mehr über seinen begrenzten Verständnishorizont aussagt, als darüber was es eigentlich meint.

Mein diesbezüglicher Verweis auf Charles Fourier als einen zwar gern unter den Teppich des Mainstreams gekehrten, aber sogar von Marx, Engels, Bebel u. A. bewunderten und diese inspirierenden Frühsozialisten, darüber hinaus als "Vater der Soziologie" geltenden Denkers sollte eigentlich genügen, um derartige Fehleinschätzungen zumindest einmal in Frage zu stellen.
 
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