...Na und zumindestens der Ansatz der "Entnormierung" spricht mich auf jeden Fall an ...
Mir geht es da genauso und in diesem Kontext würde ich Polyamourie als individuelle Präferenz nicht ablehnen. Jeder Ansatz einer Entnormierung ist allerdings auch eine Gratwanderung, weil sie immer auch die Gefahr birgt, die alten Normen einfach durch neue zu ersetzen. Und diesen Eindruck habe ich eben, wenn etwa von einem "allgemeinen naturrechtlichen Interesse" in diesem Zusammenhang die Rede ist oder auch wenn wie in den von Dir zitierten Beiträgen mit allgemeinen Besitz- oder Machtverhältnissen argumentiert wird.
Ich schätze die Entnormierung vor allem, weil ich mich als Verfechter des Lebens im Sinne von Vielfalt des Lebens sehe. Allein schon aufgrund der getrenntgeschlechtlichen Reproduktion bringt Leben zwangsweise immer Neues hervor und dieses Neue sollte immer auch die Gelegenheit erhalten, sich zu bewähren. Aber im gesamtgesellschaftlichen öffentlichen Bereich werden dieser Freiheit immer zwangsläufig Grenzen gesetzt sein, da dieser Bereich Aufgaben erfüllen muss, die das Individuum zwar benötigt, aber nicht autark und selbstständig nur für sich leisten kann. Genauso wie das Individuum für sich und seine eigene Stabilität gewisse mit Normen vergleichbare Gewissheiten und Glaubenssätze benötigt, bedarf es auch im öffentlichen Raum gewisser Regeln, die sich dann eben als Normen niederschlagen.
Auch deshalb befürworte ich den möglichst weit gehenden Schutz und Erhalt des Privaten und der Freiheit des Individuums in diesem Bereich. Es ist eine Art Experimentierlabor des Lebens, in dem sich das Neue ausprobieren und bewähren darf und sich dann auch zwangsläufig verbreiten wird, wenn es sich denn bewährt.
Was mich an der Polyamourie stört, ist ihre prinzipielle Affinität zur Beliebigkeit und auch zum Hedonismus. Und in diesem Zusammenhang kann ich darin auch nicht einen Affront gegen herrschende Normen sehen als vielmehr eine Bestätigung der gegenwärtigen Trends. Es mag ja sein, dass in gewissen Kreisen zumindest der Schein gewahrt wird, bei der monogamen Beziehung handle es sich um eine Norm, aber die Wirklichkeit wie sie sich in meinem Umfeld darstellt ist eine ganz andere.
Aus dem Leben hat sich die Kultur des Menschen entwickelt und ich stehe auch zur kulturellen Entwicklung des Menschen. Bevor ich eine Ausprägung einer Kultur zugunsten der weiteren kulturellen Entwicklung verwerfe, versuche ich erst möglichst umfassend seine Entstehung und Verbreitung zu begreifen und die Auswirkungen des nächsten Schritts abzuschätzen. Ich kann mich dabei nicht bequemen, mich auf einen einzigen Erklärungsansatz zu beschränken (sei es nun irgendein Naturrecht, irgendwelche vorkulturellen (tierischen?) Mechanismen im Menschen oder ideologisch-dogmatisch durchtränkte Besitz-, Macht- oder Glaubensverhältnisse usw.), sondern versuche zu begreifen, was die Menschen davon hatten und weshalb es sich entwickeln, verbreiten und erhalten konnte. Der Zeitgeist mit seinem zwanghaften Fortschrittglauben ist mir da einfach zu schnell dabei, irgendetwas Althergebrachtes zu verwerfen und durch irgendeine Mode zu ersetzen; das führt mE zu mehr Degeneration als zu tatsächlichem beständigem kulturellen Fortschritt.