AW: NSU - Morde Presse-Skandal: Schweizer Medien ja, Türkische nein!
Prandtl plädiert, wie derzeit viele andere, sorglos für Schauprozesse. Durch seinen Pathos des Gerechten und das Einflechten völlig anderer, sinnvoller Optionen, wie eines dokumentierenden Mittschnitts jedes Verfahrens, fällt das vielleicht nicht auf.
Nein, das tut er nicht. In diesem Zusammenhang geht es um das limitierte, gerichtsinterne und ein vorheriges Akkreditierungsverfahren legitimiertes Zulassen weiterer Prozessbeobachter in einem Nebensaal, die allein schon aufgrund räumlicher Trennung keinen wahrscheinlich befürchteten unmittelbaren (negativen) Einfluss auf den Prozess ausüben können. Dafür plädiert er.
Die entscheidenden Argumente gegen eine Übertragung sind, dass sie erstens eine Einbahnstraße der Interaktion bilden und es dem Gericht aus der Hand nehmen, die Beschuldigtenrechte gegenüber dem Publikum durchzusetzen.
Aber dafür gibt es doch das GVG, nach dem die Öffentlichkeit in bestimmten, klar definierten Fällen auszuschließen ist bzw auf Antrag eines der Verfahrensbeteiligten ausgeschlossen werden kann. Dann kann das Publikum im Hauptsaal eine Zeitlang an die Luft gesetzt und auch die Übertragung gestoppt werden.
Die Überwachung insbesondere des Aufzeichnungsverbots wäre in den weiteren Sälen allein Justizwachtmeistern anvertraut - die Sanktionierung damit ein Kommunikations- und Wahrnehmungsproblem, das vorhersehbar in eine Verletzung entweder der Beschuldigten- oder der Publikumsrechte mündet.
Die Aufzeichnungsmöglichkeit mit elektronischen Mitteln ist ein gewichtiges Argument - dem Risiko könnte man allerdings durch durch (sowieso stattfindende) strikte Personenkontrollen und ggf. Abgeben oder Hinterlegen entsprechender Geräte bei den Justizwachtmeistern vorbeugen. Es ist doch so: Bild- und Tonaufnahmen dürfen nach Prozessbeginn ohnehin nicht gemacht werden, das wäre in einem 2. Saal nichts anderes. Und wenn man verhindern will, dass beispielsweise per Smartphone mitgeschnitten oder vom Bildschirm abfotografiert wird, müssen die Leute ihre Geräte halt gegen Rückgabeschein vorübergehend außerhalb des Saals deponieren.
Zweitens ist der Eindruck falsch, dass die Öffentlichkeit eines Prozesses beliebig ausgedehnt werden könnte, solange nur nicht aufgezeichnet wird. Das Rechtsstaatsprinzip verlangt, dass die hoheitliche Einwirkung durch den Prozess insgesamt auf den Beschuldigten unterschiedslos und berechenbar ist, und es nicht von nachträglichen Wertungen gegenüber der Tat (derer er als unschuldig gilt) abhängt, ob er ein nach den allgemeinen Maßstäben zu erwartendes Verfahren bekommt, oder in einem "Klassenzimmer der Nation", für das sich Prandtl begeistert, zum Erziehungsobjekt gemacht wird.
Diese nachträglichen Wertungen wirst Du aber immer in irgendeiner Form haben - sei es, weil es vor einem Prozess infolge medialer Berichterstattung bereits zu Vorverurteilungen kommt, sei es, weil die breite Öffentlichkeit unabhängig von der Substanz einer Anklage ohnehin stets geneigt ist, von der tatsächlichen Schuld von Angeklagten auszugehen (die ja erst noch zu beweisen ist), oder sei es, dass selbst bei Freisprüchen immer noch das Wort vom Freispruch 1. oder 2. Klasse durch die Gazetten geistert.
Die Assoziation mit dem "Klassenzimmer der Nation" kam Dir vermutlich durch Prantls argumentativen Rückgriff auf Tonbandmitschnitte beim ersten Auschwitzprozess. Er spricht sich für ein größeres Maß an Öffentlichkeit und Transparenz aus, nicht mehr und nicht weniger: was ich angesichts der Dimension der Taten und den (in vieler Augen ausgesprochen fragwürdigen) Vorgängen und Hintergründen bei den Ermittlern und im Verfassungsschutz für angemessen halte. Schließlich geht es bei diesem Verfahren auch - nicht nur, aber ganz entscheidend auch! - darum, ein vielfach erschüttertes Vertrauen in den Rechtsstaat wiederherzustellen. Der Münchner Prozess böte diese Chance - theoretisch.. Abgesehen davon haben natürlich auch Schulklassen Zutritt zu Gerichtssälen und laufenden Prozessen. Das ist normal. Ob das aus Sicht der Verfahrensbeteiligten tatsächlich wünschenswert ist, steht auf einem anderen Blatt, aber grundsätzlich ist es so.
Das OLG hat durch die Wahl des Akkreditierungsverfahrens ein Ungeschick begangen, das nachträglich kaum zu beheben ist. Es nutzt nichts, dass andere Auswahlverfahren vertretbar und in diesem Prozess vielleicht vorzugswürdig gewesen wären. Da nun bereits eine objektive, vertretbare Auswahl der Öffentlichkeit vorliegt, ist jeder Wechsel auf eine solche Alternative nur mit Argumenten zu begründen, die unter den genannten Aspekten höchst angreifbar sind. (..)
Ungeschick finde ich in diesem Zusammenhang milde ausgedrückt. Sie signalisieren ganz klar, dass sie auf ausländische und fatalerweise auch alle türkischen Prozessbeobachter pfeifen. Abgesehen von zwei niederländischen und einem britischen Medium, die zu den Top 50 auf der Gerichtsliste zählen, bleibt es ein Glücksspiel, wer reinkommt.
Um den Kern der Dinge vielleicht nachvollziehbarer zu machen, stelle man sich mal folgenden fiktiven Gedankengang vor, den kürzlich ein Bekannter äußerte: in der Türkei wurden über Jahre hinweg zehn Deutsche (oder, um im Bild zu bleiben, neun Deutsche und ein Grieche) ermordet. Immer mit der gleichen Waffe. Parallel dazu werden hier und da Kirchen und Kulturzentren angesteckt, Zugewanderte drangsaliert und ausländerfeindliche Demos initiiert. Die türkische Polizei geht dennoch nicht von einem ausländerfeindlichen Motiv aus: Die Deutschen seien irgendwie selbst schuld, es könnten nur Konflikte untereinander gewesen sein. Jahre später stellt sich heraus, dass die Morde nicht nur von nationalistisch verblendeten Extremisten begangen wurde, sondern diese sogar Kontakte zum türkischen Geheimdienst unterhielten, von diesem möglicherweise Geld bekamen und überwacht, aber erstaunlicherweise nicht festgenommen wurden. Als das öffentlich wird und das Parlament in Ankara die Vorgänge untersuchen will, werden Bestandteile der Akten kurzerhand vom türkischen Geheimdienst geschreddert. Die mutmaßlichen Täter landen später vor Gericht. Wäre es unter solchen Umständen nicht erstaunlich, wenn der deutsche Botschafter und eine kleine Schar deutscher Medienvertreter
nicht darauf dringen würden, das Verfahren aus erster Hand verfolgen zu können? Wäre es nicht ein Gebot des Respekts, ihnen das zu ermöglichen?