Türchen 23
Liebe Mama, lieber Papa,
seit ich im Internat bin, war ich, was das Briefeschreiben angeht, sehr nachlässig. Ich will euch
nun auf den neuesten Stand bringen, aber bevor ihr anfangt zu lesen, nehmt euch bitte einen
Stuhl. Ihr lest nicht weiter, bevor ihr euch gesetzt habt! Okay?
Also, es geht mir inzwischen wieder einigermassen.
Der Schädelbruch und die Gehirnerschütterung, die ich mir zugezogen hatte,
als ich aus dem Fenster des Wohnheims gesprungen bin,
nachdem dort kurz nach meiner Ankunft ein Feuer ausgebrochen war, sind ziemlich ausgeheilt.
Ich war nur zwei Wochen im Krankenhaus und kann schon fast wieder normal sehen.
Glücklicherweise hat der Tankwart einer Tankstelle das Feuer im Wohnheim und meinen Sprung
aus dem Fenster gesehen und die Feuerwehr und den Krankenwagen gerufen. Er hat mich auch im Krankenhaus besucht – und da das Wohnheim abgebrannt war, und ich nicht wusste, wo ich
unterkommen sollte, hat er mir netterweise angeboten, bei ihm zu wohnen.
Eigentlich ist es nur ein Zimmer im ersten Stock, aber es ist doch recht gemütlich.
Er ist ein sehr netter Junge und wir lieben uns sehr und haben vor, zu heiraten. Wir wissen noch
nicht genau wann, aber es soll schnell gehen, damit man nicht sieht, dass ich schwanger bin.
Ja, Mama und Papa, ich bin schwanger. Ich weiss, wie sehr ihr euch freut, bald Grosseltern zu sein
und ich weiss, ihr werdet das Baby gern haben und ihm die gleiche Liebe, Zuneigung und Für-
sorge zukommen lassen, die ihr mir als Kind gegeben habt.
Ich weiss, ihr werdet ihn mit offenen Armen in unserer Familie aufnehmen. Er ist nett, wenn
schulisch auch nicht besonders gebildet. Auch wenn er eine andere Hautfarbe und Religion hat als wir, wird euch das sicherlich nicht stören.
Jetzt, da ich euch das Neueste mitgeteilt habe, möchte ich euch sagen, dass es im Wohnheim
nicht gebrannt hat, ich keine Gehirnerschütterung oder Schädelbruch hatte, ich nicht im Krankenhaus war, nicht schwanger bin, nicht verlobt, und auch keinen Freund habe.
Allerdings bekomme ich eine Sechs in Geschichte und eine
Fünf in Chemie, und ich möchte, dass ihr diese Noten in der richtigen Relation seht!
Eure Tochter Johanna
aus „der andere Advent“ Verein Andere Zeiten eV