Türkei nach dem Referendum

alteglucke

Moderator
Bis zum Ausbruch des Krieges ist das genuin Verbrecherische, das zutiefst menschenfeindliche Wesen des Nationalsozialismus nicht in Erscheinung getreten. Bis 1939 schien der Hitler-Faschismus nur das: ein weiterer Faschismus. War nicht absehbar, wozu z.B. die Nürnberger Rassengesetze einmal dienen sollten –

Die ersten Konzentrationslager wurden 1933 eingerichtet. Und meines Wissens gab es lange vor dem Zweiten Weltkrieg, sogar schon vor der Machtergreifung, überall auf der Welt Menschen, die vor den Folgen des deutschen Faschismus gewarnt und am Ende Recht behalten haben. Es wäre vor dem Krieg nichts abzusehen gewesen, halte ich deshalb für eine sehr gewagte These. Im Grunde war es genau wie heute: Es wurde Appeasement-Politik betrieben in der Hoffnung, dadurch schlimmeres zu verhindern, in Wahrheit wurde dadurch schlimmeres aber erst ermöglicht.

Aber bis zur Diktatur war ein langer Weg. Bei der „Machtergreifung“ hatte Hitler keine Mehrheit.

Und ich Dummerchen hatte bisher immer gedacht, Diktaturen zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich die Macht nehmen, die ihnen die Mehrheit nicht geben will.

Es wird nicht so enden wie bei uns. Erdogan ist kein Völkermörder, er wird nicht die „Endlösung der Kurdenfrage“ betreiben. .... Er wird auch keinen großen Krieg anzetteln; ich denke, nicht mal gegen Griechenland. Was nicht ausschließt, daß er in Syrien bomben läßt, vielleicht auch einmarschieren.

Woher willst du das alles wissen? Ich finde, auch hier sind die Parallelen nicht zu übersehen. Genau wie Hitler wird Erdogan früher oder später irgendwas tun müssen, damit ihm das Platzen der Wohlstandblase nicht um die Ohren fliegt. Den äußeren Feind beschwört er ja jetzt schon, wo es nur geht. Das türkische Militär ist gut ausgerüstet und gut ausgebildet. Ich bin mir sicher, nach den ersten abschreckenden Urteilen gegen inhaftierte Militärs wird er schauen, wer von den verbliebenen auf Linie zu bringen ist. Krieg halte ich sogar für sehr wahrscheinlich.
 

Doris

Well-Known Member
David B.s Reise führte ihn über Polen in die Türkei und sollte weiter nach Israel gehen. Doch bevor er von der Türkei aus übersetzen konnte, hat ihn offenbar die Polizei aufgegriffen. Der Fall ist mysteriös.

https://www.welt.de/politik/ausland...enbar-seit-Monaten-in-Tuerkei-inhaftiert.html

David B sitzt im Abschiebelager in Erzurum, er gab wochenlang keinen Kontakt zu ihm und es ist unklar, was ihm konkret vorgeworfen wird und warum er inhaftiert ist.

Was ist das für ein Staat, der so mit Menschen umgeht?
 

Alubehütet

Well-Known Member
Die ersten Konzentrationslager wurden 1933 eingerichtet.
Vernichtungslager sind Konzentrationslager, aber nicht jedes Konzentrationslager ist schon ein Vernichtungslager = Industrielle Fabrikation von Leichen. Konzentrationslager hat es lange vor den Nazis gegeben und gibt es bis heute; das prominenteste ist derzeit Guantanamo. Also, wie schon bei den Nürnberger Rassegesetzen: Wir heute müssen die Linie von Dachau bis Auschwitz ziehen; Dachau war die Vorbereitung von Auschwitz. Das hat damals aber niemand sehen müssen.
Und meines Wissens gab es lange vor dem Zweiten Weltkrieg, sogar schon vor der Machtergreifung, überall auf der Welt Menschen, die vor den Folgen des deutschen Faschismus gewarnt und am Ende Recht behalten haben.
„Hitler bedeutet Krieg“, ja, das haben damals viele gesehen. Für Georg Elser war das so evident, daß er Hitler 1938 im Feldherrnbräu hat umbringen wollen. Der Kaiser von Äthiopien hat nach der Besetzung seines Landes durch das faschistische Italien vor dem Völkerbund gesprochen: Wenn Ihr denen das jetzt durchgehen laßt, dann werden sie sich das nächste holen, und wieder das nächste, und immer ein bißchen mehr, und wenn Ihr dann irgendwann doch eine Grenze setzen und sagen werdet: Das ist jetzt unerträglich, dann werden sie so mächtig sein, daß Ihr einen Krieg führen müßt, gegen den der vergangene harmlos war.

Auschwitz: Der einzige, der meiner Kenntnis nach so etwas vorhergesehen hat, war Sebastian Haffner. Er hat in den späten 20ern Hitler in einer Rede gesehen und war zu dem Schluß gekommen: Das ist ein Mörder. Noch redet er nur. Aber läßt man ihm an die Macht, wird er morden. Charlie Chaplin hat gesagt, mit dem Wissen, das er nach dem Krieg hatte, wäre es ihm unmöglich gewesen, The Great Dictator zu drehen.
Es wäre vor dem Krieg nichts abzusehen gewesen, halte ich deshalb für eine sehr gewagte These.
Nichts abzusehen … ich sage eigentlich nur: Vor dem Krieg war Hitler der bedeutendste, der mächtigste, der gefährlichste, aber wahrnehmbar nur ein weiterer Faschist in Europa. Der einzigartige Zivilisationsbruch, der sich mit dem Namen „Auschwitz“ verbindet, war da noch nicht sichtbar. Insofern kann ich das, was heute in der Türkei vor sich geht, durchaus vergleichen mit dem in Deutschland bis 1939: Wenn man eben Erdogan nicht zum neuen Hitler-Voldemort nach Saddam und Slobodan macht, sondern „nur“ als Faschisten betrachtet.
Im Grunde war es genau wie heute: Es wurde Appeasement-Politik betrieben in der Hoffnung, dadurch schlimmeres zu verhindern, in Wahrheit wurde dadurch schlimmeres aber erst ermöglicht.
Was leider oft erst im Nachhinein klar ist.
Und ich Dummerchen hatte bisher immer gedacht, Diktaturen zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich die Macht nehmen, die ihnen die Mehrheit nicht geben will.
Tja, das sind Militärdiktaturen bzw. Putschisten wie Mussolini. Hindenburg ist 1934 gestorben, daraufhin hat der Reichkanzler Hitler das Amt des Reichkanzlers verbunden mit dem des – sehr mächtigen – Reichspräsidenten, und diese Verfassungsänderung in einem Referendum dem Volk zur Abstimmung vorgelegt:

Die Abstimmungsfrage auf dem Stimmzettel war:

„Das Amt des Reichspräsidenten wird mit dem des Reichskanzlers vereinigt. Infolgedessen gehen die bisherigen Befugnisse des Reichspräsidenten auf den Führer und Reichskanzler Adolf Hitler über. Er bestimmt seinen Stellvertreter. Stimmst Du, Deutscher Mann, und Du, Deutsche Frau, der in diesem Gesetz getroffenen Regelung zu?“[5]

Das offizielle Endergebnis lautete:

Stimmen
Ja 38.394.848 / 89,93 %
Nein 4.300.370 / 10,07 %
ungültig/leer 873.668 –
Summe 43.568.886

Registrierte Wähler/Wahlbeteiligung 45.552.059 / 95,65%​

Ein Diktator war er, aber ein demokratisch gewählter Diktator. Natürlich nicht direkt vergleichbar mit dem Referendum in der Türkei diesen Jahres; die CHP ist, anders als die damalige SPD, noch nicht verboten.
Mach keine Sachen, ich habe das erst einmal vorausgesetzt. :eek:

Erdogan ist Islamist. Ich glaube nicht, daß er was gegen Kurden hätte, wenn sie fromme Sunniten wären und brav AKP wählten. Was viele in der Vergangenheit ja sogar durchaus getan haben, weil sie sich dem patriarchal-despotischem Barzani näher fühlen als der regionalsozialistischen PKK.
Ich finde, auch hier sind die Parallelen nicht zu übersehen. Genau wie Hitler wird Erdogan früher oder später irgendwas tun müssen, damit ihm das Platzen der Wohlstandblase nicht um die Ohren fliegt. Den äußeren Feind beschwört er ja jetzt schon, wo es nur geht.
Die Parallele sehe ich allerdings. Und sie hat Deutschland zwangsläufig in den Krieg geführt. Genau so, wie die NSDAP 1934 pleite gewesen wäre, wäre sie nicht an die Macht gekommen, so wäre das völlig überschuldete Deutschland 1940 oder so zahlungsunfähig gewesen. Hitler war das von Anbeginn klar; ist es das auch Erdogan? :confused:
Das türkische Militär ist gut ausgerüstet und gut ausgebildet.
Und da sehe ich einen entscheidenden Unterschied. Der Röhm-„Putsch“ hat die Reichswehr rundum gestärkt, und Hitlers Status in ihr. Gingen doch etwa die Strassers sogar so weit, die Abschaffung der Reichswehr zu fordern (eine alte Idee Lenins, hatte er aus der Schweiz mitgebracht). Durch die Willkür der Verhaftungen und Suspendierungen hat Erdogan ein völlig verunsichertes Militär und eine ebensolche Polizei geschaffen. Jeder kann der nächste sein. Niemand weiß mehr, woran er ist. Hochrangige qualifizierte Leute sind raus; Menschen sind auf ihren Posten nicht wegen ihrer Qualifikation, sondern wegen ihrer politischen Zuverlässigkeit. Was wiederum das Vertrauen ihrer Untergebenen in sie schmälert, ihre natürliche Autorität. Was sie wiederum verunsichert und zu gewaltsamerem Durchsetzen ihrer eingesetzten Autorität führt. Ich bezweifle, daß die Polizei eine neuerliche Gezi-Park-Bewegung noch einmal so entschlossen niederkartäschen würde. Die Tradition und der Stolz des Militärs als Hüterin und Bewahrerin des Kemalismus ist gebrochen; ihnen eine neue osmanische Eroberermentalität als Identität zu verpassen, wie es Erdogan in diesen Tagen in vielen Reden unternimmt, wird mehr als eine Generation dauern. Zahlenmäßig ist die türkische Armee gigantisch; moralisch ist sie für längere Zeit nicht in der Größe einsetzbar.

Der zweite Weltkrieg war möglich, weil die Identität der Wehrmacht durch Hitler ungebrochen war. Im Gegenteil, man zog an einem Strang: Rache, Revanche für die Niederlage im ersten Weltkrieg, der angeblich nur von Juden und Marxisten verursacht war („im Felde unbesiegt!“). Erdogan hat mit der Identität des Heeres, dem Kemalismus, brechen müssen. Von der Leyen erlebt gerade in diesen Tagen wieder, wie schwer und langwierig so etwas ist.
Ich bin mir sicher, nach den ersten abschreckenden Urteilen gegen inhaftierte Militärs wird er schauen, wer von den verbliebenen auf Linie zu bringen ist. Krieg halte ich sogar für sehr wahrscheinlich.
Militärisch mitmischen in Syrien, ja. Berg-Karabach-Konflikt. Wo Putin ihn in Grenzen halten wird. Aber sonst? Krieg gegen Griechenland – gegen die NATO? Für Katar – gegen Saudi-Arabien?
 
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Alubehütet

Well-Known Member
Im Grunde war es genau wie heute: Es wurde Appeasement-Politik betrieben in der Hoffnung, dadurch schlimmeres zu verhindern, in Wahrheit wurde dadurch schlimmeres aber erst ermöglicht.
Ich überlege, ob es nicht auch Beispiele gibt für eine gelungene Appeasement-Politik. Der ägyptisch-israelische Frieden will mir einfallen. Man hat Ägypten einen Haufen Zugeständnisse gemacht: Land, Öl, und dafür Frieden bekommen.
 

Alubehütet

Well-Known Member
https://www.welt.de/politik/ausland...enbar-seit-Monaten-in-Tuerkei-inhaftiert.html

David B sitzt im Abschiebelager in Erzurum, er gab wochenlang keinen Kontakt zu ihm und es ist unklar, was ihm konkret vorgeworfen wird und warum er inhaftiert ist.

Was ist das für ein Staat, der so mit Menschen umgeht?
Da wissen wir noch zu wenig. Seine „Pilgerreise“ scheint ja durchaus auch eine politische gewesen zu sein, Solidarisierung mit Minderheiten, darunter Kurden. Womöglich hat er militärisches Sperrgebiet betreten, vielleicht auch nicht. Aber Danke für den Hinweis. :)
 

Doris

Well-Known Member
Da wissen wir noch zu wenig. Seine „Pilgerreise“ scheint ja durchaus auch eine politische gewesen zu sein, Solidarisierung mit Minderheiten, darunter Kurden. Womöglich hat er militärisches Sperrgebiet betreten, vielleicht auch nicht. Aber Danke für den Hinweis. :)

Wie hoch wohl die Dunkelziffer der inhaftierten Deutschen sein mag? Ich schätze mal, dass die Regierung um jeden Fall dankbar ist, der nicht ans Tageslich kommt, um noch vor den Wahlen handeln zu müssen.
 

Alubehütet

Well-Known Member
Wie hoch wohl die Dunkelziffer der inhaftierten Deutschen sein mag? Ich schätze mal, dass die Regierung um jeden Fall dankbar ist, der nicht ans Tageslich kommt, um noch vor den Wahlen handeln zu müssen.
Ich habe nicht den Eindruck, daß die Regierung faul ist, habe von niemandem da was gehört. Bei dem in Spanien verhafteten Akhanli jedenfalls scheint sie einen guten Job gemacht zu haben.
 

Alubehütet

Well-Known Member
Ich finde, auch hier sind die Parallelen nicht zu übersehen. Genau wie Hitler wird Erdogan früher oder später irgendwas tun müssen, damit ihm das Platzen der Wohlstandblase nicht um die Ohren fliegt.
Hitler ist der Krieg ja nicht bloß als Vorwand eingefallen, damit seine Wohlstandsblase nicht platzt. Hitler ist einer von vielen von Grund auf durch den Krieg Verstörten, die nie aufgehört haben, den Krieg weiterzuführen. Da gibt es viele, die noch Jahre später in irgendwelchen faschistischen Freikorps, Landsertruppen quer durch Europa marodieren. (Der bekannteste ist wohl Albert Leo Schlageter.) Hitler wollte den Weltkrieg siegreich zuende führen und Rache nehmen.

Bei Erdogan sehe ich den Straßenjungen, der sich mit anderen Straßenjungen verbündet, um weiter nach oben zu kommen, um sich mit neuen Straßenjungen gegen die alten Kumpels zu verbünden, bis er ganz oben ist. Daher auch diese ganzen Macho-Attitüden, Anmachen. Irgendwann ist ihm dann der Islamismus als Vehikel über den Weg gekommen, das ihn weiterbringt, alleine schon bildungsmäßig. Wobei ich ihn für schlauer halte, als er sich gibt; Boris Johnson hat er bis heute nicht angefurzt („wankara from Ankara“). Letztlich denke ich, ist sein Motiv nur: Der Größte zu sein, um der Größte zu sein.
 
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