Was denkt Ihr gerade? (38)

Zerd

Well-Known Member
Ich denke gerade, dass es viel Geist braucht, um dem Ungeist Paroli zu bieten.
Profis gegen den Mob.
Ganz ähnlich äußert sich die gute Frau Ataman in ihrem jüngsten Artikel. Sie schreibt dort, die Mutter aller Probleme sei das Demokratiedefizit, wobei ich ihr noch bis auf die Ausdrucksweise gut folgen kann, um dann plötzlich ohne jede Vorbereitung und Hinführung dieses Ei zu legen: die einzige Lösung sei Bildung, was bei mir dann eher zu einer kognitiven Dissonanz führt.

Denn womit messen wir denn „Bildung“: die Dauer des Schulbesuchs, die Anzahl höherwertiger Abschlüsse, der Anteil an Studierenden eines Jahrgangs. Das alles deutet aber an, dass die Bildung innerhalb unserer Gesellschaft immer mehr zunimmt und offensichtlich dennoch nicht das Demokratiedefizit, das übrigens zuletzt im gleichem Maße abgenommen hat wie die Bildung zugenommen hat, nicht verhindern konnte. Demzufolge müsste Bildung eher Teil des Problems denn als seine Lösung sein.

Nun sprichst Du ja von „Geist“, der bekanntlich etwas weiter gefasst werden darf als reine Bildung, reine Intelligenz oder auch bloße wirtschaftliche Erfolge. Aber dass Du dann doch wieder auf „Profis“ zu sprechen kommst, die sich dem Problem annehmen sollten, deutet darauf hin, dass Deine Vorstellung vom Geist sich doch nicht so sehr unterscheidet von Frau Atamans Heilbringer „Bildung“.

Aber auch hier denke ich, dass unsere Angewohnheit, gesellschaftliche Aufgaben in immer kleinere Problembereiche zu unterteilen (sie darauf zu reduzieren) und diese dann sogenannten Experten zu überlassen, die in diese Teilbereiche so tief eintauchen, dass sie selbst den Blickkontakt zum Tellerrand verlieren, geschweige denn, noch über ihn drübersehen könnten, eher ein Teil des Problems ist als ein Teil seiner Lösung. („…dann hast Du die Teile in Deiner Hand – fehlt nur noch das geistige Band!“)

Zur Audrucksweise: inzwischen sollten wir nun wirklich dahinter gekommen sein, wie sehr Sprechen und Denken bzw Sprache und Gedanken zusammenhängen. Wenn unser Innenminister von der „Mutter aller Probleme“ redet, dann hat dieser Spruch nur einen einzigen gültigen Aussagewert, nämlich wie einfach und beschränkt das Weltbild unseres Innenministers ist. Er glaubt scheinbar tatsächlich noch daran oder wünscht es sich zumindest, dass es für alle Probleme nur eine einzige Ursache gibt und mit deren Lösung wir uns quasi auf einen Schlag aller übrigen Probleme entledigen können.

Wer diese Sprache übernimmt, übernimmt damit auch gleichzeitig und fast zwangsläufig dieses einfache Weltbild. Nur so ist es wohl zu erklären, dass Frau Ataman auf die Mutter aller Probleme auch gleich die Mutter aller Lösungen anbietet. Dabei ist diese Denkweise schon zutiefst undemokratisch und Grundlage jeder fundamentalistischen menschenverachtenden Ideologie.

Denn was zeichnet denn die Demokratie aus, wofür brauchen wir denn Gewaltenteilung, immer wiederkehrende Wahlen, Meinungsfreiheit und Schutz von Minderheiten? Wenn die Welt so einfach ist, dann lasst uns doch gleich einen Experten oder ein Expertenteam an die Spitze jedes Landes oder gleich am besten der ganzen Welt setzen, das sich dann unablässig und ohne lästige Wahlen alle vier bis sechs Jahren und ohne störende abweichenden Meinungen sich ausschließlich nur diesem einen Problem und ihrer Lösung widmet.

Demokratiedefizit ist auch in meinen Augen ein wichtiger Punkt, aber auch für das Demokratiedefizit gilt, dass sie nicht nur eine oder wenige einfache Ursachen hat, durch deren Behebung die ganze Entwicklung rückgängig gemacht werden könnte, sondern jeder Einzelne, der Teil dieser Gesellschaft ist und in mehr oder minder großem Ausmaß seine Entwicklung gestaltet, ist Teil dieses Problems.

Ich denke nicht, dass wir ein Bildungsdefizit haben, wir wissen doch genug. Jeder nur mittelmäßig gebildete Mensch weiß doch, wie sich solche Aussagen wie das Entsorgungsstatement Gaulands oder eben auch die jüngsten Aussagen von Seehofer oder Maaßen gesellschaftlich auswirken, dass sie Hass und Polarisierung fördern und Menschen wie die mutigen Ausländerjäger in Chemnitz und die zahlreichen Flüchtlingsheim-in-Brand-stecker in ihren Taten ermutigen und bestärken, wenn auch nur durch Relativierung. Und jeder weiß auch, dass es in unserem Strafrecht einen Volksverhetzungsparagraphen gibt, der den Aufruf zu Hass und Gewalt unter Strafe stellt. Wir wissen also genug und haben die rechtlichen Mittel, diese Menschen einzuschränken oder zu bestrafen. Aber wir tun es nicht.

Das beruht nicht auf mangelndem Wissen, sondern auf einem gesellschaftlichen Konsens, der sich aus unser aller Überzeugungen, Handlungen, Präferenzen, Lebensweisen usw. zusammensetzt und ergibt. Wenn man sich die Entwicklung dieses gesellschaftlichen Konsenses in den letzten sagen wir drei bis vier Jahrzehnten ansieht, dann passt doch alles wunderbar zusammen und ergibt ein logisch schlüssiges vollständiges Bild. Wir haben durch die wirtschaftliche Entwicklung mehrheitlich über Jahrzehnte einen bescheidenen Besitz und Wohlstand angehäuft, ein starkes Gefühl für Besitzstandwahrung entwickelt, sind dabei immer individueller und eigensinniger geworden, haben dementsprechend mehrheitlich Politiker und Parteien gewählt, die uns einfache Lösungen serviert haben, die Wahrung unseres Besitzstandes und weitere Vorteile versprachen, haben dabei der Legende geglaubt, dass es allen besser gehen wird, wenn es nur den großen Unternehmen und Vermögenden besonders gut geht, haben dabei in Kauf genommen, dass zBsp den Ärmsten und Benachteiligten in der Gesellschaft immer mehr Rechte und Leistungen entzogen wurden, Druck auf sie ausgeübt wurde, und nun gehen wir eben ebenso gleichgültig damit um, wenn es die Flüchtlinge trifft, wobei die islamischen Ausländer ja schon seit spätestens 9-11 unter besonderer Behandlung stehen.

So ungefähr hat sich der gegenwärtige gesellschaftliche Konsens im Laufe der Jahrzehnte entwickelt, wobei da sicherlich noch zahlreiche andere Faktoren genannt werden können wie die Globalisierung, der Mauerfall, der Niedergang des Ostblocks, die veränderte Zielsetzung von Bildung usw. Entscheidend ist, dass es sich um einen trägen jahrzehntelangen komplexen Gesamtprozess handelt, der sich eben nicht durch ein zwei grundlegende Entscheidungen innerhalb kurzer Zeit abändern oder gar umkehren lässt. Im Gegenteil, diese Denkweise führt den eigentlichen Prozess nur weiter, ganz gleich, gegen wen oder was sie sich richtet oder was sie im Einzelnen propagiert.

Ich weiß: alles, was sich nicht in 160 Zeichen ausdrücken lässt, klingt wenig glaubwürdig. Auch das ist Teil des Konsenses, dem ich mich mit diesem Beitrag ganz bewusst entgegenstelle…
 
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