lieber Zerd

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mar

Guest
AW: lieber Zerd

hallo liebe Anouk, Du bist also wieder da! ich sehe, das der Urlaub Dir einen kleinen Energie-Schub verpasst hat - ist der Sand , der Dir vielleicht im Urlaubskoffe entgegenrieselte schon vermischt mit dem Sand der Ost-oder Nordsee ; es klang so an- wenn Du vom Hafen sprichst , das Du beheimatet bist am Meer und Du das schöne plauderige Wellengeflüster vielleicht des öfteren hörst - daurum beneide ich Dich, denn ich liebe das Meer ( siehe meinen Namen : MAR ! ) Natürlich nehme ich mir auch die Ruhe und Zeit, wieder begierig das Philosophische im Forum anzuklicken, auch wenn der Sommer ( soweit man diesen so nennen kann) mich mehr nach draußen lockt und ich solchen Festen, wie Du sie schilderst, in Neukölln gar nicht ausweichen kann, zumal seit 3 Tagen der Karneval der Kulturen durch Kreuzberg tobt ( vielleicht eher schwimmt, der vielen Pfützen wegen) und in 2 Wochen die 48 Stunden Neukölln stattfindet, eine gesamtstadtteilorientierte Kunstperformance, an der ich dieses Jahr leider nicht teilnehmen kann wegen der Zeit...
Soweit der kleine Ausflug nach Berlin...und hin zum Ausflug in unsere Gespräche:

Ich denke , das die "männliche und weibliche Klassifizierung " der Menschen immer erst dann zum Tragen kommen im Alltag, wenn dem einen oder dem anderen Part die Argumente ausgehen. Natürlich sagt man so dahin : typisch Frau, typisch Mann. Und warum können wir das so bestimmt sagen? Weil wir es wissen, weil wir tief innen drin eben , wie Du sagst, beides vereinen. Ich schätze sehr , das Du genau weißt, was ich meine. Eine Frau mit einem geschärften Verstand hat es schwer in dieser so überladenen esoterisch und gleichzeitig rationalen missinterpretierten Welt, sie selbst zu sein... Der Mensch hat einen doppelten Ursprung und dieser Ursprung legt den Kern für unser Wesen. Das Hineindenken eines anderen Kernes von seiten der Gesellschaft, sowohl in die Frauen und in die Männer ist das eigentliche Drama dieses Klassifizierens. Wir sollen in dieser Welt , in diesem Zeitalter nur reibungslos funktionieren, und so geht man möglicherweise den " Reibungen" aus dem Weg. Der Alltag zeigt es auf Arbeit, im Kaufhaus, auf der Strasse im Umgang mit dem Partner, beim Sprechen miteinander, das sofort wenn eine Reibung entsteht ( sei es Gespräch, Probleme etc. ) der bequeme Mittelweg gewählt wird, den des Zustimmens oder der Klassifizierung: ist eben halt ‚nen Mann oder ‚ne Frau ) . Und genau das , so spreche ich aus Erfahrung macht es mir manchmal wirklich schwer , ich selbst zu sein. Wir werden im Alltag oder gar im Leben mit dem Partner auf ein rational erkennbares und organisierbares Lebewesen reduziert, und von diesem reibungslosen Funktionieren muß nun dessen Lebensqualität ab, sowohl die innere und auch die äußere...Subtil und vielleicht auch manchmal gar nicht gewollt, werden wir meßbar, rational erkennbar , quantitativ einschätzbar als Funktionär des Lebens.
Wir werden, so schätze ich, dadurch " entpersönlicht" , und zur Folge hat, daß das Gegenüber die tiefe Person im Gesprächspartner, im Lebenspartner, im Arbeitskollegen ... nicht mehr wahrnehmen kann. Die "tiefe" Person wird einfach ausgeschaltet und sichtbar bleibt für andere, was sichtbar ist. Das ist eine so grobe Verfehlung des menschlichen Geistes, der zu Folge hat, das wir uns der Vereinfachung von Strukturen bedienen, und eine Überbetonung auf weibliches und männliches Potential legen- und sich seiner eigenen Erkennung als Gesamtwesen beraubt. Die individuelle Freiheit sich so zu entwickeln , ein Ganzes zu werden, ist , so empfinde ich dies in der heutigen Zeit auf einem Punkt angelangt, der oberflächlicher nicht sein kann. Es ist nicht leicht, dieser vielleicht gerade eben in einem Gespräch mit dem Freunde eingeflossenen Klassifizierung als " typisch Frau " zu entfliehen, weil ich nicht unterscheiden mag zwischen den Geschlechtern, wenn es um das Ganze und das Sein geht. Folgerichtig regt sich dann in mir der Wunsch der Darstellung meiner Sicht der Dinge und der innewohnenden Ganzheit, meinen Gesprächspartner behutsam auf sein ganzes Potential hinzuweisen, welches ja auch ER hat- mit zwei Erkenntnissen als Ergebnis: herrscht die Ratio vor bei meinem Gegenüber, erfreut man sich meiner analytischen " männlichen" Denkweise und lässt sich möglicher weise auf ein Gespräch ein... herrscht ein Wirklichkeitsbewusstsein vor, geschieht mitunter, das der Gesprächspartner verwirrt und irritiert zu sein scheint. Das ist mir so oft passiert- und so kommt es, daß ich für mich eine Erkenntnis als Erklärung zurechtlegen musste- nämlich das die Reife des Menschen, seine Mündigkeit in dieser Welt und seine wahre Freiheit ihm erst seine individuelle Erkennung möglich machen- ich meine jene individuelle Erkennung, die uns nicht als egoistisches, selbstsüchtiges und in sich verhaftetes Wesen entgegen tritt, sondern als Person , die sich seines erkannten und für ihn gültigen Wesens in der Welt schöpferischen Ich‘ s bedienen kann und der anderen Person die Freiheit seiner Selbstfindung zugesteht.
Natürlich lebt der Alltag nicht davon, das man sich ständig und wiederholt eine philosophische Erklärung dessen vorbetet, was mir den Umgang mit MÄNNERN und FRAUEN erleichtern würde - aber ich treffe durch dieses Wissen, das Jeder seine eigene Zeit zur Erkenntnis des Ganzen hat, immer häufiger auf MENSCHEN... Also habe ich selbst auch eine Möglichkeit mein Wirken in dieser Gesellschaft einzubringen, nämlich meine Freiheit sichtbar nach draußen zu tragen und dem Mann oder der Frau die Entscheidung zum Menschsein zu dessen eigener Zeit offen zu lassen, ihn also so sein zu lassen und ihm all seine Erfahrungen , Hoffnungen, Sehnsüchte ...leben zu lassen, die er selbst nötig hat, um er selbst sein zu können.
So- nun ruft der Tag. Liebe Anouk, der Sonntag der mich der Neugier wegen aus dem Haus lockt- verpackt und verschnürt im Regenmantel und über Pfützen springend..l.G. Mar
 
A

Anouk

Guest
AW: lieber Zerd

Liebe Mar (und natürlich mitgedacht: lieber Zerd),

dass männlich-weibliche Stereotypen gern bemüht werden, wenn - wie du schreibst - der anderen Seite die Argumente ausgehen, trifft sicherlich zu. Aber nur für die Gegenwart. Und um diese plumpe Geschlechterk(r)ampf-Keule zu schwingen, bedarf es schon extrem verhärteter Fronten; mir persönlich rollen sich dabei bloß die Zehennägel hoch. Nichts gegen ein wenig Ironie, Sarkasmus und Koketterie, im passenden Moment würzt das jede Debatte; aber das streng humorfreie Durchdeklinieren sämtlicher Unterschiede zwischen Männlein und Weiblein (was ja häufig nur Machtspielchen und/oder ein diffuses Minderwertigskeitsdenken signalisiert) ist für meine Begriffe kolossal unerotisch. Langweilig hoch zehn. Also sollten wir das Terrain vielleicht besser leichtfüßig verlassen und zur Kernfrage zurückkehren: Wo die Einteilung der Welt in weiblich und männlich denn nun wirklich herkommt...

Zerd, ich gebe zu, bei meinen frühmorgendlichen oder, je nachdem, spätabendlichen Strandspaziergängen habe ich auf dieser Frage tatsächlich herumgedacht. Und immer wieder gegrinst. Was mir gestern nacht einfiel, verzeih, war nur ein Bruchteil dessen, was mir durch den Kopf ging. Die Oberfläche, sozusagen, die Begleitmusik - und ein insgesamt reichlich randständiger Aspekt. Denn schon in der antiken Mythologie, bei Platon, findet sich ja das berühmte Gleichnis vom kugelrunden Menschen: dem sogenannten "dritten Geschlecht", das ursprünglich (ich hab extra nochmal bei Reclam nachgeschlagen!) zwei Gesichter, vier Arme und vier Beine hatte, vier Ohren, aber nur einen Kopf.

Wenn dieser kugelrunde Mensch laut Platon "schnell laufen wollte, so bewegte er sich, so wie die Radschlagenden die Beine nach oben herumwerfend einen Kreis beschreiben, von seinen acht Gliedmaßen getragen schnell im Kreise davon." Tolle Schilderung, nicht wahr? Aber es kommt noch besser: "Die Zahl und Beschaffenheit dieser drei Geschlechter kam daher, daß das Männliche ursprünglich von der Sonne stammte, das Weibliche von der Erde, das Gemischte vom Monde, weil ja der Mond an beiden teilhat."

Leider nahm es ein böses Ende mit diesen scheinbar vollkommenen und sehr übermütigen Wesen: Weil sie den Himmel ersteigen und die Götter angreifen wollten, ließ Zeus sie kurzerhand alle zerteilen.

"Und immer, wenn er einen zerschnitten hatte, hieß er Apollon, ihm das Gesicht und den halben Hals nach der Schnittfläche herumzudrehen, damit der Mensch, seine Zerschneidung betrachtend, bescheidener würde [...]
Daher ist jeder von uns das Gegenstück eines Menschen, weil wir wie die Schollen aus einem in zweie geschnitten wurden. Und ewig sucht jeder sein Gegenstück."


So viel aus der Erzählung des Aristophanes in Platons "Gastmahl". Ein, wie ich finde, wunderschönes Gleichnis, in dem Eros als "Begierde und Jagd nach der Ganzheit" charakterisiert wird. Wohlgemerkt: Eros, nicht Agape! - dahinter stehen doch wohl sehr unterschiedliche Konzepte (falls ich es richtig begriffen habe). Das wäre wieder ein anderes Thema.

Aber ist es nicht geradezu umwerfend, wie sich diese jahrtausendealten Vorstellungen aus der Antike praktisch bis ins 20. Jahrhundert hinein gehalten haben und in zahllosen Varianten immer wieder aufgegriffen wurden und werden? Ich finde das wirklich phänomenal! Auch das Konzept des Freud-Schülers Carl Gustav Jung fußt ja auf der Idee archetypischer Bilder: Und seinen psychoanalytischen Ansatz, Heilung durch den Ausgleich von (männlichem) Animus und (weiblicher) Anima und die weitestgehende Integration unbewusster Schatten herzustellen, finde ich vor diesem Hintergrund hochgradig spannend. (Hier schnell ein Link dazu: http://de.wikipedia.org/wiki/Animus_und_Anima)
Im Grunde spiegelt sich darin - oder sehe ich das falsch? - ein Menschenbild, das schon den alten Griechen geläufig war. Siehe oben. Alter Wein in neuen Schläuchen, möchte man sagen - ...

Soviel zu meinem vor längerem angekündigten "Jein", lieber Zerd! Und sicher gibt es noch weitere Beispiele, die mir irgendwann peu á peu wieder einfallen. Oder Dir. Oder Mar. Oder wem auch immer, der oder die sich hoffentlich noch animiert fühlen mag, unser plauderndes Trio zum Quartett (oder Sept- oder Oktett) zu erweitern...

Einen schönen Abend wünscht Euch

anouk
 
A

Anouk

Guest
AW: lieber Zerd

Mar!, weißt du, was mir auffällt?

Dass ich an dir vorbeigeschrieben hab heute abend, und das ist ganz und gar unverzeihlich, erklärbar nur mit dem spießigen Drang des Bildungsbürgers, auf einen Schwupps alles loszuwerden, was man mehr oder minder konzentriert bebrütet oder überhaupt aus der Erinnerung wieder ausgegraben hat. In unserem fortgeschrittenen Alter lässt Alzheimer ja schon grüßen... und leise rieselt der Kalk aus den armen Hirnwindungen. Oder aber der Arbeitsspeicher im Kopf müsste dringend erweitert werden! - zumal es mir manchmal so vorkommt, als wenn's sich mit angehäuftem Wissen, sobald etwas Neues dazukommt, wie mit überladenen Bücherregalen verhält: Links stellst du ein Buch dazu und -schwupps!, ganz unbemerkt - purzeln drei andere rechts runter oder verschwinden nach hinten in der Versenkung. Ein Trauerspiel. Kein Wunder, dass einem die besten Ideen, Einfälle, Fakten und Zusammenhänge, regelmäßig dann dämmern, wenn man sie gar nicht brauchen kann, nämlich nicht in Phasen angestrengten Arbeitens sondern: ganz profan unter der Dusche, beim Gemüseschnippeln oder sonstwo. Alles Tätigkeiten, die irgendwo auf Rückenmarksebene ablaufen, beiläufig und automatisch.

Aber jetzt bist DU dran, ganz klar! Und entschuldige, wenn ich nun Hand an deinen Schrieb anlege und diejenigen Passagen zusammenraffe, die mir besonders ins Auge fielen:

Zitat von mar:
Eine Frau mit einem geschärften Verstand hat es schwer in dieser so überladenen esoterisch und gleichzeitig rationalen missinterpretierten Welt, sie selbst zu sein... [...] Die individuelle Freiheit sich so zu entwickeln , ein Ganzes zu werden, ist , so empfinde ich dies in der heutigen Zeit auf einem Punkt angelangt, der oberflächlicher nicht sein kann. Es ist nicht leicht, dieser vielleicht gerade eben in einem Gespräch mit dem Freunde eingeflossenen Klassifizierung als " typisch Frau " zu entfliehen, weil ich nicht unterscheiden mag zwischen den Geschlechtern, wenn es um das Ganze und das Sein geht. Folgerichtig regt sich dann in mir der Wunsch der Darstellung meiner Sicht der Dinge und der innewohnenden Ganzheit, meinen Gesprächspartner behutsam auf sein ganzes Potential hinzuweisen, welches ja auch ER hat- mit zwei Erkenntnissen als Ergebnis: herrscht die Ratio vor bei meinem Gegenüber, erfreut man sich meiner analytischen " männlichen" Denkweise und lässt sich möglicher weise auf ein Gespräch ein... herrscht ein Wirklichkeitsbewusstsein vor, geschieht mitunter, das der Gesprächspartner verwirrt und irritiert zu sein scheint. [...]

Liebe Mar, ich glaube nicht, dass nur Frauen es besonders schwer haben, in dieser Welt sie selbst zu sein: ich glaube, dass inzwischen auch Männer auf eine Weise die A*** karte gezogen haben, die alles andere als beneidenswert ist! Aber das ist ein neues Thema, ein anderes, worüber an anderer Stelle zu reden wäre - dir geht es, soweit ich es richtig verstanden habe, ja vornehmlich um eine auf Geschlechtsrollen zurechtgestutzte Wahrnehmungseinengung, in der du dich unfrei fühlst. Aber warum?, liebe Mar?

Ich verstehe das insofern nicht ganz, als dass es ja nie möglich ist, egal, was man tut, wie man ist oder nach außen auftreten zu müssen glaubt, die Wahrnehmung eines anderen Menschen zu beeinflussen - es sei denn, man hat ein höchst manipulatives Geschick im Umgang mit anderen Menschen. Wenn du dich traust, einfach du selbst zu sein: bist du frei. Und dann ziehst du automatisch auch die richtigen Menschen an. Jedenfalls für dich.

Dass das in beruflichen Zusammenhängen natürlich nur begrenzt funktioniert, weil man halt in der Regel gezwungen ist, diese, jene oder folgende Konzession zu machen, ist schon klar - aber würde man bereits von vornherein alle möglichen Reaktionen anderer auf die eigenen Aussagen oder gar einen selbst antizipieren und sich entsprechend verhalten, käme dabei etwas sehr Unechtes heraus. Am Ende verhält man sich dann, wie man glaubt, dass andere einen haben wollen oder wahrnehmen - und nicht nach der eigenen Natur.

Aber nachvollziehen, was du meinst, kann ich schon: und erlebt hab ich es auch, ganz plötzlich ganz anders behandelt zu werden, als ich mich fühlte - nur weil ich eine Frau bin. Zum Beispiel in der Zeit, als ich schwanger war und mich kurz zuvor selbständig gemacht hatte. Keine clevere Kombination (und im übrigen keineswegs zur Nachahmung empfohlen), aber da die Situation nun mal so war, wie sie war, hatte ich mir dann nach dem ersten Schock genau überlegt, wie man beides hinkriegen, miteinander vereinbaren und sowohl das Kind als auch die Auftraggeber zufriedenstellen könnte. Für mich persönlich war das Thema damit vorerst erledigt - Kinderkriegen ist ja keine Krankheit oder so. Und wenn man immer auf den richtigen Zeitpunkt wartet, kommt er sowieso nie. Also Augen zu und durch, dachte ich. Der Witz war: und meine damaligen Auftraggeber hatten es gewiß nur gut gemeint: dass ich plötzlich vorwiegend als Schwangere behandelt wurde und in Situationen, die ansonsten in völlig nüchterner Geschäftlichkeit verlaufen waren, sich eine geradezu pseudo-private Atmosphäre breitmachte. Stell dir vor, du sitzt mit lauter Krawattenträgern an einem Tisch, hast es einigermaßen eilig und willst eigentlich nur irgendwelche Sachfragen klären, und plötzlich richten sich alle (männlichen) Blicke auf deinen Bauch, die Biologie steht unfreiwillig im Mittelpunkt deiner Präsenz und joviale Fragen nach dem Stichtag, dem werten Befinden usw. beginnen den Zweck des Meetings zu überlagern. Fürsorglich-besorgten Äußerungen kannst du entnehmen: jeder scheint zu erwarten, dass du gleich einen "völlig natürlichen" hormonbedingten Schwächeanfall erleidest. Oder dass bereits beim Betreten des Büros ein muttergöttlicher Glorienschein um dein Haupt schwebt, weswegen die Leute eilends herbeispringen, um dir vorsorglich ein Kissen in den Rücken zu stopfen, bevor du Platz nimmst. Also, einerseits war es lustig - aber ich fand das auch ganz schön lästig!

Okay, okay, ich sollte mich weiß Gott nicht beschweren und lieber dankbar sein, dass die Menschen so nett waren. Einerseits, denn es sind ja auch ganz andere Szenarien denkbar. Aber wenn man sich selbst völlig gesund und normal vorkommt und dennoch behandelt wird wie eine Behinderte, bloß weil man schwanger ist, nervt es auf Dauer kolossal. Ja, liebe Mar, so war das - und trotzdem denke ich, dass ich in all meiner Unbedarftheit und Ungeduld damals noch gar nicht so weit war zu erkennen: was andere Menschen brauchen. Genau in diesem Moment brauchen, in dem sie einem vermeintlich einen Gefallen tun und z.B. auf die Biologie oder bestimmte Denk- und Verhaltensweisen glauben reduzieren zu müssen.
Das hat doch meist gar nichts (oder wenig) mit einem selbst zu tun, sondern häufiger mit emotionalen Bedürfnissen des Gegenübers, die ausgelebt und zugestanden sein sollen. Jedem! Und deshalb braucht man sich auch nicht so unbehaglich geschweige denn eingeengt fühlen, wenn die Gesprächsebenen vorübergehend nicht zusammenpassen. Wenn kein kurzer Draht entsteht.

Denn jeder Mensch benötigt, wie du auch selber schon sagst, seine eigene Zeit zur Reife. Die einen machen bestimmte Erfahrungen früher, die anderen später, wiederum noch andere haben den Zenit ihrer Entwicklung traurigerweise schon mit 20 überschritten und bleiben anscheinend einfach stehen. Wobei ich aber glaube, dass früher oder später jeder Mensch, auch die Dummen, Stumpfen, vom Leben zurecht- und rundgeschliffen werden wie die Kieselsteine. Und gerade diejenigen, die sich am meisten dagegen auflehnen, erwischt es oft besonders heftig. Weil der freie Wille eben doch nur eine Mär ist, und weil man viel weniger in der Hand hat, als man glaubt. Und scheinbar völlig unberührbaren und gepanzerten Menschen, die sich jeder Entwicklung verweigern, nach Jahren oder Jahrzehnten wieder zu begegnen und zu sehen, dass auch sie sich dem Leben nicht haben verschließen können, dass es auch sie geformt und seine Spuren in ihren Gesichtern hinterlassen hat, ist der beste Beweis dafür. Ich finde diese seltenen Begegnungen immer sehr anrührend. Irgendwie versöhnlich. Und manchmal ergibt sich sogar ein ungeahnt gutes Gespräch daraus, in dem sich langjährige Missverständnisse lösen und man vielleicht nicht in Freundschaft, aber doch zumindest im Frieden auseinandergeht.

Himmel, jetzt hab ich schon wieder soviel geschrieben. Verzeiht. Mir war nur danach...

anouk
 
M

mar

Guest
AW: lieber Zerd

hallo Anouk, es stört mich ganz und gar nicht, wenn Du , wie Du meintest, "vorbeigeschossen " hast- das bist Du ja im engen Sinne nicht... ich glaube, da ist aber etwas Klitzekleines auch bei Dir nicht richtig angekommen , möglicherweise durch eine unglückliche Formulierung, wenn ich im persönlichen Konsens spreche, ergibt sich das Missverständnis leider. : also, ich bin ein sehr freier Mensch- und gerade deshalb habe ich eben des öfteren das Erlebnis, daß - weil ich mich offen und frei zu Allem äußere - bei manchen anderen Menschen ( deren Reifezeit noch nicht gekommen ist ) teilweise lernen muß , zurücknehmen zu müssen ( ohne mich zu verleugnen oder zu verbiegen) , um diesem Menschen nicht das Gefühl zu vermitteln, man wolle " missionieren" mit dieser Freiheit, die möglicherweise die Moralvorstellungen oder auch den ans Alter gekoppelten Erfahrungswert Betreffender dermaßen überrollen, das man diesem Menschen KEINE Wahl mehr lassen würde- ich hoffe so ist es besser formuliert. Natürlich sind im Laufe der Jahre die Wahrnehmungen geschärft und durch eben der nach außen gezeigten persönlichen Einstellung
treffe ich Gedankengeschwister ...
Unsere Diskussionen hier im Forum lösen auch in meinem Freundeskreis reges Interesse aus- gerade gestern , als ich Deinen Beitrag hier ausgedruckt habe liegen lassen und ein langjähriger Freund der im Moment bei mir zu Gast ist, konnte nicht umhin, einige Passagen zu erhaschen, was die Folge hatte, das wir hier bis morgens 3 Uhr diskutiert haben über Anima und Animus und er sich ganz ausgegrenzt gefühlt hatte mit dieser Theorie der Antike ( was ja eigentlich sicher nicht so gemeint war, denkt man mal an die alten Griechen... ), bezüglich der Anima, da er schwul ist und sein erstrebtes Pendant eben ein Animus sein würde, so meinte er, aber dem entgegengesetzt ich denke, das LIEBE und EROS zwar sich bedingen und ergänzen , aber ich denken würde, das Liebe geschlechtsunspezifisch ist und Eros geschlechtsbezogen ( je wohin man neigt ), wo wir wieder beim Dualen sind. Das glückliche Zusammenspiel beider wäre der Idealfall, den wir alle im Inneren anstreben, eben eine Vereinigung im Seelischen und Körperlichen mit dem geliebten Partner. Das zu bewerkstelligen, brauchen manche Menschen ein ganzes Leben lang - und gar mancher wird bemerken müssen, das die Liebe eben FREI ist und genau deshalb auch das Pendant des geliebten Menschen nicht immer so frei, wie man wünscht ( folgedessen: Eifersucht, Besitzergreifung, Missverständnisse, Trennungen ) ...
Wohl gemerkt, es war gestern eine recht frühe / bzw. sehr späte Diskussion, die möglicherweise Fehlschlüsse nicht ausklammert. Auch jetzt ist noch ein bisschen Schlaf in einen Augen, so das ich mich erst einmal zu einem kleinen Schlummerstündchen hinlege und möglicherweise später mich dieser oder jener Sequenz Deines Beitrages widmen kann- mit wachem Geist ...morgendliche Grüße MAR
 
A

Anouk

Guest
AW: lieber Zerd

Liebe Mar,

dass deine Antwort so schnell kam - ! Ach, das freut mich, denn ich hatte schon befürchtet, dich / euch mit ungebremsten Wortschwällen erschlagen zu haben... Stattdessen habt Ihr euch die Neuköllner Nacht um die Ohren geschlagen und über Animus und Anima diskutiert – wie lustig! Das hat mich echt vom Hocker gehauen, denn irgendwie erwartet man nicht unbedingt, dass die ollen Griechen tatsächlich noch irgendjemanden hinterm Ofenrohr hervorlocken...

Du schläfst jetzt vielleicht noch. Und mir ist der Kaffee ausgegangen. Aber Tee tut’s bekanntlich auch, weswegen ich deinen zerknirschten Freund nun rasch mit Platon versöhnen will, bevor er sich weiter ausgegrenzt fühlt. Denn ich hab ja nur ein paar Passagen zitiert – und die für ihn eindeutig interessanteren bis jetzt unterschlagen (zumal man ja auch niemanden mit der furztrockenen O-Ton-Wiedergabe eines Reclam-Heftchens traktieren mag):

"Ewig sucht jeder sein Gegenstück": Das ist, wie gesagt, eine der Kernaussagen des Textes, die sich unmittelbar an die Erzählung von der Zerteilung des Menschen anschließt. Das war der gestrige Schlusspunkt. Und hätte ich nur ansatzweise geahnt, dass das deinen Freund so unzufrieden hinterlassen würde, hätte ich zumindest einen tröstlichen Cliffhanger eingebaut...
Denn hier geht es weiter im Text (und nun zusammenhängend, versprochen!):

"Alle Männer, welche ein Stück von dem gemischten Geschlecht sind, das damals mannweiblich hieß, lieben das Weib. Die Ehebrecher entstammen diesem Geschlecht, und die Frauen, die den Mann lieben und ehebrecherisch sind, entstammen auch diesem Geschlecht. Und alle Frauen, die Stücke eines Weibes sind, richten den Sinn nicht sehr auf die Männer, sondern halten sich mehr an die Frauen, und diesem Geschlecht entstammen die Buhlerinnen. Alle, die Stücke des männlichen sind, folgen dem Männlichen, und als Knaben lieben sie, weil sie ja Teile vom Männlichen sind, die Männer und sind froh, wenn sie bei ihnen liegen und sie umarmen. Und diese sind die besten unter den Knaben und Jünglingen, weil sie von Natur die mannhaftesten sind. Manche sagen, sie seien schamlos, aber das ist Lüge, denn sie tun nicht aus Schamlosigkeit so, sondern aus Mut und Mannheit und Männlichkeit: das ihnen Ähnliche haben sie gern. Das ist sicher bewiesen: Denn diese allein landen, wenn sie zu Männern gereift sind, im Staatsleben. Nachdem sie erwachsen sind, lieben sie Knaben, und auf Ehe und Kinderzeugung lenken sie nicht von Natur den Sinn, sondern sie werden durch das Gesetz genötigt. Sie selbst wären zufriedener, miteinander ehelos zu leben. Immerdar muß ein solcher Knaben und Freunde lieben, weil er immer das Verwandte gern hat. Wenn nun ein Knabenfreund oder jeder andere auf seine eigene Hälfte selbst trifft, dann werden sie wunderbar erschüttert von Freundschaft und Vertrautheit und Liebe und wollen voneinander nicht lassen, auch nicht einen Augenblick." [...]

Naaa - ? Darüber kann man nun auch wieder stundenlang philosophieren, genauer: könnte man. Aber jetzt gerade regnet’s ausnahmsweise mal nicht. Also schnell raus an die Luft zwecks externer Cappuccino-Aufnahme! Deinem Freund viele Grüße, und falls er sich nun doch mit Platon anfreunden kann, würde mich das freuen – den vollständigen Text gibt’s, wie gesagt, für 'n Appel und 'n Ei bei Reclam (Platon, "Das Gastmahl oder Von der Liebe").

anouk
 
A

Anouk

Guest
AW: lieber Zerd

Liebe Mar...

sieht so aus, als wärst du virtuell heiser geworden vor lauter Platon...
Aber man kann ja auch nicht immer in den schwerfüßigen Themen des Lebens herumstapfen; mir gelingt das nur begrenzt - sehr begrenzt, zumal der Sommer so schön ist und viel zu kurz, um die Zeit mit tiefschürfendem Zeugs zuzubringen. Aber beim Aufklaren des mit Papier übersäten Schreibtisches fand ich heute ein Notiz-, genauer: Tagebuch wieder, mit einem Text, den ich vor Jahren mal im Internet gefunden, ausgedruckt und vorn reingeklebt hatte, weil ich ihn so schön finde... und den möchte ich dir hier - Philosophie hin, Sommerabend her - nicht vorenthalten, weil er zumindest in meinen Augen viel Allgemeingültiges widerspiegelt. Einfache Weisheiten, denen auch ich in meinem Leben immer wieder begegne und an die sich zum passenden Zeitpunkt zu erinnern sehr viel wohltuender ist als, zum Beispiel, ein völlig unnützer Disput oder eine Kraftprobe zum falschen Zeitpunkt.

Denn ähnlich wie dir geht es mir auch; auch ich muss mich gelegentlich "bremsen" und innerlich ein bißchen an die Kandare nehmen. Aber Übung macht den Meister. Lange hab ich z.B. geglaubt, alles mit Kraft lösen zu müssen und hielt hochmütig für einen billigen Sieg, was nicht mit 200%igem Einsatz gewonnen war. Die - zugegeben widerwillige, aber doch sehr befreiende - Erkenntnis, dass es auch wesentlich filigraner und einfacher geht, betrachte ich persönlich als echten Gewinn. Der Druck, sich täglich neu beweisen und durchsetzen zu müssen, hat sich auf rätselhafte und ungeheuer beglückende Weise verflüchtigt. Streng objektiv gibt's ihn noch, ja. Aber für mein persönliches Erleben spielt das keine große Rolle mehr; es ist ja nur das Äußere...
Verstehst du, was ich meine? Oder drücke ich mich zu schwammig aus? Es geht, wie bei dir, um das kluge Sich-Zurücknehmen. Du hast dir ja z.B. vorgenommen, andere Menschen nicht mit deinem Denken und deinen aus Erfahrung gewachsenen Lebenseinstellungen zu "überfahren" - zumindest so habe ich dein letztes Posting verstanden (wobei ich mich allerdings, falls dich das beruhigt, von dir noch nie überfahren gefühlt habe). Schau, und mich fasziniert die Idee von einer zunehmenden, freiwilligen Reduktion aufs Wesentliche, damit das Eigentliche um so klarer hervortreten kann - auch wenn die Länge unseres Gedankenaustausches aus mancher Sicht vielleicht dagegen spricht...

Lass uns ein andermal darüber reden, wenn du magst! Hier erst einmal besagter Text, der mir immer wieder das Herz wärmt:

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Desiderata

Gehe ruhig und gelassen durch Lärm und Hast und sei des Friedens eingedenk, den die Stille bergen kann. Stehe, so weit ohne Selbstaufgabe möglich, in freundlicher Beziehung zu allen Menschen.

Äußere deine Wahrheit ruhig und klar und höre anderen ruhig zu, auch den Geistlosen und Unwissenden; auch sie haben ihre Geschichte. Meide laute und aggressive Menschen, sie sind eine Qual für den Geist.


Wenn du dich mit anderen vergleichst, könntest du bitter werden und dir nichtig vorkommen; denn immer wird es jemanden geben, größer oder geringer als du. Freue dich deiner eigenen Leistungen wie auch deiner Pläne. Bleibe weiter an deinem eigenen Weg interessiert, wie bescheiden auch immer. Er ist ein echter Besitz im wechselnden Glück der Zeiten.


In deinen geschäftlichen Angelegenheiten lasse Vorsicht walten; denn die Welt ist voller Betrug. Aber nichts soll dich blind machen gegen gleichermaßen vorhandene Rechtschaffenheit. Viele Menschen ringen um hohe Ideale; und überall ist das Leben voller Heldentum.


Sei du selbst, vor allen Dingen heuchle keine Zuneigung, noch sei zynisch, was die Liebe betrifft, denn auch im Augenblick aller Dürre und Enttäuschung ist sie doch immerwährend wie Gras. Ertrage freundlich gelassen den Ratschluss der Jahre, gib die Dinge der Jugend mit Grazie auf. Stärke die Kraft des Geistes, damit sie dich in plötzlich hereinbrechendem Unglück schütze. Aber erschöpfe dich nicht mit Phantasien. Viele Ängste kommen aus Ermüdung und Einsamkeit. Neben einer heilsamen Selbstdisziplin sei freundlich mit dir selbst. Du bist ein Kind Gottes genauso wie die Bäume und Sterne; du hast ein Recht, hier zu sein. Und, ob es dir bewusst ist oder nicht, es besteht kein Zweifel: das Universum entfaltet sich wie vorgesehen.


Darum lebe in Frieden mit Gott, was für eine Vorstellung du auch immer von ihm hast. Was auch immer deine Arbeit und dein Sehnen ist, erhalte dir den Frieden deiner Seele in der lärmenden Wirrnis des Lebens. Mit all der Schande, der Plackerei und den zerbrochenen Träumen ist es dennoch eine schöne Welt. Strebe behutsam danach, glücklich zu sein.


(Die meisten Quellenangaben verweisen auf einen Eintrag in einem Kirchenbuch der alten St.-Pauls-Kirche, Baltimore, von 1692. Anderen Angaben zufolge wurde der Text im 20. Jahrhundert von dem amerikanischen Autor und Juristen Max Ehrmann verfasst und nach dem Abdruck in Broschüren der St.-Pauls-Kirche bekannt.)


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So viel zur guten Nacht.


Schlaf schön


anouk


P.S. Ist Zerd uns eigentlich abhanden gekommen? Das fände ich sehr schade...
 
M

mar

Guest
AW: lieber Zerd

Liebe Anouk; nun ja – virtuell heiser bin ich nicht geworden, aber die Zeit auf Arbeit lässt mir kaum Spielraum, größere Texte zu schreiben ( so blieb es bei den Wortspielchen... ) und nun ist es tatsächlich Sommer geworden und das treibt mich auch auf eine grüne Wiese.... desto trotz möchte ich doch auf Dein posting antworten; ja, die Gedanken , die aus der Stille kommen, sind die , die zu denken geben- ich denke da ,wenn Du die Reduktion zum Wesentlichen ansprichst, sprichst Du mir aus der Seele. Die Zeiten der großen Unruhe scheinen vorüber zu sein und man will zum Wesentlichen zu kommen. Ich habe so an meinem Küchentisch eine recht plausible Erklärung gefunden, die die philosophische Runde gut umschreiben würde- das Süppchen welches gekocht wird , wurde bei hoher Hitze angebraten und nach und nach kommen die Zutaten hinzu und später dann die Gewürze, dann wird abgeschmeckt- und es fehlt trotzdem noch etwas...immer wieder wird etwas „nachgelegt“... so sind wir denke ich auch bei den substanziellen Dingen angelangt, die behutsame und gut dosierte Würze verträgt... Obwohl ich gedanklich eigentlich wie ein volles Wasserglas mit „ Berg“ bin und jede Bewegung meines Geistes würde einen Sturzbach zur Folge haben- aber mein kleines „ japanisches“ ICH rät mir , die Dinge erst einmal im Stillen zu betrachten und wirken zu lassen. Der Eintrag aus dem Kirchenbuch erinnert mich sofort eine ähnliche Offenbarung aus „ Der Lob des Schattens“ von Tanizaki und wie die alltäglichen Dinge im Leben uns zu einer lebendigen Beziehung des „ Göttlichen „ in Bezug bringen. Ich bin ja nicht christlich geprägt, sondern stamme aus einem Durcheinander eines nichtdeutschem Großelternhaus, was mir zuweilen hilfreich ist, da ich weder dieser oder jener religiösen Strömung zugeordnet bin, sondern mir eine eigene Verankerung von Moral und Ethik und eben auch der Wesentlichheit suchen mußte. Da der Orient, inbegriffen Japan, Indien oder auch der Vordere Orient mir innerlich auf irgendeiner Weise seelisch entgegenkam, vermute ich , das die Wurzeln meiner Gedanken irgendwie aus einer Wüste stammen müssen, und dort ist es sehr still.
Es ist für mich immer noch sehr erstaunlich, wie sich die Gespräche über die Philosophie im Großen und auch die der Persönlichen über Platon, Nietzsche, Cicero,Diogenes etc., hinstrecken – nun, ich denke das die Erfahrungswerte, so wie ich sie zu beleuchten vermag, aus dem gleichen Stoff gemacht worden sind- und deshalb , ohne das man sich zu erkennen geben muss, der andere weiß , weshalb die Ruhe nötig ist- eben deshalb um nicht mit ungebremster Kraft aufzuprallen, sondern das Ziel noch im Fahren anvisieren zu können...Die Erkenntnis, das gerade die einfachen Dinge diejenigen sind, die das Leben bestimmen werden, kommt so denke ich insbesondere an die Oberfläche, wenn man lernt , sich einfach mal „fallen“ zu lassen. Gleich warum man fallen möchte, sei es in ein weiches Kissen oder in ein Rosenbeet mit Stacheln – dieses so fallen lassen offenbart eben das schon erwähnte Substanzielle ... Und so glaube ich, falle ich jetzt auf eine warme grüne Wiese ,lasse die Seele baumeln um wieder zu dem Verlangen zu kommen, diese schwere und trotzdem süße Kost der philosophischen „Speisen“ mit dem größten Appetit weiter zu essen. Licht-und sonnendurchflutete Grüße sendet Dir Mar
 
A

Anouk

Guest
AW: lieber Zerd

Liebe Mar,

was für ein Tag! Es war so warm, dass mein kindliches Es (gar nicht japanisch) andauernd aufstampfte und nach Abkühlung verlangte: zum Strand! Ans Meer oder wenigstens ins nächste Freibad radeln! Eis essen, lesen, ausgiebig Füße und Seele baumeln lassen.
Nichts davon geschah. Auch die nächsten Tage werde ich abgesehen von kleinen Abstechern in die Außenwelt wie angenagelt am Schreibtisch verbringen und sehr erwachsen tun müssen. Soviel zum Stichwort Freiheit: letztlich ein sehr relativer Begriff. Darüber könnte man nun juxen oder – tragisch, bedeutungsschwer, sotto voce – Nikos Katzanzakis zitieren: "Ich hoffe nichts, ich fürchte nichts, ich bin frei." Aber das wird dem Satz nicht gerecht. Und sieh es mir bitte nach, wenn ich in relativer Freiheit, die zu manchen Zeiten auch eine absolute Unfreiheit beinhaltet, ein wenig herumstöhne, mit den Ketten rassele und mich überhaupt anhöre wie ein ganzer Gefangenenchor. Das legt sich wieder, versprochen, sobald die Nächte wieder kühler und die geistigen Galeerenarbeiten vollbracht sind.

Vor meinem inneren Auge sehe ich dich ungeachtet der Tageszeit auf einer Wiese, umschwirrt von Schmetterlingen. In Wahrheit hockst du vermutlich ganz prosaisch in der Küche, in irgendeinem Berliner Gartenlokal oder liegst schon im Bett. Unser Austausch, denke ich inzwischen, gleicht einem langen Fluss voller Krümmungen und Stromschnellen, der sich durch vielgestaltige Landschaften windet und mit immer mehr Treibholz anreichert: Treibholz nicht im wegwerfenden, sondern - im Gegenteil - wertschätzenden Sinne und übertragen auf Ideen, Bilder und Erinnerungen. Hier und da möchte man die Hand ins Wasser tauchen und etwas herausfischen, was den Strom der Erzählungen fortzusetzen geeignet scheint –

Du schreibst von Japan, Deinem „kleinen japanischen Ich“, das sich bescheiden zurückzieht und erst einmal beobachtet. Das versuche ich auch, oft, aber sag mir, liebe Mar: Kann man Leben und Beobachten einfach so trennen? Und wenn ja: Ist das abgesehen von situativen Verhedderungen, in denen man für sich selbst erst mal Klarheit gewinnen will oder muss, als Gesamthaltung wirklich erstrebenswert?

Früher hätte ich die Frage aus vielerlei Gründen mit Ja beantwortet. Inzwischen schon lange nicht mehr. Und auch das, meine ich, bedeutet Freiheit: langgehegte Überzeugungen über Bord werfen und, ohne zu wissen, wohin die Reise geht, sich aufmachen zu können zu etwas Neuem. Nicht in einem ahistorischen, verleugnenden Sinne, sondern im Bewusstsein, dass ein integraler Bestandteil der eigenen Biographie, Identität, des eigenen Selbst, sich mehr und mehr überlebt hat. Für das Morgen nicht unbedingt taugt, es sei denn als Ballast. Ein altes Prinzip: Panta rhei, alles fließt. Und ist es nicht viel einfacher, sich dem Wasser zu überlassen und darauf zu vertrauen, dass es trägt (denn Wasser trägt immer!), statt sich mit erlahmenden Kräften an die Wurzeln eines Baumes am Uferrand zu klammern? Man kann's sogar ausprobieren. Es gibt fast nichts Schöneres, als rücklings mit verschränkten Armen völlig bewegungslos auf dem Wasser zu liegen wie auf einem Bett, den Himmel zu beobachten und das Meer zu belauschen. - Okay, das klingt verrückt. Vielleicht ist es sogar verrückt, aber im Wesentlichen eine Frage der Atemtechnik.

Man kann gar nicht untergehen. Völlig unmöglich. Es sei denn, man will es; aber das ist was anderes.

Ja, Mar - auch das ist Freiheit, obwohl das jetzt gnadenlos subjektiv und kein bisschen philosophisch daherkam. Verzeih. Theoretisch geht es auch anders. Ein andermal...

Liebe Grüße

anouk
 
M

mar

Guest
AW: lieber Zerd

Guten Morgen, Anouk, ja Du scheinst ja mit einem seherischen Blick ausgestattet zu sein... durch mein Fenster gelugt um mich um diese Zeit, nachts 1 Uhr beim Schlummern zu erwischen! Ja , diese heißen Tage eigen sich , um bei Loretta am Wannsee zu sitzen oder am Großen See im Tiergarten, möglichst nahe am Wasser zu sein... Kühle zu erwischen. Und trotzdem war es auch nicht so- keine Schmetterlinge umschwirren mich und auch nicht der Geruch vom klaren Wasser eines Sees , sondern gedankenversunken meine Nase in einem Buch vergraben fröne ich dem Luxus des Faulseins.... wenigstens für heute. Aber das geistige Treibholz ist trotzdem gegenwärtig- und auch da scheinst Du durch meine Räume gewandert zu sein, denn an meinen Wänden hängen sehr viele am Strand gefundenen Treibholzstücke, die mich immer gemahnen, an das Kommen und Gehen zu erinnern, an das Ewige, das uns das Meer zu sein scheint, welches uns mit Wellengeplauder und Rauschen zu sagen scheint, was uns allem innewohnt- an solchen Tagen dahinzutreiben- ja , wie Du sagst - aufzubrechen ohne den Kopf zu belasten. Alles fließt- so wie da Vinci sagte in seinem Codex Atlanticus: "das Wasser des Flusses , welches du berührst ist das erste von dem , was kommt und das letzte von dem was geht..."
Ist es nicht merkwürdig, das man , wenn die Welt draußen fast zu kochen scheint der Hitze wegen, man sich kühlere Gedanken machen will? Trotzdem mache ich die Entdeckung, das es gerade diese Wärme ist, die den Körper fast ausschaltet und trotzdem ein überwacher Zustand des Geistes es nicht möglich macht- sinnbildlich gesprochen nur die Hand ins Wasser zu tauchen, nein man möchte untertauchen, hineintauchen , das blasse Grün des Wassers an den Augen vorbeiziehen sehen, sich dem Strudel widersetzen , aber auch in den Strudel hineinschwimmen. Diese Hitze eines Tages hat etwas von Zeitlosigkeit, von einer scheinbaren Trägheit und doch saugt man diese Wärme in sich hinein, als wolle man vorsorgen für ganz kalte Tage...das Treibholz , welches ich aufgesammelt , erinnert an stilles Geschehen auf Amrum, an Zeiten von atmosphärischer Neugier und karger Dünenwelt, angeschwemmtes Holz, dunkelbraune Balkon, beborstene Bretter, Baumwurzeln, alte Fässer, auseinandergebrochene Kisten, alles Reste einer zivilisierten Menschheit, die Vieles einfach ins Meer geworfen hat... von Salz und Wasser ausgeblichen sind diese Dinge von Erinnerungen jener Menschen durchbrochen- das Strandgut türmte sich und ich wollte möglichst viel davon aufsammeln, betrachten, betasten...Mit dem Treibgut, was ich mit nach Hause trage, nähere ich mich den Spuren der Menschen, setze ich mich auseinander, hinterfrage mich und meine fast kriminalistische Neugier, warum gerade das Treibgut so wichtig ist...ich glaube es ist einfach ein Mittler zwischen den Welten, so wie Worte, die frei und ungezwungen das Selbst verlassen und wie dieses Strandgut irgendwo aufgefunden und würdig befunden die " Wände" einer Wohnung zieren, oder eher erinnern...
So werde ich den heutigen Tag mit 32 Grad überstehen müssen und vielleicht auf den imaginären Wellen dahintreiben...
liebe Grüße vom morgendlichen Balkon... Mar


...Wenn das Meer den salzigen Atem anhält-
Schaumkronen im Haar –
verklungenes Rauschen der Kindheit in den Muscheln-
gebleichte Hölzer an die Ufer spült-
Dann ist die Zeit gekommen stehenzubleiben
dann sollst Du nicht den Zeit-Baum fällen
um Grenzen zu ziehen um freies Land.
denn Du wächst um das Leben herum
wie Jahresringe um jenen Baum...
Verharzte Risse und Rauheit der Borke...
fest verwachsen.
Kreise. Kreise.
 
A

Anouk

Guest
AW: lieber Zerd

Liebe Mar,

Deine poetische Ader nötigt mir immer wieder Bewunderung ab. Wie machst Du das? So viele gekonnte Pinselstriche, aus denen ein ganzes Universum entsteht – ...
Ich weiß, dass man mit Lyrik (und sowieso: Büchern!) kein oder nur wenig Geld verdient – aber hast Du’s jemals versucht? Du solltest es, meine ich, und wenn nicht in diesem, dann wenigstens im nächsten Leben.
Bei mir reicht’s bloß für Skizzen, einige aus irgendeiner Stimmung heraus hastig dahingeworfene Zeilen, die im nächsten Moment (und in der Regel zu Recht) wieder vergessen sind. Ich stopfe das Zeug in die Schublade und kümmere mich nicht weiter darum. Das Leben findet woanders statt. Eigentlich schade, aber so ist es nun mal.

Dabei ist Schreiben ganz einfach. Man muss nur die falschen Wörter weglassen, sagte Mark Twain. Ein kühner Satz! Folgt man ihm, ist Schreiben mit der Musik verwandt: Ein falscher Ton, und das Thema hat sich erledigt (es sei denn, man hat es mit Free Jazz zu tun).
Für mich persönlich ist Schreiben auch leider nur die zweitbeste Art der Kommunikation. Die beste ist Musik. Das war meine allererste Liebe und wird absehbar wohl auch meine letzte sein. Warum? Lassen wir das, es spielt keine Rolle. Wenn man so etwas präzise beantworten wollte, könnte man zugleich Ingeborg Bachmann dagegenhalten: "Wer seines Betts Geheimnis preisgibt,/ verwirkt sich alle Liebe."
Ein wunderbar altmodischer Satz, hier sinnbildlich gemeint, der ziemlich genau alles umreißt, was ich mit der Musik und allen wesentlichen Dingen des Lebens verbinde: Glück – und Mysterium. Und entschieden keinen Versuch, irgendwas zu erklären geschweige denn zu rechtfertigen (... es sei denn, man wird z.B. genötigt, auf abgehobener Meta-Ebene und mit abgespreiztem kleinen Finger, versteht sich, über Interpretationen zu diskutieren ... )

Und nein, liebe Mar, ich habe auch keine seherischen Fähigkeiten – obwohl Du nicht die Erste bist, die mir das andichtet. Aber Madame (moi) kocht definitiv nur mit Wasser, so enttäuschend es sein mag. Nachts um eins sagt einem die pure Logik, dass ein anderer Mensch sehr wahrscheinlich schon im Bett liegt oder, nennen wir es mal so, „Milieustudien“ betreibt... Und wer das Meer liebt, wie Du und ich, weiß auch Treibholz zu schätzen, das Geschichten von fremden Ländern und Menschen erzählt. Ganz einfach, oder nicht? Statistiker nennen so etwas übrigens „Einstellungsstrukturerwartung“. Woran sich erweist: jedes vermeintliche Geheimnis lässt sich ekelhaft rational aufdröseln. (Aber das weißt Du natürlich. Längst, nehme ich an!)

Aber was ich in Deiner Sprachfertigkeit finde, diese Fülle und bildhafte Opulenz, fasziniert mich umso mehr, als dass ich mich in den letzten Jahren - sehr bewusst! - eigentlich zu einer ganz anderen Form des Ausdrucks hingezogen fühlte: dem musikalischen Minimalimus eines Arvo Pärt, beispielsweise, oder den nahezu kunstlos anmutenden Dialogen von Jon Fosse, der in lakonischer, fast beiläufiger Sprache die großen Themen des Lebens abhandelt: - Liebe und Tod, Tod und Liebe. Weiter nichts. Das wirkt sehr banal, aber das Elektrisierende bei Fosse, finde ich, ist allein schon der sprachliche Rhythmus, dessen Aufbau vage an die streng-mathematische Architektonik von Bach-Präludien erinnert. In der Tat gibt es da viele, viele Parallelen, und irgendwo habe ich mal gelesen, dass Fosse tatsächlich Musik studiert hat oder doch zumindest Cello spielt. Oder so. Aber das weiter auszuführen, würde jetzt zu weit gehen, zumal es wieder mal spät geworden ist und ich Dich auch nicht mit höchstpersönlichen Obsessionen langweilen oder aufhalten mag.

Einstweilen herzliche Grüße nach Berlin -

anouk


P.S. Zur guten Nacht, und weil mir gerade danach ist, ein wenig Ingeborg Bachmann:

Lieder auf der Flucht XV

Die Liebe hat einen Triumph und der Tod hat einen,
die Zeit und die Zeit danach.
Wir haben keinen.

Nur Sinken um uns von Gestirnen. Abglanz und Schweigen.
Doch das Lied überm Staub danach
wird uns übersteigen.
 
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