lieber Zerd

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Zerd

Well-Known Member
AW: lieber Zerd

es ist hinlaenglich bekannt, dass der mensch in rastern denkt, in vereinfachungen und annaeherungen; wenn man so will, mit schubladen in seiner gedankenwelt. er kann gar nicht anders, wenn er die flut auf ihn hereinbrechender wahrnehmungen und informationen verarbeiten und fuer ihn brauchbar machen will. er legt sich also mit der zeit eine gewisse anzahl solcher schubladen an und wenn sie erst da sind, werden sie auch automatisch aufgefuellt.

wenn davon die rede ist, dass jeder mensch sich sein eigenes universum selbst erschafft, dann ist damit zu einem guten teil auch die bewusste auswahl dieser schubladen gemeint. wenn begriffen wie mann, frau, weiss, schwarz, rot, gelb, jung , alt usw. in bezug auf den menschen ihre schubladen bereitgestellt werden, dann koennen sie nicht nur ausgefuellt werden, sie werden ganz automatisch aufgefuellt. die vielfalt des lebens sowie die grenzenlose phantasie machen das moeglich und erzwingen es sogar.

wenn es sich aber so verhaelt, dann muss sich jeder einzelne fragen, mit welchen schubladen er arbeiten will und welche er ablehnt. er muss verantwortung uebernehmen fuer die welt, die er erschafft, trotz der schier unueberwindlichen flut von eindruecken, unter denen ihm natuerlich auch eine ganze anzahl vorgefertigter schubladen sogar mit inhalt angeboten werden. ich habe mich etwa dazu entschieden, soweit es moeglich ist, jedem menschen seine eigene individuelle schublade zu spendieren und darueber hinaus den menschen betreffend nur noch eine einzige allgemeine schublade zuzulassen, eben die fuer den begriff mensch, mit der ich mit aller vorsicht umzugehen habe. denn grundsaetzlich finde ich es besonders beim menschen sehr lohnenswert, seine diversitaet und individualitaet hervorzuheben als seine gemeinsamkeiten und aehnlichkeiten mit artgenossen. ausserdem scheint sich hinter jeder untergruppierung des menschen ein machtinstrument zu verbergen auf die eine oder andere art und weise.
 
M

mar

Guest
AW: lieber Zerd

Liebe Anouk,
nach den hitzebeladenen Tagen gibt es heute eine Möglichkeit mit einer nötigen Sorgfalt auf Dein posting zu antworten- und wie ich sehe, hat sich Zerd wieder zu uns gesellt mit einem kleinem Statement , aber jetzt erst einmal zum Schreiben im allgemeinen und dem Eindruck dessen , was Dich erreicht hat... Es sind , glaube ich gerade diese dahingeworfenen Skizzen , die Du erwähnst, die das Schreiben ausmachen, es sind genau die Stimmungen , die aus dem tiefsten Inneren in einem richtigen Moment an die Oberfläche treten und dann urplötzlich die Zusammenhänge des Erlebens und des Dir Offenbartem anbieten... Es ist gut, und diese Erfahrung habe ich gemacht, diese Skizzen aufzuheben und für seelische Brachzeiten als Erinnerung an Dich selbst aufzubewahren. Wenn Du schreibst, das Leben würde anderswo stattfinden , dann sollte das nur bedingt richtig sein , vielleicht hat gerade in dem Moment des Skizzierens das Leben stattgefunden- und vielleicht war es genau diese Intensität und Heftigkeit des Lebendigen, was erschrocken macht und dann steckt man deshalb diese so heftige Begegnung mit uns selbst in eine Schublade...
Das Schreiben an sich, um auf Deinen Vorschlag des Veröffentlichen einzugehen, ist für viele unserer Dichter und schreibenden Zeitgenossen meist ein karger Broterwerb, und ich denke da vielleicht etwas anarchistisch- er sollte es auch bleiben. Meine Theorie, das aus der Kargheit am Anfang des menschlichen Lebens mit den Jahren und im Laufe der Zeit des Menschen ganz individuelle Fülle offenbart wird ; diese Fülle kundzutun , aufzuschreiben und mitzuteilen ist wichtig, ja gar lebensnotwendig und gesellschaftlich-soziologisch unabdingbar- aber sich der Hoffnung hinzugeben, davon leben zu müssen, ist heutzutage nicht machbar- es sei denn man bedient Klischees und die Masse, was wiederum für mich im Widerspruch stünde , mein aus der Individualität geschöpftes Lebendige als Retusche anzubieten .
So blieb es bei drei Veröffentlichungen meinerseits und der Erkenntnis, das es für mich NICHT wichtig ist, Verse als Druckerzeugnis zu sehen, sondern ich dies gerne an diese oder jene Menschen weiterreiche, die mit ihrem Dasein und mit dem Miteinander für eine Vielzahl der Verse "die Krume" waren, auf denen etwas gedeihen konnte. Ich denke auch, das es gerade das ganz normale Leben ist, welches die Melodie von Gedichten oder Prosa ist und sein muss.
Der Vergleich mit Musik ist also folgerichtig; wenn man von den Melodien spricht... Musik ist eine Sprache in meinem Verständnis, eine sogar sehr intensive, die alles im Menschen erwecken kann- und mitunter weint man mit ihr. Ich habe diese Intensität durch die Musik von Mikalojus Ciurlionis erfahren und im Kontext mit seinen Bildern ( ja er ist auch Maler –und ein so wunderbarer! ) eine solche Tiefe empfunden, das ich nur noch schweigen konnte. Das Mysterium der Musik , auch in ihrer minimalistischsten Form eines Eric Satie ist Gänsehaut pur...Ich liebe es , der Musik zu lauschen- doch mein Instrument ist eben der Bleistift...ab und zu Tusche oder Farbe...
Einerseits schätze ich das Minimalistische auch in der Sprache eines Gedichtes , eines Haiku zum Beispiel, wo in wenigen Silben mitunter die ganze Welt um Dich herum erstehen kann. Es ist doch sehr interessant, wenn man gerade ein Haiku beleuchtet; wir übersetzen es einfach nur als " Silbengedicht" aber in der japanischen Schriftsprache wird Hai als das Wort "Schauspieler" übersetzt zu finden sein, und auch das ist nur eine grobe Übersetzung, denn Hai hat seinen Ursprung in zwei Silbenbegriffen: Mensch und dem Begriff des Streunens, des ziellosen, freien Umherziehens, oder bildhafter ausgedrückt, des vielleicht Heimatsuchenden, Nichtseßhaften im positiven Sinne. Siehst Du , und schon jetzt kann man erkennen, das uns das Wort " Silbengedicht" auf eine falsche Fährte lockt, uns irritiert und den Zugang zum Haiku erschwert. Haiku ist also der "suchende Vers" , der mit uns kokettiert wie ein Schauspieler auf der Bühne es tut, er spielt mit uns und spricht uns an. Denn das Haiku ist ein Gedankenfragment , ursprünglich als Einleitung für Waka-gedichte gedacht...
Das Haiku sucht also noch, ist unterwegs, ein Gedicht zu werden und bleibt dann in seinen Anfangssilben stehen. Und der Mensch, der in diese Sprache hineinlauschen kann, wird die Heimat für diesen suchenden Vers- und das ist das Anliegen des Haiku.
Wir werden dadurch selbst zu Dichtern, die mit Phantasie und Sensibilität den Vers weiterführen, wir beleben ihn und wir tun dies wortlos.
So möchte ich gern umgehen mit Fragmenten, mit Skizzen in den Schubladen; sie als Herausforderung zu einem Abenteuer , als Wahrnehmung zu verstehen , und als Bruchteil einer unendlichen Tiefe , als Reisebeschreibung , als schüchterne Begegnung, als einen Hauch von etwas Großem – und in der scheinbaren Belanglosigkeit einer dahinfliegenden Leichtigkeit erlangen diese Worte eine Räumlichkeit , werden zur Bühne unseres Lebens. Und das Interessante ist die Entdeckung, das der Raum zwischen den Worten erkennen lässt, wieviel Ausschmückung das Weglassen bedeuten kann- wenn sich Silben und Buchstaben auflösen, bis in uns nur noch die Stille bleibt und eben auch jene Spannung, die alles offen lässt.
So ist es auch in der Musik ... Orchesterwerke können mitunter wahre Gefühlsstürme in mir auslösen, aber das einzelne Instrument , insbesondere Cello , Geige oder auch die Ud kosten mich manchmal meine Nachtruhe, weil derart aufgewühlt etwas in mir passiert, was eine andere Sprache erfordert , als die mir angeeignete. Das kann mitunter auch nur ein Musikfragment sein, oder auch nur ein Stück- aber es öffnet sich dadurch eine Tür, in die ich hineinspazieren kann und da mache ich die wundersame Entdeckung der Wörter.
Jetzt bin ich doch etwas angeschweift und wollte doch noch Jon Fosse erwähnen, den ich eigentlich nur Dramatiker kannte, gerade in Berlin, ich glaube vor einem Jahr, und ich dort auch diese gleiche Stille und Dramatik wiederzuentdecken glaube, die unserer Suche nach dem Wahren behilflich sein muss, wenn auch in aufwühlender Form ( so habe ich es zumindest empfunden) . Ich müsste mich einmal seiner Lyrik widmen- ja, das ist eine sehr gute Entdeckung, danke Anouk, aber wahrscheinlich ist das ein fast unmögliches Unterfangen, weil eben Lyrik sich nicht verkauft und so möglicherweise kein Buch aufzutreiben ist...
Die Geheimnisse in Deiner Schublade , Deine Skizzen und Fragmente werden sich sicher als gute Brückenpfeiler erweisen für die Zusammenhänge und Erkenntnisse der inneren und äußeren Aufschlüsse und werden ganz sicher keine Momentaufnahmen bleiben, die vergessen werden . In diesem Sinne, Schubladen aufräumen!!! Vielleicht nicht heute aber demnächst...
Aus Berlin liebe Grüße .... mit einem Paukenschlag oder einem Saitenstrich... je nach Wetterlage... Mar
 
M

mar

Guest
AW: lieber Zerd

Lieber Zerd, nun nachdem Du Dir eine kleine Verschnaufpause gegönnt hast und möglicherweise zustimmend meiner Bemerkung , das philosophische Süppchen jetzt leise dahinköcheln muß , um das Substrat aus den bisherigen Gesprächen herauszuseihen... , hast Du uns wahrscheinlich die Schubladen der Gewürze öffnen wollen... da Du von den Schubladen sprachst....Mir ist aufgefallen, das wir drei, unabhängig voneinander mehr oder weniger das Wort SCHUBLADEN benutzt haben: Anouk mit ihren Versen, die in Schubladen verschwinden, die Antwort darauf oder die Empfehlung meinerseits , diese Schubladen aufzuräumen und jetzt Du , der das Wort sicher in einem anderen Kontext begriffen wissen will, aber der eben auch sich der kleinen verschiebbaren Verschachtelung bedient, um die imaginäre , aber auch durchaus erschlagenden Fülle von Informationen und Eindrücken wohlverstaut haben möchte.
Deine Abwesenheit in diesem Fluß der Gespräche in der letzten Zeit ließ mich vorerst einmal stutzen ob Deiner Antwort, aber ich glaube Du bist in Deinem kurzen Einwurf auf die Geschlechterrolle eingegangen, und so lasse ich das erst einmal tiefer darauf einzugehen, bis unsere kleine Runde wieder eine flüssige und bündige Unterhaltung weiterführen kann.
Aber trotzdem möchte ich noch einmal die Schubladen bemühen...Wie Du so treffend umschreibst, legt der Mensch sich seine Schubladen an ( und ich möchte hier erst einmal das Schubladendenken nicht einbinden) . Ich muß gestehen, das in den letzten Tagen vieler meiner Schubladen bedient wurden. Ich erinnere mich unwillkürlich an Salvador Dali`s Bild DISINTERGRATION ( Auflösung, Zerfall) . Das Bild ist interessant zu interpretieren, weil es im ersten Moment an viele Schubladen erinnert, die durch ihre verschiedenen perspektivischen Anordnungen den Eindruck erwecken, als wären es Strassenschluchten oder Häuser, die von unten betrachten ins Endlose zu gehen scheinen, und aus denen geisterhaft bizarr Etwas zu entfleuchen scheint... Ja , aber das war nur ein kurzer Einwurf , bezüglich einer Assoziation zu SCHUBLADEN. Es drängt mich auch den handwerklichen Aspekt zu beleuchten, der auch hier assoziierend zum Verständnis dessen beitragen soll, wie ich Schubladen verstehe...auch in dem Sinne des Umgehens mit denen in unseren menschlichen Erinnerungsapperaten. Aus (möglicherweise noch später zu besprechenden ) vielen Gründen liebt der Mensch Kisten, Schachteln, Schränke ,Boxen etc., um all das zu verstauen, was ihm im Wege liegt, was ihm vorerst einmal aus den Augen soll... Schubläden eignen sich hervorragend, denn sie sind blitzschnell aufgezogen...aber es gibt verschiedene Qualitäten von Schubladen- einfach verleimte, die bald auseinanderbrechen und dann die gut verzargten, die die ineinander verschlungen Bretter wie ein Reißverschluß zusammenhalten, für viele Jahre. Aber Schubladen können auch Trugschlüsse vorgaukeln... es sieht zwar gut und ordentlich aus, wenn alles gut verschlossen hinter und in den Schubladen versteckt ist, aber wer kennt es nicht , das Chaos, welches sich meist dahinter verbirgt? Da liegen Socken neben Hemden und Handtücher neben Hosen und schon zerdrückt und zerknautscht... Spätestens jetzt würde der ordnungsliebende Mensch sortieren müssen; aber er macht es nicht ( immer) , weil dies , und ich kann jetzt nur für mich sprechen, dieses individuelle Chaos seinen Charme hat ! Wir lassen alles so , wie es ist- oder dann, wenn eine Veränderung im Leben bevorsteht, wenn Gäste ins Haus schneien oder wenn die Lebensmaxime sich um 180 Grad ändert, erst dann sind wir bereit, größere Veränderungen zuzulassen und räumen auf! Ist es nicht so? Wir sind verhaftet in unseren Gewohnheiten und Bedürfnissen, selbst wenn man sich immer weiter entwickelt, diese grundlegenden Pfeiler des individuellen Verständnisses von Ordnung, ich meine unsere Schubladen , halten unser recht fragiles Gerüst von Schrankskelett zusammen... Ich verstehe meine Beobachtung so, das ich mich auf mein Geschick, wie ich meine Schubladen gezimmert, geleimt oder verzargt habe, verlassen kann. So kann es mitunter passieren, das ich auch Schubladen erneuern muß, aber ich werde genau diese Dinge dahineinlegen, die auch in der zerbrochenen Schublade lagen... nun vielleicht sortiere ich ein bisschen aus oder ich ordne die Dinge anders ein... So wird es auch sein, wenn man Menschen begegnet, die man gern in diese oder jene Schublade stecken will und man gewahr wird , das es dafür keine passende gibt...
Einordnen, das ist ein Wort, was ein bisschen nach Stereotypie klingt- und deshalb würde es nicht so ganz in diese Runde passen, die aus Individualisten besteht und sich nicht so einfach einorden lassen. Das ist das Gewürz, von dem ich eingangs sprach, welches Du nun möglicherweise mit Deinem Beitrag aus den Schubladen hervorholst , um der Suppe einen Geschmack zu geben, eben das Individuelle am Menschen hervorzuheben, weil Du dies zu schätzen weißt . Es ist spannend für mich zu erleben , wie sich Begriffe und Beiträge aus dem Forum , insbesondere aus diesen Gesprächen, auf mein Alltagsleben erstrecken und einbringen. Auch hier war plötzlich gerade heute der Begriff Schublade präsent: in den Berliner U-Bahnen wird gefiedelt und musiziert, gesungen und gebettelt, und das kann mitunter sehr lästig werden, wenn man müde ist und erschöpft. So auch heute... Balalaika und Geige- Augenrollen und Ohrenzuhalten ringsum- keiner mag mehr zuhören- unser Schubladendenken sagt uns : jetzt kommt " Katjuscha" oder " Kalinka" – aber nein; Astor Piazzolla – ein wunderbarer Tango und plötzlich haben alle Fahrgäste ihre Schubladen geöffnet und sich gegenseitig einen Blick in ihre kleine chaotische Welt erlaubt...Ein sich auflösendes Lächeln breitete sich aus und alle Ordnung war dahin...
So , lieber Zerd, ein wenig abgeschweift bin ich schon, aber ich denke ich habe mich trotzdem im Rahmen bewegt, der Dir die Möglichkeit gibt, wieder in diese kleinen Gespräche einzusteigen. L.G. Mar
 
A

Anouk

Guest
AW: lieber Zerd

Liebe Mar, lieber Zerd,

eigentlich keine Nacht zum Schreiben; ich komme aus dem Theater, noch ganz angefüllt mit Jon Fosse - was für ein verrückter, glücklicher Zufall! Tatsächlich wusste ich nicht, was auf dem Spielplan stand, aber eine Freundin rüttelte mich auf, und wir sahen: "Sommertag". Keine überragende Inszenierung, aber wie einer der Schauspieler -der sich dann übrigens auch als glühender Fosse-Fan outete- sehr treffend bemerkte: Noch nicht mal der Regisseur habe das Stück hinrichten können. Tja, so war das. - Und trotzdem hat es mich aufgewühlt, obwohl gar nichts geschieht: Eine Frau steht am Fenster und lässt, quälend minutiös und lakonisch, einen Tag vor vielen Jahren Revue passieren, an dem ihr Mann in einem kleinen Holzboot auf einen Fjord hinaus ruderte und nicht zurückkam. Das ist die ganze Geschichte. Und hinterher saßen wir noch lange beieinander und überlegten dies und das (natürlich auch noch jenes) - und jetzt bin ich ein wenig müde.

Aber auch im Verzug! Zerd, ich wollte Dir seit längerem ein Traktat zur Verteidigung der Schubladen schreiben, ausgerechnet!, obwohl mir Schubladen so suspekt sind, dass es partout nicht gelingt, eine possierliche und adrette Puppenstuben-Ordnung darin zu schaffen, die ein anderer auf Anhieb versteht. Fiele mir morgen ein Dachziegel auf den Kopf (was Gott, Allah und Jahwe in Personalunion bitte tunlichst verhüten mögen), gäb's ein Problem - das dann zwar nicht mehr meines wäre, aber doch das der Nachwelt, jener Ärmsten, die dann viel zu tun hätten, während ich die allgemeine Verwirrung womöglich von oben mild lächelnd betrachten und aus dem Off kommentieren würde. Oder auch nicht.

Aber weg vom läppischen Ernst des Lebens und hin zu allgemeinen Schubladen: Ich mag sie nicht, aber überlebensnotwendig sind sie doch. Irgendwas muss ja mit der ganzen Informations- und Reizüberflütung passieren, die Tag für Tag auf einen einprasselt - und das schnelle Wegsortieren bis hin zum automatischen Einschalten massiver Verdrängungsmechanismen gilt Forschern ja auch als Indiz von Gesundheit.
Aber manchmal geht das nicht: alles wegzuzappen.

Wie will man zum Beispiel, frage ich mich, die Vielschichtigkeit unterschiedlicher Ebenen - oder deren Ambivalenz - in einem xbeliebigen Handlungsablauf wahrnehmen, wenn man chronisch sortiert? Bewertet? Schnelle Urteile fällt? Sich nicht auf ein Geschehen einlässt und Bilder von der Welt konserviert, wie es einem die rasanten Schnitte irgendwelcher Kino- oder TV-Machwerke vorgaukeln? Shot - Gegenshot, Danke, das war's! Weiterzappen. Natürlich kann man das machen, sofern es einem liegt, aber spiegelt es das Leben?
Es gibt ja auch immer ein Davor und Danach, oft interessanter als der eigentliche Plot. Die Wirklichkeit, glaube ich, lässt sich nicht in Momentaufnahmen einfangen - es sei denn, die vielen Fragmente werden irgendwann durch eine Phantasie, Idee oder (großes Wort!) Vision lebendig und fügen sich zusammen. Dann kann man sie ruhig auch in Schubladen stopfen - vorausgesetzt, die klemmen nicht.
Aber ich muss jetzt ins Bett, um 6 geht der Wecker, und in der Ferne kündigt sich ein Gewitter an....
"Wohin wir uns wenden im Gewitter der Rosen
ist die Nacht von Dornen erhellt, und der Donner
des Laubs, das so leise war in den Büschen,
folgt uns jetzt auf dem Fuß."
(Ingeborg Bachmann)

Müde und ein wenig leergeschrieben, aber froh, unseren Austausch endlich fortgesetzt zu haben -

anouk
 
M

mar

Guest
AW: lieber Zerd

Liebe Anouk / lieber Zerd...noch einmal habe ich einiges versucht diese oder jenes hervorzuholen- um den Sommer einzuläuten...


Schubladen.... ja , ich werde nochmals diesen Begriff bemühen- jetzt, wenn ich gerade die Koffer packe und dies oder jenes doch wieder in die Schubladen zurückgestopft habe... brauch ich nicht, mag ich nicht, ist nicht wichtig....
Die Zeit, die ich eigentlich fürs Kofferpacken eingeplant habe ist schier zu wenig. Da sitze ich nun auf dem Fußboden, krame dies oder jenes aus den hintersten Regalecken ( puh diese Staubflocken...! ) , weil doch da etwas ist, was ich vermeintlich dort vermute...Ich finde es nicht- und die Zeit vergeht.
Bald werde ich unterwegs sein, und unser kleiner Trialog wird hoffentlich nicht zum Erliegen kommen. es ist gut , wenn etwas ruhen kann, wenn die Zeit zeigen wird , das wir dort wieder anknüpfen können, wo die Gedanken sich eingelebt und wohlgefühlt haben. Jetzt sind wir erst einmal unterwegs.
Wir sind immer unterwegs mit der Zeit. Wir leben immer für die Zeit. Wir nehmen uns die Zeit schon lange , bevor wie dürften sie zu nehmen. Zeitabschnitte, so nennen wir Situationen aus unserem Alltag, aus unserem Erleben, aus unseren eigenen Veränderungen, aus denen wir aus unserem normalen Leben hervorgehoben werden. Zeitabschnitte, so nennen wir gelebtes Leben und gescheiterte Beziehungen, aneinandergereiht- unser ganzes Leben. Ein Abschnitt der Zeit. Wir bewegen die Zeit, weil wir ihre "Abschnitte" mit uns herumtragen. Wir bewegen die Zeit, die unsichtbare, die uns mit ihrer lautlosen Würde manchmal erschlägt. Wir altern und die Zeit altert mit uns - und trotzdem bleibt die Zeit jung ; zur gleichen Zeit an anderen Orten. Alles wiederholt sich und alles scheint gleich zu bleiben. Wie verändern wir uns als Menschen? Oder verändern wir nur die Sichtweise; was verändert uns als Mensch und was lässt uns gleich bleiben ...? Sitzend vor dem hohen Gras einer Sommerwiese, und im Blick eingefangen die wilden Blumen und die Apfelbäume, die wohl aus weggeworfenen Apfelkerngehäusen hier auf der Wiese Wurzeln schlugen...
Alte Frauen, die für ihr Geschwätz die kräftigen Hände gebrauchen , wie Ruder in die Luft Gesten schreiben...
Alles ist wie immer . Alles ist wie seit Jahren und doch anders,
Wie oft habe ich versucht , grüne , satte Wiesen zu zeichnen. Es ist unmöglich, würde ich nicht ins Kitschige abgleiten wollen. Ich müßte ein Genie sein, um das zeichnen zu können.
Denn ich müßte die ZEIT zeichnen können. Müßte das Gefühl zeichnen können, welches ich habe wenn ich mich in dieses weiche grüne Bett hineinfallen lassen möchte; dieses innere Weinen vor Freude...Kein Bild , kein Foto könnte dies festhalten- meine Seufzer tief in meiner Seele.
Zeit.
Wie immer fasziniert sie mich in Augenblicken, wenn ich Ruhe finde, sie als besonders wahrzunehmen. Ich atme die Stille dieser Zeit. Hier. Wie gestern. Wie vor einem Jahr. Meine ständige Bewegung in der Zeit, so ist auch die ständige Bewegung in der Welt. Jede kleine oder große Reise hebt mich in tausende Welten hinein und aus meiner eigenen heraus...
Liebe Anouk. Lieber Zerd...Ich traf Euch hier. Ich sehe Euch in dieser imaginären Zeit. Ich las Eure Zeilen- Ihr seid also wirklich! Obwohl Ihr in einer anderen Welt lebt , gehört Ihr zu meinen Welten. Ihr gehört zu diesen Dimensionen, wo die Gedanken noch einen Wert haben.
Zeitabschnitte. Zeitdimensionen. Zeitgewinn.
Ich halte die Zeit an. Jetzt. Ich bewege mich nicht und fliege doch schon davon . Ich halte die Zeit an und nehme Euch gerne mit in diese Stille hinein. es ist wie ein Gleiten auf Schneekufen. Lautlos. Und auf weißen, weichen Grund gleitet man in die große , weite Welt hinein- nur das der Schnee hier die Wolken sind.
Wolken, die man aus dem Flugzeug sieht.
Manchmal dachte ich oft: der Sommer , der mir verloren ging, ist unverkennbar weiß geblieben, blasse Bilder verschwommene Rahmen, zitternde Glut . Und nun schieben sich die Zeitzwischenräume in den Vordergrund und ich erinnere mich wieder: Nein- alle Sommer waren grün, frisch und klar. Wiegende Tage und warme , schmeichelnde Nächte...
Liebe Anouk und lieber Zerd. Habt eine schöne Zeit , laßt Euch den Duft von Gras und den Geruch von Blüten in die Nase steigen. Laßt den Sommer so eindrucksvoll in Eure Seele sinken, damit wir im Herbst wieder mit unserem Trialog fortfahren können- möglicherweise flattert noch dieser oder jener Gast wie ein verirrter Falter in unser " Sprachhaus". das wäre schön.
Euch allen aber, Euch Lesern und neugierigen Forumgästen wünsche ich einen schönen Sommer, eine schöne Ferienzeit und den Daheimgebliebenen laue Sommernächte draußen vor der Stadt.
Mar.
 

Zerd

Well-Known Member
AW: lieber Zerd

schubladen scheinen durchaus wert zu sein, sich etwas naeher damit zu befassen. dass sie notwendig und unvermeidbar sind, darueber scheint konsens zu herrschen. mar spricht etwa vom wackeligen schrankgeruest, das durch die schubladen, aus denen es wohl weit gehend besteht, stabilisiert wird. anouk spricht von reizueberflutung und gesunden verdraengungsmechanismen. von verschliessen und verstecken, Gewohnheiten und Beduerfnissen ist ebenso die rede, wie von Automatisierung, Vereinfachung, ordnen und sortieren. anouk sind sie zudem suspekt und auch ich habe mich schon kritisch gegen bestimmte schubladen geaeussert und fuer einen vorsichtigen umgang mit ihnen plaediert.

da befindet sich schon eine ganze menge in unserer schublade "schublade" und die frage scheint mir berechtigt, ob wir diesen begriff, der sich ja offenbar nicht nur auf alle anderen schubladen bezieht, sondern auch auf sich selbst, ueberhaupt besser begreifen koennen, als das bislang der fall ist. nun, vielleicht mag es lohnend sein, sich gedanken darueber zu machen, wie sie entstehen, wie sie form annehmen, sich entwickeln, wie sie fuer den einzelnen an bedeutung gewinnen oder auch verlieren, wie sehr sie bewusst manipulierbar, steuerbar sind.

anouk sagt, alles koenne nicht weggezappt werden. ganz unabhaengig von der fragestellung, ob und wie das ueberhaupt erstrebenswert sein kann, wuerde ich die frage nach der praktischen moeglichkeit nicht so eindeutig verneinen wollen. schliesslich kennen wir alle die phaenomene der hypnose oder tiefer meditation, es gibt menschen, die gelernt haben, ganz bewusst jegliche gedanken und gefuehlsregung zu unterdruecken, fast jeder wird schon einmal die momente vollkommener entspannung erlebt haben, in denen er sich leicht wie eine feder vorkommt und das gefuehl hat, dass nichts ihm etwas anhaben kann. das alles verleitet mich zur ansicht, dass durch entsprechende zielsetzung und vorbereitung, vielleicht durch entsprechende schubladen, wohl alles wegzappbar werden kann.

ganz interessant finde ich, wie ihr beide in sehr verschiedenen zusammenhaengen die verbindung mit der zeit zum thema schubladen herstellt. anouk sieht offenbar das sortieren in schubladen als alternative zu einer rein chronischen sortierung der bilder, die den blick in tiefere zusammenhaenge verwehrt.mar bringt das bild der satten gruenen wiese ins spiel, die sich nicht zeichnen laesst, weil man dafuer die zeit zeichnen koennen muesste. meine zeit-schublade wird, wie schon mehrfach angesprochen, von diesem einen augenblick dominiert, den jeder durch sein leben traegt. die konkrete ausgestaltung dieser schnittstelle ist aber auch fuer mich das ergebnis meiner sich staendig im fluss befindenden schubladenkonstellation. es ist sozusagen ein werkzeug, das den leichteren zugang zu den schubladen ermoeglicht. denn wenn ich die zeit als eine unendliche anordnung von augenblicken betrachte, die sowohl voneinander als auch von mir unabhaengig sind, dann entziehe ich mich gedanklich auch der potentiellen moeglichkeit eines direkten zugriffs auf entstehung und entwicklung einzelner schubladen, die sich in einem womoeglich schon weit entfernten augenblick, auf den ich eben keinen zugriff mehr habe, ereignet haben. wenn sich aber das ganze geschehen auf diesen immer gleichen einen augenblick konzentriert, dann ist dieser augenblick eine entitaet, in der alles entstehen und vergehen zusammenfaellt und - zumindest gedanklich - uneingeschraenkter zugriff moeglich ist.
 
M

mar

Guest
AW: lieber Zerd

es ist ganz schwierig über Schubladen zu sprechen, wenn mann im Moment " aus dem Koffer " lebtl
 
M

mar

Guest
AW: lieber Zerd

liebe Anouk, lieber Zerd -weg von der Schublade ! Ich habe mitten im Sommer den Adventskalender geöffnet ( sinngemäss) und die kleinen papiernen Türchen haben immer ein Geheimnis dahinter versteckt. Ich finde es schön, das dies so ist. Werde jetzt die Schubladen für einige Wochen nicht mehr öffnen und hoffe, das sich dann dort ein freundlicher Hausgeist des Ordnens dergleichen annimmt !
Seit gestern bin ich wieder hier und der Wunsch, Ihr möget einen schönen Sommer haben , scheint sich erfüllt zu haben! Anouk ist jetzt Moderatorin und Zerd treibt sich plötzlich in ganz anderen treaths herum, als man von ihm gewohnt ist ( siehe da, da ist die Schublade wieder aufgesprungen... oh je ! ) .
es ist schön wieder in diesem oder jenen Teil gute alte " Gesichter" wiederzusehen und auch viele neue TT -Mitglieder. Der Sommer geht weiter- die Wärme sollte uns nicht ganz den Verstand hinwegverdunsten und möglicherweise könnte man wieder ein kleines Saatkorn in die "Erde" legen, damit im philosophischen Hinterstübchen die Köpfe rauchen, damit das Pflänzchen der Verständigung wachsen kann.
Während meiner Abwesenheit von der Zivilisation sind ja trotzdem diese oder jene Gedanken in meinem Kopf aufgeblitzt , den ersten stelle ich mal so hier her, als kleinen Beginn sozusagen:



Wie bei so vielen Gelegenheiten ist mir aufgefallen, das gerade die Menschen die in der Öffentlichkeit sind , also nach außen hin klar und transparent erscheinen , stets ein kleines (dunkles Geheimnis) in sich tragen. Vielleicht sind es gerade die künstlerischen Menschen , deren Produktivität gerade darauf basiert , das ihre Werke wie kleine Zufluchtsstätten sind. Sie versuchen ,die Öffentlichkeit von ihren Geheimnissen fernzuhalten... So dient vielleicht jedes Gedicht, jeder Roman und jedes Bild oder Lied dazu, die Mitmenschen „ auf eine falsche Fährte“ zu locken. Das dunkle und um jeden Preis gehütete Geheimnis wird damit ungewollt und subtil zum Fundament ihres Lebens. Auf dem Geheimnis ( oder besser auf dem Bedürfnis, das Geheimnis zu hüten ) wird ein ganzes Leben aufgebaut ; werden Romane erfunden und Werke kreiert, die uns als Mitmenschen so tief und so klar und vor allem so WAHR erscheinen, das wir sogar bereit sind , diese Ausdrucksmöglichkeit, wie z.B. das Schreiben als das wirkliche Wiedergeben tatsächlicher Begebenheiten akzeptieren , obwohl wir tief im Inneren wissen müssten, das die Fantasie und der Fabuliergeist die eigentlichen , persönlichen Begebenheiten erklärt und „übermalt“. Die Publizität dieser Personen ist so offensichtlich; jeder scheint den Menschen zu kennen, KENNEN- damit meinen einige auch nur das Wissen um diese Person, oder auch nur den Namen schon einmal gehört zu haben. So öffentlich, das normale bürgerliche Existenzen diese „Lebenskünstler“ als so transparent sehen, das der „dunkle“ Rahmen wirklich erst ganz zum Schluß wahrgenommen wird. So erklärt es sich ganz von selbst, warum Schriftstelle, Maler , Musiker etc. erst viele Jahre nach ihrem Ableben tatsächlich durch ihre Persönlichkeit als ganzer Mensch wahrgenommen werden, und nicht nur durch ihre künstlerischen Leistungen beurteilt werden. Sie werden durch das Aufarbeiten in Biographien nicht etwa ihrer Identität beraubt, sondern vielmehr ihres dunklen Geheimnisses.
Im alltäglichen Leben begegnen wir Menschen, denen wir auf den ersten Blick nicht ansehen können, das sie zu den Menschen gehören, die diese „künstlerische Existenz „ leben. Die künstlerische Existenz ist nicht immer nur so zu verstehen, das diese Menschen Künstler im weitesten Sinne sind, sondern auch „ künstliche“ Menschen ( so bezeichne ich z.B. auch Politiker etc) . Ich entdecke, wie sehr sich diese Menschen ihre Verstecke suchen, die kleinen Nischen und Ecken, in denen sie dieses dunkle Geheimnis ihres Lebens ausleben können. Denke man nur an Garcia Lorca oder Anais Nin , die verborgenen Geheimnisse ihres Lebens, oder an die von Dali, Cocteau...
Wie vertraut sind uns die Namen, wir würden ohne zu zögern sagen, das wir diese Menschen „kennen“ und wir wissen absolut NICHTS über sie. Erst das Öffnen der „Schatztruhe“ , ich meine auch die Beziehungen der Menschen untereinander und zueinander machen deutlich, wie groß und wie tief die Seelen und Persönlichkeiten dieser Menschen waren. Und ich würde behaupten, das es die „dunklen“ Geheimnisse waren und sind, die das Licht in dieses Leben getragen haben. Der Ambivalenz , der wir ausgesetzt sind , die Widersprüchlichkeiten zwischen diesem Leben und dem anderen Leben heben das WIRKLICHE LEBEN doch erst hervor.
Würden wir denn einen Menschen bemerken, der ganz und gar in seinem Schatten verschwindet, der also sein Licht nicht erstrahlen lässt.? Mit Sicherheit nicht auf den ersten Blick.
Aber wenn schon die kleinste Unregelmäßigkeit in seinem Leben, also ein Schatten auf den Schatten seines Lebens geworfen würde , dann würden wir vielleicht schon ahnen, das sich da ein Geheimnis auftut- denn – den ganz klaren, durchsichtigen ,transparenten und überaus makellosen Menschen gibt es nicht- dieser ist nur eine Illusion , eine illusionäre Erscheinung in der Welt der Kunst. Dieser Mensch ohne Geheimnis wäre nur eine Imagination aus unserem Geist, er wäre zu komplex und zu perfekt.
So erklärt es sich auch fast von selbst, das wir manchmal von dunklen und geheimnisvollen , ja sogar oft unnahbaren Menschen nahezu angezogen werden. Wir treiben auf das offene Feuer hinzu , oder betreten dunkle Gemäuer , wissend , das wir verbrennen werden oder uns dort anfangs fürchten - und wir tun es doch...
 

Zerd

Well-Known Member
AW: lieber Zerd

liebe mar, herzlich willkommen zurueck,auf viele weitere anregende gespraeche, wie wir sie in der vergangenheit schon gefuehrt haben. aber ich sehe, dass ich manche dinge wohl noch haeufig wiederholen muss, bevor sie sich selbst bei den alteingesessenen hier nachhaltig festsetzen koennen. dazu gehoert etwa auch, dass zerd die welt und das leben auf einen ganzheitliche weise von der warte des einzelnen menschen und seiner interaktion mit anderen menschen her zu begreifen und verstehen sucht. er kann es sich schon daher gar nicht erlauben, sich auf einen thread oder topic festlegen zu lassen. wenn ihr euch erinnert, habe ich ich immer schon dafuer plaediert, die gespraeche dort zu fuehren, wo sie hinfallen. das kann von mir aus in jedem forum oder thread passieren, je zufaelliger und spontaner, desto naeher am leben (das ist in meinen augen eine qualitaet). waehrend es in so einem philosophisches-forum wesentlicher einfacher ist, abgestempelt zu werden, und zwar als lebens- und wirklichkeitsfremd, gerade dem gegenteil der urspruenglichen zielsetzung. ich habe nun schon einige male in den letzten tagen und wochen diesen stempel schmerzlich auf meiner brust gespuert und bin ernsthaft am ueberlegen, ob ich nicht gerade aus diesem grund dieses teilforum aus meinen aktivitaeten ausklammern sollte. fraglos werden hier viele interessante punkte und perspektiven angesprochen, aber was spricht dagegen, auf diese etwa im forum small-talk zu antworten.

aber wie gesagt, ich ueberlege noch. und ueberlegungen habe ich auch zu den geheimnissen mancher leben angestellt, die mar in ihrem beitrag anfuehrt. ich habe mich gefragt, ob es sich hier wieder um zusammenhaenge und bereiche handelt, denen mar sich, wie schon einige male waehrend unserer unterhaltung festgestellt, mit ganz anderen begrifflichkeiten und aus einer anderen richtung heraus annaehert, als ich es ueblicherweise fuer mich tu.

ich wuerde im erwaehnten zusammenhang etwa nicht von geheimnissen reden oder ihnen eine praegende bedeutung beimessen wollen. es mag durchaus sein, dass in manchen faellen der antrieb schoepferischer taetigkeit mehr das verbergen von etwas als dessen enthuellung sein mag. und es mag auch durchaus sein, dass die suche nach solch einem geheimnis selbst in jedem enthuellungsvorgang von erfolg gekroent wird, so man sich denn ausreichend darum bemueht.

aber grundsaetzlich neige ich dazu, jedem werk seine eigene existenz und entwicklung zuzugestehen, unabhaengig sowohl von seinem schoepfungsakt als auch von allen moeglichen interpretationen, die sich aus folgenden wahrnehmungen durch andere ergeben moegen. dass also ein werk eines kuenstlers aus dem antrieb heraus entstand, einen gewissen bereich aus dem leben dieses kuenstlers zu verbergen, ist nur ein gesicht dieses werkes neben vielen anderen gleichwertigen gesichtern, die ebenso sehr auch enthuellungsvorgaenge mit diesem werk implizieren.

und genau dasselbe moechte ich auch ueber ein leben behaupten. das leben mag fuer denjenigen, der es lebt, eine ganz bestimmte bedeutung, einen bestimmten sinngehalt, ganz bestimmte geheimnisse oder wendepunkte haben, aber dies ist auch nur ein gesicht dieses lebens, zweifellos fuer den einen das allumfassende und praegende, aber grundsaetzlich auch nur eines von vielen anderen moeglichen.

und ich befuerchte, dass wir durch beschraenkung und konzentration unserer wahrnehmung auf allzu wenige gesichter sowohl unserem eigenen leben als auch der uebrigen welt ein gutes mass an farben und vielfalt entziehen. auch wenn mar ihren beitrag mit dem vorsatz "weg mit den schubladen" beginnt, scheinen wir zumindest vor dem hintergrund meiner deutung des angefuehrten gar nicht wirklich so weit von ihnen entfernt zu sein.
 
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